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Aus: Ausgabe vom 22.03.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

Jerusalem in Aufruhr

Brief aus Jerusalem: Neue israelische Siedlung in palästinensischem Viertel Scheich Dscharrah genehmigt
Von Helga Baumgarten
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Trotz Protesten: Die Verdrängung der Palästinenser in Scheich Dscharrah schreitet fort (Jerusalem, 16.2.2025)

Laut dem Reiseführer Baedeker (1876, Neuauflage in Israel 1973) ist die archäologische Stätte »Nabi Samuel« auf der Route Jaffa–Jerusalem im besetzten Westjordanland der eindrucksvollste Stopp vor der Ankunft in Jerusalem. Das dortige Grab des Propheten Samuel ist für Juden und Muslime eine heilige Stätte. Die Sicht ist atemberaubend schön: In der Ferne glänzt das Dach des Felsendoms in der Sonne. Pilger konnten von dort auf dem Weg nach Jerusalem das erste Mal auf den Turm der Augusta-Victoria-Kirche blicken. Etwas weiter westlich ist die Himmelfahrtskapelle in Al-Tur zu bewundern.

1994 nahm ich einen guten Kollegen aus Deutschland mit, um sowohl die Moschee – der Kollege war Islamwissenschaftler – als auch den Ausblick zu bewundern. Unser Aufenthalt dauerte nur kurze Zeit. Die Ankunft eines Trupps extremistischer israelischer Siedler, angeführt vom berüchtigten Siedlerführer Mosche Levinger aus Hebron – er hatte die Siedlung mitten in der Stadt dort 1968 mit viel Betrug etabliert – trieb uns in die Flucht.

Jerusalem heute, März 2025: brutale illegale Verhaftungen, nicht zuletzt von Buchhändlern, Expansion von Siedlungen Tag für Tag, Beschluss zur Errichtung einer neuen Siedlung mitten im palästinensischen Viertel Scheich Dscharrah. Der vorbestrafte rassistische Minister Itamar Ben-Gvir ist wieder zurück in der Regierung von Benjamin Netanjahu. Seine Bedingung dafür: Wiederaufnahme des Krieges in Gaza. Der Völkermord hat in der Nacht von Montag auf Dienstag wieder begonnen. Ein klar als UN-Gebäude gekennzeichnetes Haus, über das die israelische Armee informiert war, wurde bombardiert: ein Toter, fünf Verletzte. Die palästinensischen Opfer allein am Dienstag: über 400 getötete Menschen, darunter mehr als 170 Kinder. Und die Bombardierungen gehen ununterbrochen weiter.

Mahmud Muna vom »Educational Bookstore« darf seinen Buchladen wieder öffnen und dort Bücher verkaufen. Ich statte ihm einen Solidaritätsbesuch ab und bin schockiert, was ich von ihm über die zwei Tage, die er im israelischen Gefängnis Moskobija in Westjerusalem festgehalten wurde, höre. Die Zelle war mit zehn Gefangenen überfüllt. Waschmöglichkeiten gab es keine. Toilette ohne Toilettenpapier. Decken ein Luxus und auch dieser total verlaust. Als der Gefängniswärter Mahmud zum Gerichtstermin brachte, wurden ihm Handschellen angelegt, er musste die Hände hinter dem gesenkten Kopf halten, hatte eine Augenbinde auf, und der Wärter zog ihn an einer Kette. An jeder Ecke im Gebäude prallte Mahmud erst einmal gegen die Wand: Danach hatte er überall blaue Flecken. Als er dem Wärter sagte, die Handschellen seien zu eng, zog dieser sie noch enger. Wir hatten angenommen, derartige Zustände seien typisch für die Gefängnisse Ofer oder gar Sde Teiman, aber nicht für Jerusalem.

Am Montag schickte mir Ran Yaron von Physicians for Human Rights (PHRI) und Ir Amim die Information über den Plan der Jerusalemer Stadtverwaltung, eine neue Siedlung inklusive einer ultraorthodoxen Toraschule (Jeschiwa) mitten im palästinensischen Stadtviertel Scheich Dscharrah – und auf palästinensischem Privatbesitz – zu bauen. Auch das ist ein Novum. Bis dato hat die Stadt keine aktive Rolle in der Planung von Siedlungen gespielt.

Auch der jüdische Westteil Jerusalems ist in Aufruhr. Die Demonstrationen richten sich gegen die Wiederaufnahme des Krieges in Gaza, die Gefährdung der dortigen israelischen Gefangenen und gegen Netanjahus Entscheidung, den Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet zu entlassen – an die Menschen in Gaza denkt jedoch keiner! Demonstranten werden brutal von Ben-Gvirs Polizei zusammengeschlagen. Im Vergleich zu Ostjerusalem oder der Westbank ist die Gewalt jedoch harmlos.

Am vergangenen Mittwoch besuchte ich »Nabi Samuel« erneut. Ich stieg die endlosen steinernen Treppenstufen hoch auf den Turm der Moschee und hatte Jerusalem vor mir liegen: Die Kuppel des Felsendoms glänzte in der Sonne, doch die grausame Realität von Völkermord, ethnischen Säuberungen und Folter konnte die Schönheit nicht überdecken.

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