Erdbewegung
Von Helmut Höge
An der deutsch-holländischen Grenze hielt ein älterer Holländer mit Fahrrad an, auf seinem Gepäckträger hatte er eine Kiste mit Erde. Die Zöllner fragten ihn, ob er etwas zu verzollen habe, was der Mann verneinte. Nachdem er jedoch mehrmals die Grenze überquert hatte, durchsuchten sie die Kiste mit Erde und schauten sich auch sein Fahrrad genau an, fanden aber nichts. Das ging so eine ganze Weile, schließlich hielt es ein junger Zöllner nicht mehr aus und sagte zu dem Mann: »Wir wissen, dass Sie etwas schmuggeln. Bitte verraten Sie mir doch, was, ich werde es für mich behalten.« »Fahrräder!« sagte der Holländer.
In Berlin gründeten einige Kenianer ein »On Bidong«, eine Art Bank: Jeder gab monatlich 20 Euro in eine Kasse, und wenn jemand ein Geschäft gründen wollte, konnte er das Geld beanspruchen. Eine gute Idee, aber dann starb einer ihrer Freunde, er wollte in der Heimat »in roter Erde« beerdigt werden. Die Überführung seiner Leiche in einem Holzsarg, der in einem Zinksarg steckte, kostete mehr, als die »On Bidong«-Leute in der Kasse hatten.
Anderes dachten sich die Freunde von Jakov Blau in Odessa aus. Er war in den 80ern ausgewandert und hatte sich in Lyon niedergelassen. Als er alt war, wünschte er sich, in der Heimat beerdigt zu werden, die inzwischen freilich auf dem Gebiet der unabhängigen Ukraine liegt. Eine Überführung seiner Leiche nach Odessa war aber zu teuer, auch die Genehmigung stand in den Sternen. Aber dann hielt Putin 2022 eine »Peter-der-Große-Rede«, in der es ihm um das »Einsammeln russischer Erde« ging. Jakov Blaus Odessaer Freunde brachte das auf die Idee, ihm regelmäßig Pakete mit billigen Odessaer Souvenirs zu schicken, die sie statt in Papier in Erde packten. Ihre Idee funktionierte. Jakov Blau war auch einverstanden (viele russische Exilierte haben sich eine Handvoll russische Erde auf ihr Grab in der Fremde werfen lassen). Fortan kamen regelmäßig Pakete mit Erde bei Jakov Blau an, die er in seiner Wohnung stapelte.
Noch lebt Jakov Blau, aber die Geschichte geht noch weiter. Ich besuchte den umtriebigen Unternehmer Juri Sergienko in Perm, den ich kurz nach der Wende bereits als russischen Partner der DDR-Pipelinebaufirma GABEG kennengelernt hatte. Die Firma war für drei Abschnitte der Gaspipeline (die einst von Sibirien über die CSSR bis in die DDR reichte) verantwortlich: in der Ukraine, bei Moskau und im Oblast Perm. Der neureiche Sergienko hatte mit einigen Unternehmerfreunden ein nichtöffentliches Restaurant in Perm gegründet, wohin er mich einlud. Nach einigen alkoholhaltigen Erfrischungsgetränken erzählte ich ihm Jakov Blaus Erdgeschichte, wobei ich erwähnte, dass er und seine Odessaer Freunde damit den KGB bzw. den Nachfolger FSB ausgetrickst hätten. Zu meiner Überraschung verwahrte sich Sergienko entschieden gegen jeden Witz über den KGB, vor allem aus deutschem Mund. Er stand auf, zahlte unser beider Zeche und ging.
Zurück in Berlin erfuhr ich von einem russophilen Freund eine weitere Erdbewegungsgeschichte. Sie spielte sich auf der Insel Walaam im Ladogasee bei Petersburg ab. Der See ist der größte Europas und die Insel Walaam ein großer, nackter Felsen, auf dem einst ein orthodoxes Kloster gebaut wurde und drumherum etliche Kirchen und Kapellen. Die Gläubigen, die dort über Jahrhunderte hinpilgerten, brachten alle einen Sack Erde mit, worauf die Mönche Blumen und Gemüse pflanzten. Nach der Revolution wurde aus der Insel ein Straflager und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Siedlung für Kriegsversehrte. Ab 1990 übernahm die orthodoxe Kirche wieder die Insel und belebte auch das Kloster neu, zu dem nun auch der ehemalige KGB-Offizier Putin gerne hinpilgert.
Der Berliner Künstler Alexander »Xandi« Krohn erzählte mir, dass ihn einmal ein Freund gebeten hatte, ihm für seine Tochter »gelben Wüstensand« aus Australien mitzubringen. Für die zwölf Kilo musste Xandi Übergepäck bezahlen, aber das war ihm das Geschenk wert. Als dann jedoch ein anderer Freund von ihm starb, ein Australier, der als Musiker im Prenzlauer Berg gelebt hatte, erbat Xandi sich das Säckchen mit Sand zurück, um es dem Toten mit ins Grab zu geben. Und so geschah es dann auch.
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In der feudalen Zeit hat es zwischen dem Hessischen Herzogshaus und der Russischen Zarenfamilie zahlreiche Hochzeiten gegeben. Dabei bestanden die Hessen, dass die Hochzeit jeweils in Darmstadt stattfinden sollte, das Zarenhaus wiederum behauptete, dass die Hochzeit auf »russischer Erde« stattfinden müsse. Nach längeren Verhandlungen einigte man sich, dass eine russische Kapelle auf der Mathildenhöhe erbaut werde, dass für das Fundament russische Erde herbei transportiert werden solle. So könnten die Hochzeiten sowohl in Darmstadt als auch auf russischer Erde stattfinden.
Die russische Kapelle auf russischer Erde steht immer noch, umringt von vielen Jugendstilbauten.