Die Frage der Architektur
Von Ronald Kohl
»Ich hatte nur das Nichts« erzählt von der Entstehung des neunstündigen Dokumentarfilms »Shoah«, der die Ermordung der europäischen Juden in den Vernichtungslagern Auschwitz, Chelmno, Sobibor und Treblinka beschrieb. Claude Lanzmann hatte 1973 mit der Arbeit daran begonnen und beendete sie 1985. Dieses anfängliche »Nichts«, das wie alle kommentierenden Worte in »Je n’avais que le néant« Lanzmanns Aussagen und Memoiren entstammt, war von ihm allumfassend gemeint; er hatte kein Material gehabt und auch keine Idee. Was er wusste, war nur, dass er von allen verfügbaren Aufnahmen, egal von wem gemacht und in welchem Archiv verwahrt, auf gar keinen Fall Gebrauch machen wollte. Doch nur zu wissen, was man nicht will, ist wenig bei der Erschaffung eines derartig monumentalen Werkes. Es dauerte dann auch eine Weile, bis die »schwarze Sonne« der Schoah, so Lanzmann, für ihn zu scheinen begann, und aus dem Nichts schließlich ein gigantischer Berg wurde.
Regisseur Guillaume Ribot standen für sein Projekt 220 Stunden Rohmaterial zur Verfügung, Aufnahmen, die Lanzmann in den zwölf Jahren Dreharbeit gemacht hatte, die jedoch aus den verschiedensten Gründen von ihm nicht verwendet wurden.
Bei der Weltpremiere von »Je n’avais que le néant« als Berlinale Special am Montag im Haus der Berliner Festspiele wurde Ribot gefragt, ob es innerhalb dieser 220 Stunden Bilder gab, die er, Ribot, aus »bestimmten Gründen« nicht für tauglich gehalten habe. Er antwortete sofort und entschieden: »Nein!« Und auch Lanzmann, so Ribot weiter, wäre es nie in den Sinn gekommen, etwas aus Gründen der Rücksichtnahme nicht zu zeigen. Einziges Kriterium wäre immer nur die Tauglichkeit für die »Architektur« des Films gewesen.
Wer »Shoah« kennt und sich nun »Je n’avais que le néant« ansieht, wird verstehen, warum so viele für sich genommen äußerst aussagekräftige Aufnahmen bei Lanzmann außen vor blieben. Es gibt allerdings auch Bilder in Ribots Film, die offenkundig perfekt in die Architektur gepasst hätten und dennoch nicht in »Shoah« gezeigt wurden. Das ist oft dann der Fall, wenn Lanzmann aus seiner Rolle als hartnäckiger, aber doch distanzierter Regisseur ausbricht und entgegen seiner sehr effektiven Art, kurz nachzuhaken, plötzlich längere Dialoge oder gar Streitgespräche führt. Hier stellt sich die Frage, ob diese Ausbrüche vielleicht doch mit Kalkül erfolgten oder ob er schlichtweg ein wenig die Beherrschung verlor – zum Beispiel, wenn ihm der Pope von Chelmno offenkundig die Hucke voll zu lügen versucht.
Manche der trotz »architektonischer« Eignung nicht gezeigten Aufnahmen waren auch ganz einfach zu komisch oder hätten zumindest als erheiternd empfunden werden können. So sehen wir in »Je n’avais que le néant« den von Lanzmann mit verdeckter Kamera gefilmten früheren SS-Unterscharführer Franz Suchomel, der im Gespräch mit Lanzmann berichtet, dass er während seiner Zeit in Treblinka jeden Abend zu Gott gebetet habe. »Zu Gott?« (Diese Art, maximal kurze Zwischenfragen zu stellen, ist sehr typisch für Lanzmann, um nicht zu sagen: seine Spezialität.) »Ja, zu Gott.« – »Wofür haben Sie denn da gebetet?« – »Für die Vergebung meiner Sünden.« Im weiteren Verlauf der heimlichen Aufzeichnung klagt Suchomel plötzlich über Übelkeit und Herzstechen. Als Begründung führt er zunächst die Aufregung infolge der aufwühlenden Erinnerungen an. Dann muss er jedoch zugeben, dass die Probleme mit der Pumpe wohl eher dem etwas zu reichhaltigen Mittagessen zuzuschreiben sind; Lanzmann hatte im besten Hotel der Stadt dazu eingeladen, es gab Lachs.
Doch wurde diese Begebenheit von Ribot bestimmt nicht zur Auflockerung eingefügt. Sie gehört viel mehr zu der Erklärung des Entstehungsprozesses von »Shoah«. Anders als Lanzmann geht Ribot in seinem Film chronologisch vor. Er zeigt, auf welchen Wegen und auch Umwegen es Lanzmann gelang, dem Mord als eigentlichem Gegenstand seiner Erzählung beständig näherzukommen. Dass uns neben diesem Prozess ein so intensiver und gleichzeitig ausführlicher Einblick in Lanzmanns handwerkliches und kreatives Schaffen ermöglicht wird, der oft auch allein aufgrund von Lanzmanns Stil unterhaltsam ist, erscheint zunächst wie ein riesiger glücklicher Zufall. Doch in diesem Punkt zeigte sich Dominique Lanzmann, die Witwe des Regisseurs, bei der Premiere skeptisch. Sie meinte, beim Anblick der Aufnahmen mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass Lanzmann schon damals davon ausging, dass irgendwann jemand einen Film über seinen Film machen würde. Eine Beobachtung, der man nur zustimmen kann. Und Lanzmann wäre nicht Lanzmann gewesen, wenn er nicht dafür gesorgt hätte, dass einzig und allein sein Material in die Architektur dieses Projektes passt.
»Je n’avais que le néant – ›Shoah‹ par Lanzmann«, Regie: Guillaume Ribot, Frankreich 2025, 94 Min., Berlinale Special, 19.2., 22.2.
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