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Aus: Ausgabe vom 30.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Archäologie

Nur noch Trümmerfeld

Kulturell bedeutende Orte in Gaza werden systematisch zerstört
Von Hagen Bonn
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Muslime beten in den Trümmern der Omari-Moschee (16.6.2024)

Erinnern wir uns. Der israelische Premier Netanjahu war am 8. Oktober 2023 eilig dabei, die Ziele des neuen Gazakriegs abzustecken: »Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen.« Der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, konkretisierte zwei Tage später: »Wir werfen Hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit.« Ein knappes Jahr später steht zu Buche: Im Internet konnte erstmals ein Völkermord live verfolgt werden. Daneben stehen die fast vollständige Zerstörung der Infrastruktur von Gaza und die unwiederbringliche Vernichtung des kulturellen Erbes vor Ort. Schauen wir uns letzteres genauer an.

Das Gaza-City-Archiv wurde im November 2023 durch israelische Geschosse komplett zerstört. Abertausende, teilweise über 150 Jahre alte Dokumente verbrannten. Darunter Dokumentationen über andere historisch bedeutsame Bauten in Gaza-Stadt. Hammam al-Samra, ein öffentliches Bad in Gaza, wurde im Dezember 2023 durch einen Luftangriff israelischer Streitkräfte zerstört. Dieses Bad war mehr als 1.000 Jahre alt. Bevor wir diese Umstände weiter betrachten, lohnt es sich, an die Bücherplünderungen während der al-Nakba (Vertreibung der Palästinenser) 1948 zu erinnern. Das war im Gründungsjahr Israels. Und es setzte sich fort in folgenden Jahrzehnten. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren. Da ritten beispielsweise israelische Archäologen unter dem Schutz der Kolonialarmee zur Ausgrabungsstätte Deier el-Balah in Gaza und raubten 3.000 Jahre alte kanaanäische Kulturschätze. Heute zu sehen in Jerusalem im »Israel-Museum«.

Ja, Gaza ist überaus reich an archäologischen Ausgrabungsstätten. Wer die Berichte aus Palästina und Umgebung im Alten Testament gelesen hat, wird sich an die Schilderung des Lebens dort erinnern. An die antiken Städte, Paläste und Handelshäfen. Unter anderem die Völker der Philister, Amoriter und die Stämme in Kanaan tummelten sich in direkter Nachbarschaft zum Pharaonenreich in Ägypten, auch nicht weit entfernt die Hethiter und das antike Griechenland. Der palästinensische Archäologe Fadel al-Otol verwies kürzlich auf die Ausgrabungen der griechischen Stadt Anthedon, die zwei Kilometer vom Port of Gaza entfernt liegt. Liegt? Fadel al-Otol: Mehr als 200 israelische Luftangriffe seien dorthin geflogen worden. Anthedon sei nicht mehr als ein riesiges Loch im Boden. Die Ausgrabungsstätte ist demnach zerstört und ein Wiederaufbau unmöglich.

Ähnlich erging es Gazas ältester Moschee, der Omari Moschee aus dem siebten Jahrhundert. 1149 erbauten Kreuzfahrer am Ort des Vorgängerbaus eine Kathedrale, die 1187 zum islamischen Sakralbau umgewidmet wurde, dann folgenden zahlreiche Umbauten. Am 8. Dezember 2023 wurde die einzigartige Moschee nahezu vollständig zerstört. Darunter auch eine Sammlung von Manuskripten aus dem 14. Jahrhundert. 18. Januar 2024 – israelisches Militär zerstört die Al-Israa Universität und das Nationalmuseum. Dort waren mehr als 3.000 archäologische Artefakte untergebracht. Eli Eskozido, Direktor der Israeli Antiquities Authority, zeigte im Januar auf Instagram ein Video, in dem man die Plünderung der archäologischen Kunstwerke durch die israelische Armee mitverfolgen kann. Anschließend wurden einige der geraubten Gegenstände in der Knesset ausgestellt. Ein weiteres Beispiel für die moralische Entblößung des Apartheidstaates. Zum Ende müssen wir noch die Sayed Hashem Moschee nennen, denn dort wurde der Urgroßvater des Propheten Mohammed beigesetzt, was für die Menschen vor Ort einige Bedeutung hat. Diese Moschee ist auch nur noch als Trümmerfeld ausfindig zu machen. Als letztes Beispiel von Hunderten wollen wir das Shababeek Centre for Contemporary Art nicht vergessen. Es wurde im April 2024 vollständig zerbombt. Es war ein einzigartiges Zentrum für zeitgenössische Kunst im Gazastreifen. Größtenteils palästinensische Künstler der Gegenwart stellten hier ihre Werke aus. Es war auch eine Begegnungsstätte für die Künstler.

Insgesamt müssen wir zusammenfassen, dass die meisten kulturell bedeutsamen Orte in Gaza entweder unwiederbringlich zerstört oder schwer beschädigt wurden. Was diese Zerstörungsorgie im Sinne der »Kriegskunst« bedeuten soll, ist einfach zu verstehen. Vernichte den Gegner vollständig! Nimm ihm das Leben, seine Familie, die Würde, das Haus, die Straße und seine kulturelle Identität. Wir kennen Heines Spruch: »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen«, aber was sagt uns eine Liste gesprengter Bibliotheken in Gaza? Freilich nur, dass der Genozid in Palästina erst aufhört, wenn die Bevölkerung dort ausgerottet oder vertrieben ist.

Die weltweite Gaza-Solidaritätsbewegung seit Oktober 2023 zeigt dementgegen vielerlei: Gaza hat viele Freunde und Unterstützer. Aber Israel ist isolierter denn je. Die Bilder der dokumentierten Verbrechen in Gaza sind weltweit in die Köpfe eingebrannt. Und ja, die Helfershelfer bei diesem Verbrechen, voran die USA, voran die BRD, voran die gekauften Heuchler aus Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, sie stehen allesamt ziemlich einsam da. Vor allem, wenn wir registriert haben, dass der Wertewesten diesmal nicht mit einer Stimme gesprochen hat. Gaza ist das Brennglas aller Befreiungskämpfe weltweit. Alle Widersprüche des Imperialismus sind dort geronnen zu Blut und Trümmerwüste. Jedoch, das Imperium wackelt weiter, verfault zunehmend. Das macht Hoffnung.

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