Kampf um Jerusalem
Von Sarah Wollenberg, Tel Aviv![6.jpg](/img/450/205489.jpg)
In Silwan, das nur wenige Gehminuten von der Altstadt Jerusalems mit der Klagemauer und der Aksa-Moschee entfernt liegt, steht Fakhri Abu Diab neben der Ruine seines Hauses. Am 14. Februar 2024 rückte die israelische paramilitärische Polizei an, Augenzeugen zufolge etwa 380 Mann stark, begleitet von einem Bulldozer und bewaffnet, und zerstörte 90 Prozent des Gebäudes, in dem seine Familie seit Generationen lebte. Dies ist kein Zufall, sondern Teil eines Plans der Stadtverwaltung.
Silwan befindet sich in Ostjerusalem, das seit dem Krieg von 1967 israelisch besetzt ist. Von den rund 600.000 Einwohnern sind 360.000 Palästinenser. Die restlichen Bewohner Ostjerusalems sind Siedler, wie jüdische Israelis genannt werden, die bewusst und unter Verstoß gegen das Völkerrecht sowie eine Reihe von UN-Sicherheitsratsresolutionen in die von Israel besetzten Gebiete Ostjerusalem und Westjordanland ziehen. Ihre Zahl nimmt stetig zu.
Der Kampf um Jerusalem liegt im Zentrum des israelisch-palästinensischen Konflikts. Beide Seiten beanspruchen die Stadt als ihre rechtmäßige Hauptstadt. Um jede Möglichkeit einer künftigen Teilung zu verhindern, verfolgt die Stadtverwaltung eine aggressive Siedlungspolitik – eine Strategie, die sich seit den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober 2023 noch intensiviert hat. Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete, dass die Stadtverwaltung bereits zwei Tage nach den Anschlägen den Bau neuer jüdischer Siedlungen in Ostjerusalem genehmigte: Givat Shaked in Beit Safafa, Kidmat Tzion in Ras Al-Amud, ein noch unbenanntes Projekt in Umm Lisun und Nofei Rachel in Umm Tuba.
Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation Ir Amim (Stadt der Nationen) ist dies Teil einer neuen Phase der Siedlungsexpansion. Während in der Vergangenheit größere Siedlungen hauptsächlich auf den unbebauten Hügeln um palästinensische Viertel herum entstanden, sollen nun gezielt neue Siedlungen inmitten palästinensischer Nachbarschaften errichtet werden.
Die systematische Diskriminierung spiegelt sich in den Zahlen wider: Obwohl Palästinenser 37 Prozent der Stadtbevölkerung Jerusalems ausmachen, sind nur 8,5 Prozent des Stadtgebiets für ihre Wohnbebauung vorgesehen. Von den rund 60.000 Baugenehmigungen, die zwischen 1991 und 2018 erteilt wurden, entfielen nur 16,5 Prozent auf palästinensische Viertel. 2019 wurden Pläne für rund 21.000 Wohneinheiten in israelischen Vierteln genehmigt, aber nur 2.600 in palästinensischen Gebieten. 2020 sank dieser Anteil weiter auf neun Prozent – 1.142 von insgesamt 12.672 genehmigten Wohneinheiten. Die Abrissverfügungen werden regelmäßig mit dem Fehlen einer baurechtlichen Genehmigung begründet. Dabei wird außer acht gelassen, dass es für Palästinenser nahezu unmöglich ist, eine solche Genehmigung zu erhalten. Dies führt zu einem Teufelskreis, der dazu zwingt, Gebäude illegal zu errichten.
Das Haus der Abu Diabs befindet sich seit Generationen im Familienbesitz. Sich sein Zuhause nicht widerstandslos wegnehmen zu lassen, ist kennzeichnend für die Geschichte und Widerstandsfähigkeit der in Ostjerusalem lebenden Palästinenser. Zwar ist Fakhri Abu Diab der Eigentümer des Grund und Bodens, auf dem sein Haus stand, jedoch ist er auch Palästinenser. Unabhängig davon, ob Palästinenser in Ostjerusalem die israelische Staatsangehörigkeit besitzen (weniger als zehn Prozent), fallen sie schonungslos diskriminierenden Maßnahmen zum Opfer – ein Charakteristikum der Besetzung, das sich oft dem Blick der Weltöffentlichkeit entzieht.
Die rechtliche Grundlage für die heutigen Vertreibungen wurde bereits 1977 mit einer Planungsdirektive geschaffen. Dieser Flächennutzungsplan legte Baurichtlinien für die Altstadt und die sie im Süden und Osten umgebenden Nachbarschaften fest. Während der Plan vorgeblich dem Erhalt der historischen Bausubstanz dienen sollte, ignorierte er weitgehend die Bedürfnisse der Bewohner. Unter anderem wurde das überwiegend bebaute, Al-Bustan genannte Gebiet im Stadtteil Silwan als öffentliche Grünfläche ausgewiesen, auf der Wohnbebauung untersagt ist – eine Regelung, die es den Anwohnern seither unmöglich macht, legal auf ihrem Privatgrund zu bauen.
Die Zerstörung von Abu Diabs Haus ist Teil des sogenannten King’s-Garden-Plans der Stadtverwaltung. In Al-Bustan soll ein biblischer Themenpark entstehen, für den 116 palästinensische Häuser mit 1.550 Bewohnern weichen sollen. Vorangetrieben wird das Projekt vom stellvertretenden Bürgermeister Aryeh King, einem Anhänger des verstorbenen ultranationalistischen Rabbis Meir Kahane.
Kahane, ein in den USA geborener orthodoxer Rabbiner und israelischer Politiker des religiös-zionistischen Spektrums, gründete 1971 Israels erste extremistische, von manchen als »quasifaschistisch« bezeichnete Partei, Kach. Zwar erhielt sie bei den Wahlen 1984 einen Sitz im israelischen Parlament, jedoch wurde sie schon vier Jahre später aufgrund ihrer Ausrichtung verboten. Kern der Ideologie Kahanes war der Hass auf Araber und deren Vertreibung aus »Großisrael« – also Israel und Westjordanland plus Gaza –, die er als notwendig für den jüdischen Staat erachtete. Zudem rief Kahane seine Anhänger zu Gewalttaten gegen Palästinenser auf.
Was zu Lebzeiten Kahanes noch als extremistische Randbewegung geächtet worden war, auch wenn ihre ideologischen Wurzeln weit zurückreichen, fand nach seinem Tod 1990 Anklang in der breiteren Bevölkerung. Die Gewaltbereitschaft seiner Anhänger zeigte sich besonders drastisch, als Baruch Goldstein, ein jüdisch-israelischer Ultrarechter und Mitglied von Kach, 1994 in der Abraham-Moschee in Hebron, deren Patriarchengräber zahlreiche Pilger anziehen, 29 Palästinenser tötete und weitere 125 verletzte. Wie salonfähig diese Ideologie mittlerweile geworden ist, zeigt sich an Itamar Ben-Gvir, Israels kürzlich aus Protest gegen die Waffenruhe und den Geiseldeal zurückgetretenem Minister für nationale Sicherheit: Noch 2020 zierte ein Porträt des Massenmörders Goldstein sein Wohnzimmer.
Um dem wachsenden Druck zu begegnen, hat sich die Gemeinschaft der circa 60.000 in Silwan lebenden Palästinenser zusammengeschlossen und Fakhri zu ihrem Vorsitzenden und Sprecher gewählt. Nach eigenen Angaben ist Abu Diab aufgrund seines Aktivismus zur Erhaltung seiner Gemeinschaft zur Zielscheibe geworden. Die israelische Polizei hat ihm mündlich mitgeteilt, er werde nicht in Ruhe gelassen, sollte er weiterhin mit Vertretern von Medien und Politik sprechen. Dass er aufgrund seines Aktivismus ein Dorn im Auge der Stadtverwaltung ist, hält Abu Diab nicht auf. Durch unermüdlichen Einsatz erlangte er mediale Aufmerksamkeit und internationale Unterstützung im Kampf gegen die Vertreibungen. Selbst der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter war schon zu Gast in seinem Haus – als es noch stand. Mit Hilfe von Freunden und Familie baute er einen kleinen Teil seines zerstörten Hauses wieder auf, um weiter darin leben zu können. Ende 2024 wurde es erneut zerstört.
Die Folgen der Hauszerstörungen sind weitreichend: Ostjerusalemer, deren Häuser niedergerissen werden oder die vertrieben werden, können sich die hohen Mieten in anderen Teilen Jerusalems meist nicht leisten. Sie sind gezwungen, in Vierteln Ostjerusalems unterzukommen, die auf der »falschen« Seite der Mauer liegen – also auf der Seite des Westjordanlandes, obwohl diese Gebiete offiziell zur Stadt Jerusalem gehören. Viele finden sich in Nachbarschaften wie Kufr Akab oder dem Flüchtlingslager Schuafat wieder, wo die Lebensbedingungen deutlich schlechter sind und grundlegende Infrastruktur fehlt. Während die Welt gebannt auf den Krieg in Gaza blickt, vollzieht sich in Ostjerusalem eine stille Vertreibung. Die Geschichte von Fakhri Abu Diab und seiner Familie steht beispielhaft für Hunderte andere: Stein um Stein, Haus um Haus wird die palästinensische Präsenz in Jerusalem ausgelöscht.
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