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Aus: Ausgabe vom 17.07.2024, Seite 5 / Inland
Finanzkriminalität

Nicht mehr im System

»Ziel beibehalten«: Anne Brorhilker, Exermittlerin im Cum-ex-Skandal, stellt neue Arbeitsstätte vor
Von David Maiwald
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Anderer Ort, selbes Ziel: Anne Brorhilker hat ihre Strategie im Kampf gegen Finanzkriminalität geändert

Sie nehmen geschickt Einfluss, werden durch Millionenbeträge gestützt und sind für Schäden in unfassbarem Ausmaß mitverantwortlich: Finanzlobbyisten im Umfeld von Bundestag und Behörden. Doch obwohl die Steuerkasse der Bundesrepublik durch Cum-ex- und Cum-cum-Geschäfte um Milliarden geprellt wurde, wiegt der Schutz von Banken für die Finanzaufsichtsbehörden hierzulande »offenbar schwerer als der Schutz von Steuergeldern der Allgemeinheit«, erklärte Anne Brorhilker am Dienstag in einem Pressegespräch der Bürgerbewegung »Finanzwende«. Die vormalige Chefermittlerin galt als einer der wichtigsten Köpfe im Verfahren um den größten Steuerbetrug der Geschichte mittels Cum-ex- und Cum-cum-Geschäften.

Sie habe den Ort ihres Engegements geändert, »aber das Ziel beibehalten«. Brorhilker war im April nach Aussagen der Generalstaatsanwaltschaft Köln durch »Strukturüberlegungen des Ministeriums der Justiz des Landes NRW« unter Leitung von Minister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen) faktisch entmachtet worden und hatte als Konsequenz einen »Strategiewechsel«vollzogen, erklärte die frühere Ermittlerin am Dienstag. Im April hatte sie den Staatsdienst verlassen und sich der Bürgerbewegung als Geschäftsführerin zur Verfügung gestellt. Es gehe schließich »um Milliarden, die uns allen fehlen und die wir endlich zurückholen müssen«.

Als Ermittlerin habe sie lediglich Einzelfälle bearbeiten und dabei keine politischen Forderungen stellen können, doch das System zeige sich »in Schräglage«. »Die Macht der Finanzlobby ist überproportional groß«, erklärte die Juristin am Dienstag. Bei »Finanzwende« sei sie nun in der Lage, »gemeinsam mit vielen Bürgern und Experten« Kampagnen und Debatten anzustoßen, Forderungen aufzustellen und in der Öffentlichkeit zu besprechen und »Druck zu erzeugen«. Auf Kontakte zu früheren Kolleginnen und Kollegen könne sie dabei nicht bauen, wolle diese »nicht in Schwierigkeiten bringen«. »Ich bin nun nicht mehr im System und muss auf andere Informationsquellen ausweichen«. Aber: »Ich kenne die Täter, und ich weiß, wie sie arbeiten.«

Und mit wem. Vor rund einer Woche deckte »Finanzwende« Lobbytätigkeiten des kürzlich wiedergewählten EU-Parlamentsabgeordneten Markus Ferber (CSU) auf. Der langjährige Sprecher der EVP-Fraktion im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des EU-Parlaments habe immer wieder »zugunsten der Finanzbranche und zulasten von Verbraucher- und Klimaschutz sowie der Stabilität des Finanzsystems« agiert, kritisierte die Bürgerbewegung. In insgesamt 107 nachweisbaren Treffen mit Lobbyisten sei der EU-Parlamentarier seit 2019 in 57 Fällen mit Vertretern »der Banken-, Versicherungs- und Fondsindustrie« zusammengekommen. Zum Vergleich: In den genannten Zeitraum fallen demnach Treffen mit nur insgesamt fünf Behördenvertretern.

Während das Gebaren der Finanzlobbyisten ein mehr oder weniger offenes Geheimnis ist, seien dadurch entstehende »monströse Schäden« vielen Menschen »einfach nicht klar«, erklärte Brorhilker im Pressegespräch. Und Behörden stellten sich der Aufarbeitung von Cum-ex und Cum-cum weiter in den Weg. Da das Bundesfinanzministerium bei Anfragen von »Finanzwende« zu zwei Schreiben von 2016 und 2017 des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble, »auf deren Grundlage die illegalen Profite aus Cum-cum-Geschäften den Banken zum größten Teil belassen wurden«, mauere, sei nun eine Klage eingereicht worden, teilte die Bürgerbewegung am Dienstag mit. Das Ministerium habe die Auskünfte demnach auch »mit Verweis auf wirtschaftliche Interessen der Banken und mögliche Reputationsschäden« verweigert.

Erst kürzlich hatte der Verein von der Verwicklung von »gemeinwohlorientierten« Sparkassen und Volksbanken in Cum-cum-Geschäfte berichtet. »Wenn man sich dem ernsthaft widmen wollen würde, wäre das problemlos möglich«, erklärte Gerhard Schick von »Finanzwende« den politischen Unwillen. Während verschiedene Behörden bei Beziehern von Bürgergeld automatisch Daten von Bundes- und Landesstellen abgleichen würden, um möglichen Betrug nachzuweisen, werde bei den Steuerabflüssen durch die Aktienkreisgeschäfte regelmäßig auf unklare Zuständigkeiten verwiesen.

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