Dein roter Faden in wirren Zeiten
Gegründet 1947 Montag, 31. März 2025, Nr. 76
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Dein roter Faden in wirren Zeiten Dein roter Faden in wirren Zeiten
Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 29.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Theorie

Theoretisches Topfschlagen

Dieter Thomä stößt sich an Theorien, die ihrem Namen ein »Post-« voranstellen, vor allem an Posthistoire, Postmoderne, Postkolonialismus
Von Stefan Ripplinger
11.jpg
Eine Ikone der postmodernen Architektur: Die 1978 von Charles Moore entworfene Piazza d’Italia in New Orleans

Wenn irgendwer der Zeit gemäß ist, dann der Opportunist. Denn er trägt, was sie trägt, er sagt, was sie sagt, er verleumdet, was sie verleumdet. Dieter Thomä bekennt sich schon auf der ersten Seite seiner Polemik gegen die Vorsilbe »Post-« nicht nur zur gegenwärtigen Zeit, sondern auch zum Opportunismus. Er stellt fest, wer zu spät komme, verpasse »die gute Gelegenheit«. Die gute Gelegenheit, die »opportunitas«, definiert den Opportunisten, denn er hascht immerzu nach ihr. Wer sich hingegen zu einer Theorie mit vorangestelltem »Post-« bekenne, verstecke sich, so Thomä, vor der Gegenwart und binde sich einen »Klotz ans Bein« – die Vergangenheit. Es zeigt sich, dass auch die Zukunft für ihn ein solcher Klotz ist.

Thomä behandelt nicht sämtliche »Postismen«, sondern konzentriert sich auf die »großen Drei« – Posthistoire, Postmoderne, Postkolonialismus – und beginnt mit Alexandre Kojève. In seinen berühmten Hegel-Vorlesungen (1933–1939) sagte Kojève ein Zeitalter voraus, in dem der Mensch nicht mehr tätig sein müsse, daher auch kein Subjekt mehr sei, das einem Objekt entgegengesetzt ist. Damit ende die Geschichte und beginne die »Posthistoire«. Kojève bezieht diesen Endzustand auf das »Reich der Freiheit«, das Marx im dritten Band des »Kapital« erhofft. Das auf der Notwendigkeit errichtete Reich der Freiheit, schreibt Marx da, beginne mit der Verkürzung des Arbeitstags.

Gegen Kojèves Vorstellung ließe sich dies und das vorbringen – etwa, dass Geschichte nicht unbedingt so eng an menschliche Tätigkeit gebunden sein muss –, doch lässt sich nicht, wie es Thomä tut, kritisieren, im Reich der Freiheit gehe es mit »dem Subjekt bergab«, denn dessen Verschwinden soll ja gerade die Voraussetzung der Freiheit sein.

Mit Francis Fukuyamas Formel vom »Ende der Geschichte« tritt die ursprünglich utopisch-kommunistische Posthistoire in ihre affirmative Phase ein. Fukuyama, ein dienstbarer Intellektueller aus dem militärisch-­diplomatischen Apparat der USA, sagte bereits im Februar 1989, kurz vor dem Zusammenbruch des Sozialismus, den »Triumph des Westens« und dessen tausendjähriges Reich voraus (das, wie wir gerade erkennen, vorzeitig endet). Thomä sollte Fukuyamas Prophezeiung an sich gefallen, denn sie befreit gleichzeitig von den Klötzen Vergangenheit (Krieg, Kolonialismus, ursprüngliche Akkumulation) und Zukunft (Utopie). Allein, Fukuyama lässt durchblicken, dass seine Gegenwart nicht etwa »demokratisch«, sondern bloß kapitalistisch ist. Wie die Postmoderne ist die jüngere Posthistoire »Helfershelfer(in) des Kapitalismus«. Es fehlt das Stück Zucker, auf dem die bittere Medizin gereicht werden kann.

Auch der Dichter Charles Olson, der sich als einer der Ersten in den 1950ern aufs »Postmoderne« berief, bietet die Jetzt-Bezogenheit, nach der Thomä so dringend verlangt. Olsons poetologisches Manifest über den »projektiven Vers« ist geradezu eine Feier der Gegenwärtigkeit. Das Gedicht ist für ihn keine (modernistische) Struktur mehr, sondern eine Entladung von Energie. Leider kennt Thomä dieses Manifest nicht und fremdelt mit Olsons Attacken gegen das westliche Denken (die »Western Box«).

War ihm die Posthistoire zu grau und homogen, stört Thomä an der Postmoderne deren bunte Diversität, Zersplitterung, Intransparenz und das »Getümmel der Sprachspiele«. Anstatt in angepasstem Handeln ende sie in Wokeness, die, moniert er, zu einer »Privatisierung des Politischen« führe. Verfolgt man den Feldzug der Trumpisten gegen DEI (Vielfalt, Gleichstellung, Inklusion), dem sich inzwischen auch Hollywood – namentlich der Disney-Konzern (Le Monde, 3.3.2025) – angeschlossen hat, fragt sich, ob es nicht vielmehr die Nationalisten (und manchmal auch deren Frauen) sind, die kulturelle und sexuelle Minderheiten ins Private, wenn nicht ins Aus pressen.

Der Postkolonialismus ist Thomä ein »pain in the ass«: »Beim langen Weg vom Posthistoire über die Postmoderne zum Postkolonialismus fühle ich mich an ein Kinderspiel erinnert, das am Stakkato der Worte ›eiskalt – kalt – warm – wärmer – heiß‹ zu erkennen ist.« Das Spiel, das er am »Stakkato« der Wörter (nicht: »Worte«) erkennt, nannten wir schlicht »Topfschlagen«. Es sei ihm, sagt er, zu heiß. »Die Welt heute wird dazu verdonnert, Nachwelt des Kolonialismus zu sein. Es kommt damit zu einer Einengung der Gegenwart.«

In einer Diskussion der Schriften des postkolonialistischen Theoretikers Achille Mbembe kommt Thomä zum Schluss, überhaupt alle Opfer von Verbrechen – ob Afrikaner, Juden oder Palästinenser – sollten der »­Rache« abschwören und die Vergangenheit ruhen lassen. »Die Berufung auf den Opferstatus führt nicht weiter.« Man möchte Thomä sehen, wie er diese Botschaft der Versöhnung in den gerade errichteten Lagern des Westjordanlands predigt. Doch sei lobend hervorgehoben, dass ihm die von AfD, Springer und anderen betriebene Diffamierung des Postkolonialismus als »antisemitisch« zu plump ist.

Wieder und wieder beklagt er die »Ambivalenz« der Postismen. Ist etwa die Postmoderne noch eine Moderne oder kommt sie nach der Moderne und setzt diese lediglich voraus? Genau diese Ambivalenz ist aber der Vorzug der meisten Konzepte mit »Post-«: Sie zeigen die konfliktäre Gleichzeitigkeit zweier oder mehrerer Gesellschafts- oder Denkformationen. Jenseits aller Postismen weist Arno Mayers unverzichtbare Studie über das lange Fortwirken des ­Ancien Régime (deutsch als »Adelsmacht und Bürgertum«; 1981) diese Verschränkung nach. Dieter Thomä interessiert ein solches Denken von historischen Widersprüchen nicht. Wie die meisten seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen will er sich nicht von Intellektuellen stören lassen, die mit unabgegoltener Geschichte gute Gelegenheiten madig machen.

Dieter Thomä: Post-. Nachruf auf eine Vorsilbe. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025, 400 Seiten, 28 Euro

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Mehr aus: Feuilleton