Könige der Welt
Von Rudolf Michel
Wenn der Berliner Kultur die öffentlichen Gelder wegbrechen, kann man bald nur noch krisenfesten Scheiß bewundern. Um das schon einmal auszuprobieren, verlief ich mich ins Kino Babylon in der Rosa-Luxemburg-Straße, um mir die ostdeutsche Kapelle Karat zu Gemüte zu führen, die ihr neues Album »Hohe Himmel« vorstellte. Während der längeren Ansagen von Claudius Dreilich, der 2005 die Stelle als Karat-Sänger antrat, recherchierte ich und erfuhr von der neuen Besetzung, die seit 2023 besteht. Zuvor gab es jahrelangen Streit um die Namensrechte an der Band mit der Ehefrau des ursprünglichen, leider verstorbenen Sängers und Vaters von Claudius, Herbert Dreilich. Als der Streit halbwegs zu den Gerichtsakten gelegt wurde, ging es ans Mobben, Rausschmeißen, Wiedereinstellen bis hin zur Kündigungserklärung. Der langjährige Bassist Christian Liebig wurde nach seinem Spruch »Die Band agiert wie eine Sekte« aus dem musikalischen Verkehr gezogen, so wie auch Schlagzeuger Micha Schwandt, der zumindest zum Teil freiwillig das schlingernde Schiff Karat verließ.
Auf der Bühne des Babylon war von der Urbesetzung niemand mehr dabei, und trotzdem feierten alle, laut Anschlag am Schirmdach, 50 Jahre Karat. Dienstältestes Mitglied ist der Erfurter Bernd Römer, ihm folgen der Keyboarder Martin Becker, den Christian Liebig 1992 in die Band holte, dann Sänger Claudius Dreilich (2005) sowie schließlich Daniel Bätge am Bass und Heiko Jung am Schlagzeug, die seit 2023 der alten Musik neue Impulse geben. Nur einen Tag vor dem Konzert wurde das neue Werk auf Vinyl (plus CD) veröffentlicht. Alle »Hohe Himmel«-Lieder wurden von Dreilich jr., der stolz ein Wohlstandsbäuchlein vor sich her schiebt, auf der Record Release Party mit ganzer Stimme vorgetragen. Es war eine Art Warmspielen und Ausprobieren vor geladenen Gästen und einigen Hardcorefans, die bereits die Melodien summten und trällerten. Dann gibt es noch das unsägliche »Über sieben Brücken musst du gehen«, das Friedenslied »Der blaue Planet« und »Jede Stunde«, bei dem Keyboarder Martin Becker so in seine Mundharmonika bläst und spuckt, dass es eine Freude ist. Nach vielen Ansagen, Danksagungen ans Team, an Wegbegleiter und an die absoluten Fans und Freunde kommt mit »König der Welt« der letzte Song. Schnell leert sich dann der schmucke Saal, da auf dem Rang geladene Oststars, Wein in Hülle und Fülle, Bier und Schnittchen.
Hier trifft man auf mittlerweile alt gewordene Künstler, die hoffen, dass der MDR ihnen das Mikrophon ins Gesicht hält und sie nach Befindlichkeiten, eigenen Projekten und ihrem Verhältnis zu Karat befragt. Ich nehme öfters Google zu Hilfe, damit ich den Schlagermoderator Jürgen Karney, Dirk Michaelis, der immer noch mit seinem einzigen Hit »Als ich fortging« hausieren geht, den Uralt-Ex-Puhdy »Quaster«, die in einer Ecke unbeachtete Ireen Sheer oder Kim Fisher erkenne. Jeder hat natürlich ein neues Projekt in Aussicht oder ist in Eile wie Kati Witt. Kurz nach 23 Uhr wurde abgeräumt, das Bier versteckt und wurden die älteren Herrschaften nach draußen gebeten.
»Karat 50«-Tour durch 57 deutsche Städte, u. a.: 28.2. Osnabrück, 22.3. Döbeln, 5.4. Bernau, 12.4. Suhl, 9.5. Böhlen und 19.12. Berlin
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