Gegründet 1947 Mittwoch, 6. November 2024, Nr. 259
Die junge Welt wird von 2974 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 15.10.2024, Seite 7 / Ausland
Lateinamerika

Basis organisiert sich

Guatemala: Dekolonialismus und das gute Leben. Soziale Bewegungen diskutieren Rassismus, Patriarchat und modernen Antiimperialismus
Von Thorben Austen, Guatemala-Stadt
7.jpg
Auch der Nahostkrieg spielte bei dem Treffen in Guatemala eine wichtige Rolle (Guatemala-Stadt, 12.10.2024)

Zum dritten Mal nach 2021 und 2022 haben sich vergangene Woche in Guatemala Vertreter sozialer und indigener Bewegungen unter dem Motto »Dekolonialität der Völker für das gute Leben« versammelt. Neben Teilnehmern aus 15 lateinamerikanischen Ländern, der US-Kolonie Puerto Rico und dem Baskenland war auch der Präsident der Palästinensischen Union Lateinamerikas angereist und wurde mit großem Applaus empfangen. Ein Vertreter der kommunistischen Palästinensischen Volkspartei (PPP) hatte aus Ramallah ein Video geschickt, in dem er die Solidarität mit seinem Land als »wichtigste Aufgabe der Linken weltweit« bezeichnete.

Wie schon beim vergangenen Treffen konnten nicht alle Delegationen teilnehmen. Den Vertretern Kubas und Venezuelas wurde das Einreisevisum verweigert. Der »Kapitalismus will nicht, dass wir uns mit unseren Genossen in Kuba und Venezuela austauschen«, erklärte Leiria Vay von der nationalen Leitung der Landarbeiterorganisation Codeca zur Eröffnung. Dennoch war das Treffen mit rund 200 Teilnehmer das größte der drei stattgefundenen Versammlungen, 2020 war das Netzwerk als Austausch von lediglich acht Organisationen entstanden. Codeca war von Anfang an für Guatemala beteiligt.

In der ersten Diskussionsrunde erklärte Melania Canales aus Peru in einigen Grundzügen, was unter »Buen Vivir« (gutes Leben) zu verstehen sei: Gemeint sei ein Leben in Harmonie und Ausgleich unter Respektierung der Natur. In Peru sei Soziales heute privatisiert und ein Geschäft. Die Linke in Peru verfolge aber zum Teil ein ähnliches Wirtschaftsmodell wie die Rechte und habe keine kollektive Führung. Die Waldbrände, die aktuell in großen Teilen Südamerikas wüteten, seien von »Unternehmen gelegt, um die Stadtflucht zu beschleunigen und Land für Monokulturen zu gewinnen«. Am zweiten Veranstaltungstag drehte sich die Diskussion um »Frauen und das gute Leben«. Thelma Cabrera aus Guatemala sprach sich dabei gegen eine »Frauenquote« und das Konzept des »erlaubten Indios« aus, das einigen wenigen Vertretern indigener Völker politische Posten einräume. Es gehe aber um die Repräsentation der gesamten Bevölkerung. Eine Teilnehmerin erklärte, der »Machismus« sei in ihren Gemeinden nach Fortbildungen von Codeca deutlich zurückgegangen.

Evaristo Choj, ebenfalls Aktivist von Codeca im Departamento Alta Verapaz, ging auf die Widersprüche zwischen Anspruch und Lebensrealität ein. Das Departamento gehört zu den ärmsten Guatemalas, rund 83 Prozent der Bevölkerung leben in Armut. »Wer nicht weiß, was er morgen essen soll, für den sind Buen Vivir und Dekolonialismus erst mal weit weg.« Man müsse die Politik an diese Realität anpassen. Flavio Flores von den Rondas Campesinas aus Peru erklärte, seine Organisation und andere soziale Bewegungen arbeiteten an der Gründung einer Partei als politisches Instrument, um bereits im kommenden Jahr an den Wahlen teilzunehmen. Ähnliche Bestrebungen gebe es in El Salvador, sagte Ángel Flores von der Gewerkschaft Milpa gegenüber jW.

Am dritten Veranstaltungstag drehten sich die Diskussionen um kommunale Medien. Vertreter von Radio Digni­dad und Radio Victoria aus Honduras erzählten von der Entstehung der Sender in politischen Kämpfen. In der Diskussionsrunde zu »antikolonialer Kommunikation« sagte Ramón Grosfoguel aus Puerto Rico, »der Antiimperialismus des 21. Jahrhunderts« müsse »anders sein als der des 20. Jahrhunderts, als in der Arbeiterbewegung Patriar­chat, Rassismus und Ökologie bestenfalls Nebenthemen waren«. Auch der »Marxismus sei ein im Kern weißes, westliches Projekt«. Auf Nachfrage aus dem Publikum präzisierte er, er sei kein »Antimarxist«, sehe aber den Marxismus des 20. Jahrhunderts kritisch.

Am Freitag wurden Kommissionen unter anderem zu den Themenfeldern »Gewerkschaften«, »Internationalismus«, »Antipatriarchat« und »politisches Instrument« ins Leben gerufen. Am Sonnabend nahmen die Teilnehmer an einer Demonstration von Codeca in der Hauptstadt Guatemalas anlässlich des 532. Jahrestages der spanischen Invasion teil, der oft noch als »Kolumbus-Tag« in Ansehen steht.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • 30.05.2024

    »Rassistisch bis ins Mark«

    Guatemala: Mord an indigenem Sänger wirft Licht auf strukturelle Diskriminierung und Gewalt im Land
  • Schutzschild für Putschisten: Polizei in Peru (Lima, 26.1.2023)
    05.05.2023

    Gesetzbeugende Gewalt

    Peru: Interamerikanische Kommission wirft Regierung Mord und Rassismus vor

                                          Heute 8 Seiten extra – Beilage zum Thema: Recht auf Wohnen