Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Recht auf Wohnen, Beilage der jW vom 19.02.2025
Recht auf Wohnen

Wer weiß, wohin

Wohnungs- und obdachlos im Berliner Winter. Die Stadt ist heillos überfordert und Schutzplätze sind rar
Von Annuschka Eckhardt
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»Es reicht!«: Cover der sechsten Ausgabe der BesetzerInnen-Zeitung (Berlin, 15.9.1990)

Die klirrende Kälte brennt in den Nasenlöchern. Auf dem Asphalt ist eine Pfütze aus Urin gefroren. In einem U-Bahneingang vor einer Filiale des Drogeriemarktes Rossmann in Berlin-Reinickendorf sitzt ein alter Mann auf einem Haufen schmutziger Decken. Sein Gesicht ist rot und geschwollen. Er schlottert am ganzen Körper, zieht einen grauen Handschuh aus und zählt die Münzen in seinem Pappbecher. Verstohlen verstaut er zwei Eineuromünzen in seiner Hosentasche und schiebt die zitternde Hand zum Wärmen unter seinen Po.

Wenige hundert Meter weiter öffnet »Unter Druck – Kultur von der Straße« e. V. seine Türen, hier finden Gäste ein warmes Mittagessen. Seit 2006 betreibt der Verein einen sozialkulturellen Treffpunkt für wohnungslose Menschen in Berlin-Wedding. Heute gibt es Bohnensuppe. Zwei Waschmaschinen schleudern rumpelnd, über einen der Rechner läuft polnischer Reggaeton. Mehr als ein Dutzend Personen sitzen an Tischen, sie essen oder rauchen. In dem selbstverwalteten Laden sind die Mitarbeiter selbst ehemalige Wohnungslose. Zwei Sozialarbeiterinnen sind zudem im Einsatz. Niedrigschwellige Angebote: Es gibt Internet, Telefon, und die Adresse des Vereins kann auch als Postanschrift für die wohnungs- und obdachlosen Gäste genutzt werden. Pro Tag besuchen bis zu 40 Menschen »Unter Druck«. In den Wintermonaten öffnet zusätzlich jeden Donnerstag ein Nachtcafé im Rahmen der Kältehilfe, in dem bis zu 15 Menschen im Warmen übernachten können.

Anfang Januar hat die Bundesregierung den Wohnungslosenbericht 2024 veröffentlicht. Damit gibt es erstmals Daten für Berlin zur Anzahl der Wohnungslosen ohne Unterkunft sowie der verdeckt Wohnungslosen. Im Auftrag des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) haben die Forschungsinstitute GISS und Verian diese ergänzende Erhebung zwischen dem 1. und 7. Februar 2024 durchgeführt. Demnach lebten in der Stadt 47.260 untergebracht wohnungslose Menschen (inklusive geflüchteter Menschen mit anerkanntem Aufenthaltsstatus in Unterkünften des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten). 2.364 verdeckt wohnungslose Menschen waren bei Angehörigen, Freunden oder Bekannten untergekommen. 6.032 Wohnungslose ohne Unterkunft lebten auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher. Bundesweit gelten mehr als eine halbe Million Menschen als wohnungslos.

»Ich kann mich sehr gut an eine Situation erinnern«, sagt Micky, Vorstandsmitglied des Vereins »Unter Druck« und seit acht Jahren Ehrenamtlicher. Er zeigt mit dem Arm auf die andere Straßenseite. »Da drüben hatten wir einen Polizeieinsatz, eine Zwangsräumung. Da stand ich vor der Tür und habe gesagt ›Okay, wir haben wieder neue Gäste‹.« Es hätte noch Zeiten gegeben, da sei eine Zwangsräumung nicht gleichbedeutend mit Wohnungslosigkeit gewesen.

Nicht nur der Wohnungsmarkt, auch die Gesundheitssituation habe sich verschlimmert. »Wir müssen immer häufiger pflegerische Aufgaben übernehmen, die im Grunde Gesundheitspersonal machen sollte – und das bei chronischer Unterbesetzung«, erzählt Marta, die seit fünf Jahren Sozialarbeiterin bei »Unter Druck« ist. Ihre Kollegin ist in Reha – Spätfolgen einer Tuberkuloseerkrankung. Sie hatte sich während der Arbeit bei Gästen angesteckt.

Im Büro der Sozialarbeiterinnen klingelt das Telefon, die Feuerwehr ruft an: Sie haben am Spätkauf in der Nähe des Virchow-Klinikums einen betrunkenen Mann ohne Schuhe aufgegriffen – ob sie ihn vorbeibringen dürften? Er sei im Krankenhaus gewesen und entlassen worden. »Wir schließen in rund einer Stunde, dann müsste er wieder in die Kälte raus«, sagt Marta entschuldigend in den Hörer. »Wenn Sie kommen, können wir in der Kleiderkammer schauen, ob wir passende Schuhe für ihn finden.« Sie legt auf.

»Die eigentliche Obdachlosigkeit ist ein größeres Problem geworden. Es gibt keine Ersatzplätze oder würdige Orte, wo die Menschen schlafen wollen.« In ihrer täglichen Arbeit passiere es häufig, dass sie bei Notübernachtungsstätten anrufe, um zu erfahren, ob es einen freien Platz gibt, und »die Betroffenen sich einfach weigern, dorthin zu gehen. Das kann ich sehr gut verstehen, denn die Zustände dort sind teilweise wirklich unmenschlich«.

Zehn Minuten später dringt Blaulicht durchs Fenster. Misstrauisch schauen die Gäste raus. »Wenn die Bullen hier auftauchen, bin ich ganz schnell weg«, schnaubt eine Frau verächtlich – Snoop, der kleine Hund mit Mantel, bellt schrill. Zwei Feuerwehrleute bringen einen Mann in gelben Socken herein. »Hallo, wir hatten eben angerufen. Er möchte nicht mit uns reden.« Einer der Mitarbeiter holt einen Stuhl, eine Mitarbeiterin sucht Marta. Der Mann schweigt stoisch, doch er setzt sich. »Er hat Schuhgröße 47 oder größer«, sagt der Beamte. »Puh, das ist groß, ich schaue mal, was ich finden kann«, antwortet die Mitarbeiterin und spricht den Mann zunächst auf Polnisch, dann auf Russisch an. Der hebt seinen Kopf, steht auf, schwankt kurz, und versucht langsam wie in Zeitlupe einem Gast seine selbstgedrehte Zigarette aus der Hand zu nehmen. Ein anderer Besucher gibt ihm seine halbgerauchte Selbstgedrehte, genüsslich zieht der Mann mit den gelben Socken daran.

»Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden – das ist eine der großen sozial- und wohnungspolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre. Das kann nur gelingen, wenn alle beteiligten Akteure auf allen Ebenen zusammenarbeiten«, sagt Stefan Strauß, Pressesprecher der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung. In den Richtlinien der Berliner Regierungspolitik 2023–2026 sei vereinbart, die »Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden und den betroffenen Menschen eine menschenwürdige Perspektive« zu sichern.

»Größtes Hindernis bei der Beendigung der Wohnungslosigkeit ist der weiterhin eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum«, weiß Strauß. Außerdem lägen zahlreiche Regelungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zur Beendigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf Bundesebene, konkret im Miet- und Sozialrecht. Es bleibe abzuwarten, welchen politischen Stellenwert die neue Bundesregierung der Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit zuerkennen werde, sagt der Pressesprecher.

Drei Paar Schuhe werden dem von der Feuerwehr vorbeigebrachten Mann angezogen, doch keines passt – seine Füße sind einfach zu groß. So nehmen ihn die Beamten wieder mit – um ihn zurück ins Virchow-Klinikum zu bringen, aus dem er kurz vorher entlassen wurde. »Es gibt einfach nicht genug Schutzplätze. Feuerwehr und Polizei wissen nicht, wohin mit wohnungslosen Menschen, die Kältebusse sind heillos ausgelastet und die Wartezeiten lang«, sagt Micky resigniert. Krankenhäuser seien auch nicht verantwortlich, wenn keine akute Verletzung oder Erkrankung vorliege. »Genau dieses Hin und Her eben beschreibt die allgemeine Hilflosigkeit im Umgang mit obdachlosen Menschen in dieser Stadt.«

Annuschka Eckhardt ist Redakteurin der Tageszeitung junge Welt im Ressort Innenpolitik.

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