Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 22.03.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Im Maul des Tigers

Von Katharina Bendixen
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Seit es Sommer ist, hat die Stadt sich zur Seite geneigt, so als wäre sie im Maul eines Tigers, der sich noch nicht entschieden hat, ob er diesen ganzen Murks – diese Menschen, ihre Häuser und Gärten, ihre Autos und Ängste – wirklich schlucken soll. Die meisten scheinen das zu spüren, und wer die Möglichkeit hat, wappnet sich. Manche lassen sich Geweihe wachsen, andere schleifen sich die Zähne scharf, wieder andere buchen eine Reise in den Süden. Es gibt auch jene, die plötzlich Sport treiben, als könnten sie sich durch pure Muskelkraft aus einem Raubtiermagen befreien. Ich habe für all das keine Zeit. Ich bringe nach wie vor das Kind in den Kindergarten, lenke im Büro bei der Verhandlung über die Staffelrabatte ein, lasse mir von der Mutter vorwerfen, dass sie im Pflegeheim nur dieses enge Zweibettzimmer hat, und dann gebe ich dem Maultier die Sporen, damit mein Kind nicht wieder das letzte im Spätdienstzimmer ist. Aber so geht es nicht weiter, mein Maultier wird mit jedem Tag müder. Nur mit der größten Mühe schleppt es sich zum Lindenauer Markt, wo ich mich heute früh endlich beraten lassen will: Wo finde ich meinen Seelengefährten, wovon soll ich den Kickboxkurs bezahlen, und gibt es irgendeine Behörde, die dem Kind und mir eine klitzekleine Reise finanziert?

Ich soll alles mitbringen, was mich bedrückt, hat Frau Hoffmann am Telefon gesagt, und mein Rucksack wird mit jeder Minute schwerer. Ich kann ihn kaum noch tragen, als ich in diesem Torbogen stehe und auf das Klingelschild starre. Wieso finde ich die Beratungsstelle nicht? Ich blicke zum Maultier, das ich im Schatten eines leerstehenden Hauses angebunden habe. Missbilligend wirft es den Kopf zur Seite, und endlich, ganz oben rechts, entdecke ich die richtige Klingel.

»Ja, bitte?«

Die Stimme aus der Wechselsprechanlage klingt freundlich.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie klingt so freundlich, dass mir die Tränen kommen.

»Ist da jemand?«

»Ich habe einen Termin«, flüstere ich durch meine Tränen, »bei Frau Hoffmann, um zehn Uhr dreißig.«

Der Fahrstuhl fährt mich vorbei an Kanzleien und einem Steuerbüro, das mir neulich eine Mutter aus dem Kindergarten empfohlen hat und das ich im Gegensatz zu ihr gar nicht brauche. Niemand erwartet mich an der Tür, also mache ich mich auf die Suche nach dem Wartebereich. Darin sitzt eine Frau ohne Frisur, in der Spieleecke hocken sechs Kinder. Ich setze meinen Rucksack ab und lehne mich mit steifen Schultern gegen die Wand. So gut es geht, blende ich die Stimme der Frau aus. Sie will ihre Kinder unbedingt davon überzeugen, vor dem Termin noch einmal zur Toilette zu gehen.

»Wieso müsst ihr denn nicht? Ich muss«, sagt die Frau und wendet sich an mich: »Könnten Sie vielleicht kurz –«

Ich bin selbst zu oft in solchen Situationen gewesen, als dass ich jetzt den Kopf schütteln könnte.

»Ihr spielt schön, meine lieben sieben, stimmt’s?«, sagt die Frau, ehe sie verschwindet.

Erst jetzt entdecke ich das siebte Kind. Es hockt hinter einem Aufsteller, der für die Flucht per Hausboot wirbt. Ich drücke mich an dem Aufsteller vorbei und öffne das Fenster, weil es plötzlich stinkt. Irgendeines der sieben Kinder hätte doch auf die Toilette gehen sollen. Auf dem Lindenauer Markt sengt eine Frau in Orange mit einem riesigen Bunsenbrenner jegliches Grün weg, das sich zwischen den Pflastersteinen hervorgewagt hat. Mit einer ähnlichen Akribie habe ich am Morgen die Fäden von den Mandarinenstückchen gezupft, mit denen ich die Vesperdose des Kindes gefüllt habe. Wahrscheinlich sitzt das Kind jetzt auf seinem kleinen Stuhl an seinem kleinen Tisch und schiebt sich eine Scheibe nach der anderen in den Mund. Die Mutter isst um diese Uhrzeit immer Apfelschnitze, die eine Pflegerin zurechtgeschnippelt hat, und meine Kollegin atmet die Angst vor dem »Büroservice Müller« weg, mit dem sie telefonieren muss, wenn ich es nicht rechtzeitig ins Büro schaffe. Mir wäre es am liebsten, wenn der Tiger vorher noch ernstmachen und uns alle verschlucken würde.

Ich fahre herum, als mich etwas am Rücken trifft. Das Kind hinter dem Aufsteller hat mich mit einem Kuscheltier beworfen.

»Ganz schön frech«, sage ich.

»Dein Rucksack ist so was von hässlich«, sagt ein anderes Kind und schnappt sich einen Plüschaffen, der mich ebenfalls trifft. Auch die anderen bewaffnen sich, und bevor ich mich entscheiden kann, ob ich schimpfen oder den Wartebereich verlassen soll, ruft eine Stimme vom Flur: »Seit einer Viertelstunde warte ich auf Sie, und Sie spielen hier mit fremden Kindern?«

»Ich wusste nicht –«

»Ich weiß auch nicht alles«, sagt Frau Hoffmann, »und bin trotzdem pünktlich. Denken Sie nicht, dass ich die fünfzehn Minuten dranhängen kann!«

»Diana Hoffmann« steht auf dem Schild neben ihrer Tür, und auch die Fotografien an ihren Bürowänden sind mit diesem Namen unterschrieben. Sie zeigen rote Sonnenbälle in Landschaften, durch die auch ich gereist bin, früher, als ich noch der Mensch war, der ich sein will.

»Haben Sie alles dabei?« fragt Diana Hoffmann.

»Ja«, sage ich und will meinen Rucksack öffnen.

»Den lassen Sie schön geschlossen.«

»Wollen Sie nicht –«

»Will ich nicht.« Diana Hoffmann schüttelt den Kopf. »Ich sehe von hier aus, dass Sie sich bei uns viel eher hätten melden müssen.«

»Ich wollte ja«, sage ich, »aber ich konnte nicht.«

»Jetzt kann ich nichts mehr für Sie tun.«

»Und warum haben Sie mir dann diesen Termin –«

Draußen schlägt eine Kirchturmuhr, und Diana Hoffmann weicht meinem Blick nicht aus. Jetzt ist es elf, meine Kollegin geht wahrscheinlich ein letztes Mal die Tabelle mit den Rabatten durch, das Kind backt Sandkuchen oder etwas in der Art, und die Mutter knetet Schaumstoffbälle. Sicher kann man behaupten, dass alte Menschen wieder so liebenswert wie Kinder werden. Man kann so einiges behaupten, auch dass das einzige, was zählt, die Liebe ist.

»Warum haben Sie mir am Telefon nicht alles erzählt?« sagt Diana Hoffmann. »Was ist das für eine Schlamperei mit dem Antrag für die Kostenübernahme? Wie lange sind Sie beim Pflegeheim schon im Rückstand?«

»Erst seit –«

»Eigentlich will ich das gar nicht wissen. Seien Sie froh, dass ich Ihnen diese Adresse hier gebe.« Sie schiebt eine Visitenkarte über den Schreibtisch. Bunte Container sind darauf abgebildet, der Straßenname sagt mir nichts. »Ich kann Ihnen nur raten, dort erst einmal diesen Rucksack loszuwerden.«

»Ist das weit?« frage ich.

»Für manche ja. Für andere ist es ein Katzensprung.«

»Und für mich?« frage ich.

»Es wird nicht einfach, wenn Sie mich fragen. Solche wie Sie stehen oft noch am selben Tag wieder auf der Matte und fragen vor lauter Verlegenheit, ob die Sonne auf meinen Fotografien auf- oder untergeht.«

»Ich bestimmt nicht.«

»Das werden wir noch sehen«, sagt Diana Hoffmann. »Und jetzt ab durch die Mitte. Und tun Sie sich einen Gefallen: Wenn vorn im Gang eine Tür offensteht, gehen Sie einfach weiter.«

Ich schließe die Tür so leise wie möglich. Weiter vorn im Flur sehe ich tatsächlich eine offene Tür. Diana Hoffmanns Warnung zum Trotz werfe ich einen Blick in das Büro. Unter einem Schreibtisch hocken die sieben Kinder, und auf der Arbeitsplatte liegt die Frau, den Hintern an der Kante, die Beine angestellt. Zwischen ihren Beinen steht ein Berater, er zerschneidet mit seiner Büroschere ihre Unterhose. Sie hat den Kopf zur Seite gelegt.

»Mach es besser«, flüstert sie mir zu, »komm nicht zurück.«

Sonnenuntergänge, denke ich und öffne die Tür zum Treppenhaus, auf den Fotografien sind eindeutig Sonnenuntergänge.

*

Während ich bei Diana Hoffmann gewesen bin, sind die Schatten gewandert. Mein Maultier steht jetzt in der prallen Sonne. Ich führe es zu einem Schattenplatz und zeige ihm die Visitenkarte. Statt hinzuschauen, lehnt es seinen Kopf an die Hauswand. Ich kraule ihm den Hals und schaue mich um. Am vertrauenswürdigsten erscheinen mir ein paar Kinder, die mit ihren Pistolen auf Handys zielen, die sie im Fenster eines leerstehenden Hauses plaziert haben. Die Schüsse ploppen leise, immerhin verwenden die Kinder Schalldämpfer.

»He, ihr!« rufe ich und halte die Visitenkarte hoch. »Sagt euch das was?«

Ein rothaariges Mädchen kommt auf mich zu, es richtet seine Pistole auf mich. Wahrscheinlich müsste ich jetzt Angst haben.

»Das ist hinten im Wald«, sagt das Mädchen, »dort, wo die Großen mit Klebstoff dealen. Besser, wir begleiten dich. Wie viel kannst du zahlen?«

»Ich habe nichts«, sage ich.

»Fünfzig würden reichen.«

»Nicht mal die habe ich. Ich könnte euch später Kuchen bringen.«

»Kuchen? Geht’s noch?« Das Mädchen schießt direkt vor meinen Füßen in den Asphalt. Steinsplitter spritzen gegen meine Beine, und was jetzt auf meine Brust drückt, ist vielleicht doch so etwas wie Angst.

»Lass das«, ruft ein Junge herüber. »Sieht doch jeder, dass sie nichts hat.«

»Kuchen ist gut«, sagt ein anderes Kind und zeigt Richtung Norden. »Du musst dem Zubringer folgen.«

»Und im Wald dann nach links«, fügt ein viertes Kind hinzu. »Das findest du schon.«

»An der Straße musst du aufpassen. Die Tiere sind hungrig und schnell.« Das ist wieder der Junge. »Kannst du Schokokuchen?«

»Wenn ich nichts kann«, sage ich, »das kann ich. Ich habe sogar Minieinhörner aus Zuckerguss.«

Ich wende mich ab und laufe los. Hinter mir höre ich, wie der Schalldämpfer einen weiteren Schuss schluckt. Das Geräusch, das darauf folgt, könnte ein Husten sein oder auch ein Körper, der zu Boden geht.

Obwohl ich zügig laufe, werde ich auf dem Zubringer ständig überholt. Raubtiere wetzen an mir vorbei. Der Staub, den ihre Pfoten aufwirbeln, fliegt bis in mein Gesicht. Zwischendurch überholt mich ein Mädchen mit der Stadt. Es trägt natürlich nicht wirklich unsere Stadt, es ist nur ein Gemälde mit grauen Häusern und grauem Himmel. Kurz darauf sehe ich das Gemälde am Stehtisch eines Imbisses lehnen, und das Mädchen steht daneben und schiebt sich frittierten Fisch in den Mund.

Irgendwann öffnet sich links und rechts von mir ein dunkler, kühler Wald. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Aber meine Füße wollen nicht mehr, und vor allem können meine Schultern den Rucksack kaum noch tragen. Zum Telefonat mit »Büroservice Müller« habe ich es jedenfalls nicht geschafft. Der Kopf meiner Kollegin liegt sicher noch auf dem Tisch, über den die Einkäuferin sie gezogen hat. Um der Chefin die Katastrophe zu beichten, wartet sie bestimmt auf mein Erscheinen – so kann sie mir die Sache in die Schuhe schieben. Und das ist schon okay, ich sollte ihr dankbar sein, dass sie es wenigstens versucht hat. Das war es also mit dem Büro und mir, mit der Reise, mit dem Kickboxkurs und mit dem Einzelzimmer für die Mutter, die wegen der zweiten Frau in ihrem Zimmer wahrscheinlich wieder nicht in den Mittagsschlaf findet. Immerhin liegt das Kind wie immer um diese Zeit auf seiner Matte und schläft, immerhin glaubt das Kind noch daran, dass eine Hundebande alle Probleme lösen kann. Ich werde keine Probleme mehr lösen, heute nicht und auch an keinem anderen Tag. Ich werde es auch nicht mehr versuchen. Ich lege mich jetzt auf den Zubringer und warte auf ein Raubtier. Am besten wäre ein Tiger, der mich möglichst schnell zerreißt.

Ich schließe die Augen und warte ab. Wenn ich Schritte höre, wappne ich mich, so gut es geht, gegen den Schmerz. Es geht nicht gut, aber die Raubtiere weichen mir ohnehin aus. Nach einer ganzen Weile spüre ich am Arm plötzlich eine Samtpfote. Heißer Atem trifft meine Wange, ist das endlich der Tiger?

Vorsichtig öffne ich die Augen.

»Alles okay?« fragt der Mann, in dessen Gesicht ich sehe.

»Nein«, sage ich.

»Sie haben meine Visitenkarte in der Hand. Wollen Sie zu mir?«

»Das sind Sie?«

Statt mich zu freuen oder ihm zu danken, muss ich weinen. Der Mann hilft mir auf die Beine, erst jetzt bemerkt er meinen Rucksack.

»Wollen Sie deswegen zu mir?« fragt er. »So was nehme ich aber nur in Ausnahmefällen.«

»Es ist eine Ausnahme.«

»Was für eine?«

»Traurigkeit«, sage ich, »bodenlose Traurigkeit.«

»Haben Sie es schon mit Yoga versucht?«

Ich schüttle den Kopf. »Keine Zeit.«

»Mit einem heißen Bad? Oder Baldriantropfen? Mit selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern?«

Immer wieder schüttle ich den Kopf.

»Du hast zuviel Zeit verstreichen lassen«, sagt der Mann. »Ich weiß nicht, ob ich dir jetzt noch helfen kann.«

»Okay«, sage ich, weil ich das Du wohl akzeptieren muss.

»Komm mit.«

»Okay«, sage ich, weil ich wohl alles akzeptieren muss, auch dass wir uns jetzt quer durchs Unterholz schlagen. Gleich stürzen wir in eine Grube, neben der ein Raubtier schon die Zähne bleckt. Aber meine Beine schmerzen zu sehr, als dass ich mich aus dem Staub machen kann.

Endlich sehe ich zwischen dem Grün die Container leuchten. Für einen Moment stelle ich mir vor, dass es in einem Container ein Zimmer gibt, in dem mein Leben auf mich wartet. Ich stelle mir vor, dass es an einem Tisch aus Holz sitzt, und vor ihm auf dem Tisch steht eine Kanne Tee, und Blumen blühen auf dem Tisch, echte Blumen in Gelb und Rot, und an den Wänden des Zimmers hängen Bilder von roten Sonnenbällen, aber diese Sonnen gehen auf, und eine Stille ist in diesem Zimmer, eine Stille, die nicht enden wird, und mein Leben lächelt mich an und sagt: »Wo Blumen blühen, kann die Traurigkeit nicht gedeihen.«

Obwohl Diana Hoffmann mir vielleicht davon abraten würde, folge ich dem Mann in den erstbesten Container. Darin steht wirklich ein Tisch, und auf dem Tisch blühen wirklich Blumen. Mein Leben sitzt aber nicht daran, und der Mann verschwindet ohne ein Wort in einer Art Wandschrank. Während ich mich ausziehe, sehe ich, dass auch die Bilder an den Wänden nicht stimmen. Sie zeigen nicht die Sonne, es sind ungeschickte Kinderzeichnungen. Auf keinen Fall will ich bei dem, was gleich passiert, an das Kind denken oder daran, wie ich vor zehn Monaten die Mutter in ihr Zimmer im Pflegeheim führte und sagte: »Schau mal, was ich gefunden habe. Hier ist immer jemand für dich da. Gefällt es dir?«

»Kommst du?« Die Stimme des Mannes klingt hohl aus dem Wandschrank, und als ich nackt und weiß in den Türrahmen trete, weiten sich seine Augen. »Was soll denn das?«

Dort steht er, komplett angezogen, die Hand auf der Klinke einer Stahltür.

»Ich dachte –«

»Du hast also gedacht«, sagt er. »Und was hast du gedacht?«

Dass das Kind sich mehr über Regenbögen freut, will ich sagen. Dass ich eine bessere Tochter bin. Dass es darum geht, glücklich zu sein, habe ich gedacht, und wenn nicht glücklich, dann wenigstens zufrieden, und wenn nicht zufrieden, dann zumindest in der Lage, einen Bauchschuss zu überleben. Ich habe gedacht, dass das Basilikum auf meinem Fensterbrett seine Blätter länger behält, aber wahrscheinlich hat es beim Transport zu viel Frost abbekommen.

»Ich weiß jedenfalls, was ich gedacht habe«, sagt der Mann. »Ich wollte ausprobieren, ob wir diesen Rucksack gemeinsam loswerden. Aber wenn du so etwas denkst, dann gehst du besser allein.«

»Wohin soll ich gehen?«

»Schau selbst.«

Der Mann schiebt sich an mir und dem traurigen Häuflein meiner Kleidung vorbei. Ehe ich etwas sagen kann, ist er verschwunden. Ich schaue auf: Zwischen den Containern steht das Mädchen mit der Stadt. Jetzt tritt der Mann neben sie. Die beiden wechseln ein paar Worte, dann nimmt der Mann sich eine Axt. Er hebt sie und macht den letzten Schritt auf das Gemälde zu.

*

Meine Kleidung ist noch warm, als ich sie wieder überziehe, mein Rucksack ist schon wieder ein Stück schwerer, und so kräftig ich die Schulter gegen die Stahltür drücke – sie öffnet sich nicht. Erst als ich aufhöre zu drücken, bewegt sie sich wie von allein zur Seite, so als wäre das Leben leicht, solange man nur dem dümmsten aller Ratschläge folgt und einfach loslässt.

Eine Treppe führt nach unten. An der letzten Stufe verliert sich das Licht, und vor mir liegt das tiefste Schwarz. Wahrscheinlich bin ich in dieser Stadt die einzige, die ein solches Schwarz kaum schrecken kann. Das Kind malt neuerdings schwarze Bilder, die Mutter hat neuerdings Angst vor der Nacht, und ich tauche in dieses Schwarz ein – ein Gang, eine Halle, das letzte Wegstück vor einem Abgrund, in dem der Tiger lauert?

Dass in diesem Schwarz Hände nach mir greifen, damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe nicht damit gerechnet, dass diese Hände mir meinen Rucksack abnehmen und mich auf eine Liege heben, dass sie meine Hände und meine Füße fixieren und mir eine Plastikschiene in den Mund schieben. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich mich in meinem Leben noch einmal nach den Bildern des Kindes und nach den Augen der Mutter, ja, sogar nach mir selbst sehnen würde.

Dann liege ich im Schwarz und warte.

Dann höre ich die Stimme. »Jetzt.«

Dann wird das Schwarz auf einmal weiß.

Dann wird das Weiß auf einmal schwarz.

Dann geht das so oft hin und her, dass ich es nicht mehr zählen kann.

Dann liege ich und höre dem stummen Schlag meines Herzens zu. Dem stummen Schlag meines stummen Herzens, denke ich.

Dann denke ich, dass ich also noch denken kann.

Dann wird mir die Schiene aus dem Mund genommen, werden meine Hände und Füße befreit, werde ich auf die Beine gestellt.

Dann wissen meine Beine, wohin sie meinen Körper bringen müssen.

Dann schiebe ich die Tür zur Seite und stehe in dem Container, in dem noch immer der Tee dampft und die Blumen blühen und in dem noch immer nicht mein Leben sitzt. Statt dessen sitzt dort der Mann und nickt mir zu und schiebt mir eine Tasse hin. Bei seinem Anblick fällt es mir ein. Mein Rucksack! Ich habe ihn vergessen!

»Ich muss zurück«, rufe ich.

»Lass das alles dort unten«, sagt der Mann, »trink eine Tasse Tee.«

»Ich kann nicht«, sage ich.

»Du kannst«, sagt der Mann. »Oder ist es der falsche Tee?«

Ich lache kurz auf. Als hätte ich jetzt Zeit, um mir über Tee Gedanken zu machen. Als hätte ich mir jemals über Tee Gedanken gemacht.

»Trink Tee«, sagt der Mann, »und frag nicht nach den Gründen. Es gibt keine Gründe.«

»Nicht?«

»Sag meinetwegen genetische Prädisposition. Sag: statistische Zwangsläufigkeit. Sag: die Verkettung unglücklicher Umstände. Mit Gründen kommst du hier nicht weiter.« Der Mann zeigt auf meine Tasse. »Was ist denn jetzt?«

Ich trinke einen Schluck. Es ist kein Zaubertrank, aber es ist auch nicht der falsche Tee.

»Danke«, sage ich. »Aber jetzt muss ich zurück. Ich muss mein Kind abholen. Zu meiner Mutter muss ich auch, und ich muss einen Schokokuchen mit Minieinhörnern backen. Aber zuerst muss ich ins Büro.«

»Ganz schön viel für einen Nachmittag. Wie wäre es, wenn das ausnahmsweise jemand anders übernimmt?«

»Wer?«

»Ich habe eine Kollegin, die gut mit Kindern kann. Die meisten schließen sie sofort ins Herz.«

»Mein Kind geht nur mit mir«, sage ich. »Mein Maultier auch. Es steht noch am Lindenauer Markt, es muss dringend aus der Sonne.«

»Also willst du zurück in die Stadt? Du willst weitermachen?«

»Ich muss weitermachen.« Ich sehe an dem Mann vorbei.

»Und kannst du es auch?«

»Kann ich was

»Weitermachen«, sagt der Mann.

»Warum nicht?«

»Vielleicht weil ich dich vorhin von der Schnellstraße gepflückt habe?«

»Du fragst das alles, als würdest du dir die Antworten selbst geben wollen«, sage ich.

»Du antwortest, als würdest du genau das von mir erwarten.«

»Ich erwarte nichts«, sage ich. »Höchstens, dass du verhinderst, dass der Tiger die Stadt verschluckt.«

Der Mann weist auf das Fenster. Draußen steht immer noch das Gemälde. Obwohl der Mann mit der Axt darauf eingeschlagen hat, ist die Leinwand unversehrt. Nur am Rand ist sie zerrissen, als hätte ein Tiger seine Zähne hineingeschlagen und schon beim ersten Bissen festgestellt, dass diese kalten, grauen Häuser ihm nicht schmecken.

Katharina Bendixen, geboren 1981 in Leipzig, studierte Buchwissenschaft und Hispanistik in Leipzig und Alicante und lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Sie schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und ist Mitgründerin des Netzwerks Other Writers Need to Concentrate (­other-writers.de), das sich mit den komplexen Verbindungen von Autor*innenschaft und Elternschaft beschäftigt.

Katharina Bendixens Texte wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, u. a. mit einem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds (2020/21), dem Titel als Stadtschreiberin von Dresden (2022) und der Kinder- und Jugendbuchresidenz in Echternach/Luxemburg (2023). Soeben ist ihr neuer Erzählband »Eine zeitgemäße Form der Liebe« (Edition Nautilus) erschienen, in dem sie sich mit Carearbeit und Elternschaft auseinandersetzt.

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