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Aus: Ausgabe vom 22.03.2025, Seite 3 / Ausland
Krieg in Syrien

»Die Frauen werden nicht zulassen, dass man sie von der Gestaltung der Zukunft fernhält«

Syrien: Abkommen zwischen Rojava und Damaskus und Massaker an Alawiten. Ein Gespräch mit Xerîb Hiso
Von Mako Qoçgirî
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Demonstration gegen die Massaker von Regierungstruppen an Alawiten (Kamischli, 16.3.2025)

Am 10. März wurde in Damaskus eine Vereinbarung zwischen den Syrischen Demokratischen Kräften, SDF, der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und der aus der islamistischen Haiat Tahrir Al-Scham, HTS, hervorgegangenen Regierung in Damaskus abgeschlossen. Was beinhaltet dieses Abkommen?

Der erste Punkt in dieser Vereinbarung ist, dass alle Gesellschaftsgruppen Syriens an der Regierung beteiligt werden müssen. Das soll den Weg für eine langfristige Lösung ebnen, deshalb haben sich Menschen aus allen Teilen Syriens über diesen Beschluss gefreut. Auch die Nachbarländer und die UN haben diese Vereinbarung begrüßt. Ziel ist, dass diese Vereinbarung den Weg für ein neues und demokratisches Syrien frei macht, wo alle Menschen in Frieden und in Freiheit leben können.

Das Abkommen fällt in eine Zeit, in der die Bedrohung der drusischen Bevölkerung akut erscheint und weltweit über Massaker an Alawiten durch dschihadistische Milizen aus dem Umfeld der Regierung berichtet wird. Wurde dieses Massaker in den Verhandlungen thematisiert? Stellt das Abkommen in dieser Situation nicht einen Legitimitätsgewinn für die Regierung dar?

Während der Diskussion über die Vereinbarung haben wir ausführlich über das Massaker gegen Minderheiten gesprochen, unsere Haltung dagegen gezeigt und betont, dass es unerlässlich ist, dass die Täter für ihre Verbrechen verurteilt werden müssen. Die Menschen in Syrien haben viele Massaker überlebt: Kinder, Frauen, ältere Menschen und Männer wurden auf der Straße erschossen und erniedrigt. Die sogenannte Weltgemeinschaft hat nichts unternommen. Es ist einmalig in diesem 21. Jahrhundert, dass Täter ein Massaker mit Bild- und Videoaufnahmen dokumentieren und ihr Verbrechen verbreiten. Die Täter behaupten, dass sie gegen die Überreste des Assad-Regimes vorgehen.

Wer ist verantwortlich?

Die Übergangsregierung muss verhindern, dass solche Massaker ausgeübt werden. Das ist die Verantwortung ihres Chefs Ahmed Al-Scharaa. Woher haben die Täter ihre Waffen bekommen? Wer hat sie angestiftet? Vor allem haben türkeinahe Söldnertruppen dieses Massaker ausgeübt. Von der Türkei sind sie Richtung Küstenregion einmarschiert und haben gemordet. Die bewaffnete Gruppen, wie Hamza Brigade, Sultan Murat Brigade und Sulaimanschah Brigade, die das Blutbad angerichtet haben, werden von der Türkei finanziert und bewaffnet.

Was ist die Rolle der Türkei bei diesem Massaker?

Die Türkei besetzt Teile Syriens und hat einen sehr großen Einfluss auf die Übergangsregierung. Die AKP-Regierung in Ankara sieht Syrien als eine türkische Provinz. Mehrmals die Woche besuchen türkische hochrangige militärische und geheimdienstliche Delegationen Damaskus und sie verhalten sich so, als wäre es Izmir oder Ankara.

Die türkische Besatzung in Syrien ist ein Verbrechen, ihre Söldnertruppen greifen den Tischrin-Damm, die Qere-Qazaq-Brücke über den Euphrat, Kobani und andere Gebiete der Selbstverwaltung an. Die türkischen Angriffe und die Politik der AKP-Regierung destabilisieren und blockieren eine Lösung in Syrien. Das stellt eine Gefahr für Kurden, Armenier, Alawiten, Drusen, Jesiden und Christen dar. Bevor das Abkommen unterschrieben wurde, haben sich beide Seiten über diese Gefahren und Sorgen ausgetauscht. Es wurde vereinbart, dass ein Komitee ausgerufen werden muss, dass diese Verbrechen untersucht und verhindert, dass es noch mal geschieht.

In der Vereinbarung ist die Unterstützung des syrischen Staates im Kampf gegen die »Überreste des Assad-Regimes« vorgesehen. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage und die Bedrohung durch diese Kräfte?

Es soll auch ein Komitee gegründet werden, um die Überreste der Assad-Regierung zu bekämpfen. Ein gemeinsamer Kampf gegen die Überreste des Baath-Regimes ist sehr wichtig. Es muss uns allen bewusst sein, dass das Baath-Regime nicht nur aus Alawiten bestand, sondern auch aus sunnitischen Arabern, Christen, Armeniern und Kurden. Nicht alle ehemaligen Anhänger stellen eine Gefahr dar, sondern nur eine Gruppe innerhalb der ehemaligen Baath-Regimes. Das berechtigt niemanden, ein Massaker gegen Zivilisten auszuüben, auch nicht gegen bewaffnete Baath-Mitglieder.

Ein weiterer Artikel fordert einen landesweiten Waffenstillstand, doch die Angriffe des türkischen Staates und seiner Söldnertruppe namens Syrische Nationalarmee, SNA, auf Nordsyrien bzw. Rojava halten an. Umfasst das Waffenstillstandsabkommen auch die SNA?

Einer der wichtigsten Punkte in dieser Vereinbarung ist, dass ein Waffenstillstand in ganz Syrien, nicht nur in Rojava, ausgerufen werden muss. Die Konfliktparteien, die weiterhin angreifen, zeigen uns, dass sie gegen eine friedliche Lösung sind. Am 10. März wurde diese Vereinbarung unterschrieben und bis jetzt gibt es keinen Waffenstillstand. Die Türkei möchte weitere Gebiete besetzen, die noch nicht unter ihrer Kontrolle sind. Selbst ihre Söldnertruppen haben eigentlich genug von dem Krieg, sie sind keine Soldaten, sondern Diebe. Nach der Besetzung von Manbidsch haben wir gesehen, wie sie Häuser plündern.

Während die SDF Geschlechtergleichstellung und Frauenbefreiung betonen, verfolgt die HTS eine patriarchale und salafistische Ideologie. Was passiert mit den kämpfenden Frauen, wenn die kurdischen Verteidigungseinheiten in die syrische Armee integriert werden?

Diese Vereinbarung ermöglicht es Frauen eine Vorreiterrolle in der Gestaltung der Zukunft Syriens zu spielen, denn das Komitee für die Umsetzung der Vereinbarung wird unsererseits auch aus Frauen bestehen. Eine Ablehnung dessen würde bedeuten, dass die Übergangsregierung es mit der Vereinbarung nicht ernst meint. Tausende Frauen haben in diesen Kampf ihr Leben für ihre Rechte und ihre Gleichberechtigung geopfert. Sie werden es nicht zulassen, dass man sie von der Politik und der Gestaltung der Zukunft Syriens fern hält.

Die SDF stehen für Frauenrechte, Demokratie und Menschenrechte für alle, aber die HTS bekennt sich zu einer islamistischen Ideologie. Trotz dieser Verschiedenheit wurde eine Vereinbarung getroffen, um Konflikte zu vermeiden und einen gerechten Frieden für Syrien zu ermöglichen. Viele Gesellschaftsgruppen in Syrien haben Angst vor der jetzigen Übergangsregierung. Verschiedene ausländische bewaffnete Gruppen handeln in ihrem Namen, sie sind alle islamistisch. Sie kommen nicht aus Syrien und kennen nicht die syrische Kultur. Das einzige, was sie kennen, ist der Dschihadismus.

Ein Artikel befasst sich mit der Integration ziviler und militärischer Institutionen in Nord- und Ostsyrien in die syrische Staatsverwaltung. Dazu gehören wichtige Einrichtungen wie Grenzübergänge, Flughäfen sowie Öl- und Gasfelder. Welche möglichen Auswirkungen hat diese Integration auf die SDF, und wie viel von ihrer Kommandostruktur wird in diesem Zusammenhang voraussichtlich erhalten bleiben?

Es werden verschiedene Komitees gegründet, um zivile Infrastruktur in den Staat zu integrieren. Für die Umsetzung dieses Punkts haben wir bis Ende des Jahres Zeit.

Wie werden HTS und SNA mit den in Nordsyrien von den SDF gefangen gehaltenen Mitgliedern des »Islamischen Staates«, IS, umgehen?

Das zukünftige Komitee wird die Sicherheit der Gefängnisse, in denen IS-Gefangene sitzen organisieren. Aktuell sind die SDF für die Sicherheit der Gefängnisse zuständig, daher wird das zukünftige Komitee zunächst mit ihnen im Austausch bleiben.

Der in der Türkei inhaftierte Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, Abdullah Öcalan hat einen Brief an Rojava geschrieben. Es gibt Gerüchte, er habe die SDF und die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ zur Entwaffnung aufgefordert. Haben Sie den Brief gelesen?

Ja, es gab einen Brief vom Vorsitzenden Apo. Aber es gab keinen Aufruf für die Niederlegung der Waffen. Das sind nur Gerüchte und Ausreden der türkischen Regierung. Sie sagen, wenn die PKK die Waffen niederlegen soll, soll auch die SDF die Waffen niederlegen. Doch die Situation der Türkei muss separat von derjenigen in Syrien betrachtet werden. Öcalan hat über verschiedenen Lösungswege geschrieben und alle Gesellschaftsgruppen Syriens begrüßt.

Wie bewerten Sie die Verfassung der Übergangsregierung?

Die vor kurzem erlassene Verfassung verschärft die Konflikte und Probleme in Syrien. Aus diesem Grund haben viele Millionen Menschen sie abgelehnt und dagegen protestiert. Wenn diese Verfassung nicht zurückgenommen und neu geschrieben wird, wird sich der Konflikt drastisch vertiefen.

Es ist möglich, dass die Übergangsregierung gefährliche Absichten hat: Wir alle haben gesehen, was sie alawitischen Menschen angetan haben. Mit ihren Taten haben sie der ganzen Welt ihr wahres Gesicht gezeigt. Syrien steht kurz vor einem neuen, brutalen Bürgerkrieg. Die Übergangsregierung in Damaskus muss das einsehen und demokratische Schritte unternehmen und die Rechte alle Menschen in Syrien respektieren.

Im Abkommens heißt es: »Alle vertriebenen Syrer können unter dem Schutz des syrischen Staates in ihre Städte und Dörfer zurückkehren.« Dabei kommen türkisch besetzte Regionen wie Afrin, Girê Spî und Serêkaniyê in den Sinn. Wie kann die humanitäre Krise bewältigt werden, insbesondere angesichts Tausender Vertriebener und der zerstörten Infrastruktur?

Es ist für uns sehr wichtig, dass die vertriebene Menschen zurückkehren können. Viele arabischstämmige Binnengeflüchtete in Syrien sind nach Hause zurückgekehrt. Das Regime ist gestürzt, aber der Konflikt ist noch nicht gelöst. Wir sind mit der internationalen Koalition, mit Frankreich, den UN und der Übergangsregierung in Damaskus im Austausch über die Rückkehr der Vertriebenen. Eine Rückkehr braucht gute Vorbereitung. Die Menschen sollen in Sicherheit leben können. Doch wenn die Türkei die Rückkehr nicht akzeptiert, werden ihre Söldnergruppen sich dagegen stellen.

Welche konkreten Schritte werden Sie bis Ende des Jahres unternehmen und was erwarten Sie von der HTS? Wie wird der Prozess einer neuen Verfassung ablaufen?

Es soll ein Komitee gegründet werden, das sich um die Umsetzung der Vereinbarung bis zum Ende des Jahres kümmert. Einige Punkte können auch vor der Gründung eines Komitees umgesetzt werden, so die Beteiligung aller Gruppen in Syrien und die Ausrufung eines Waffenstillstands. Auch die Rückkehr der Vertriebenen kann vor dessen Gründung umgesetzt werden. Die Umsetzung der genannten Punkte wird uns zeigen, ob es die Konfliktparteien mit der gerechten Lösung ernst meinen. Denn wir wissen nicht, ob auch die Übergangsregierung in Damaskus dafür bereit ist. Momentan sehen wir, dass sie eine islamistische Verfassung erlässt. Diese Verfassung löst Sorgen und Befürchtung bei uns aus.

Xerîb Hiso ist Kovorsitzender der in der Selbstverwaltungsregion von Nord- und Ostsyrien politisch führenden kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD)

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