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Aus: Ausgabe vom 08.04.2025, Seite 11 / Feuilleton
Metal

Feuchter Alptraum

Grenzenloser Metal mit Cradle of Filth
Von Ken Merten
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Was ist Drastik? Cradle of Filth

Auf die Frage, was Drastik sei, wird in Dietmar Daths »Die salzweißen Augen« (Suhrkamp 2005) geantwortet: »Der ästhetische Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage.« Eine der Bands, die der Autor damals in seinem Briefromanessay als schweres Metalgeschütz auffuhr, war Cradle of Filth. Drastik in ihrem Fortgang: Schon das Langspieldebüt aus 1994, »The Principle of Evil Made Flesh«, wich von der reinen norwegischen Lehre ab und ließ in den Ohren schmeichelnder Soundqualität Black und Death Metal in symphonischen Pomp und metrisch wippenden Spoken Word kippen. Das mag als christianisierte Schädlingseinfuhr und Sprechgesang »minderwertiger« Völker manchem Übermenschen mit Kellerwandteint übel aufgestoßen sein. Die 1994 im englischen Suffolk aus der Taufe Gehobenen verkrachten sich schnell als Avantgarde der Kommerzialisierung mit jenen, die mit ihrem Geknüppel natürlich auch Geld machen wollten, dabei aber wünschten, als elitärer Kern unbelästigt von der Tourshirts tragenden Menge zu bleiben.

»The Screaming of the Valkyries« ist das 14. Album des Sextetts, von dessen Urbesetzung einzig Sänger Daniel Lloyd Davey (»Dani Filth«) geblieben ist. Der gnarzt und keift ab und an noch ins Mikro, hat sich sonst jedoch stark rehumanisiert, und gerade Strophen als Mühen der Ebene sind von ihm profan als New Wave of British Heavy Metal dargeboten (»Demagoguery«), ehe mal das Power-Metal-Falsett nach oben durchbricht wie der Leviathan die Oberfläche, wenn dort etwas ihm zum Missmut geschieht.

Cradle of Filth haben längst die Genregrenzen annulliert. Das sakrosankte »Ave Maria« zieht als Nachfolgerin von Lindsay Schoolcraft seit 2020 Keyboarderin Zoe Marie Federoff auf schönste, entweihende Weise (»White Hellebore« sei hier genannt) in den diesseitigen Dreck.

Im Video zum ersten Track des Albums, »To Live Deliciously«, setzt sich die vom Teufel entseelte Gottesdienerin im sexy Pinguinkostüm auf das Gesicht des moribunden Pfaffen, den sie durch lebensverlängernde wie -verunmöglichende Folter zu großem und sich zum kleinen Tod bringt. Ein feuchter Alptraum. Im oben angeführten Buch über die Drastik hieß es weiter: »Die alten metaphysischen Tröstungen kommen nie zurück. Von ihnen bleiben nur Verwesungsprodukte, die sich mit den Fragmenten der zergehenden neuen Hoffnung im Moment des Scheiterns einer großen emanzipatorischen Umwälzung zu Rätselbildern vermischen (…) als Gelächter oder schmerzliche Scham, als Horror und Porno, Krach und komplett amoralisches Erzählkunstwerk.« In Summe: Cradle of Filth.

Cradle of Filth: »The Screaming of the Valkyries« (Napalm Records)

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