Frieden mit Russland
Von Irmtraud GutschkeVoraussagen: Wieder einmal erinnerte ich mich an den DDR-Ökonomen Jürgen Kuczynski, der, ausgehend von der generellen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, dessen Untergang prophezeite. Der französische Anthropologe und Historiker Emmanuel Todd kann sich zugute halten, dass er schon 1976 den Zerfall der Sowjetunion voraussah. Und nun: »Der Westen im Niedergang«. Was wir intuitiv spüren, will er analysieren – voller Lust, sich gegen den Mainstream zu stellen. Wie er in klarer, ironisch distanzierter Sprache Durchblick signalisiert, ist mitreißend und anregend, zumal man eigene Einschätzungen hinzufügt.
Das betrifft besonders auch die Passagen über Deutschland. Durchaus im Interesse der USA sind wir in den Ukraine-Krieg verwickelt, weil »eine Annäherung zwischen Deutschland und Russland … das Ende des US-amerikanischen Einflusses auf Europa bedeuten würde«. Das wird vielen nicht neu sein, aber was folgt daraus? Aufschlussreich schon »die zehn Überraschungen des Krieges« im Einleitungskapitel und die Darstellung der russischen Kriegsziele am Schluss. Eine »autoritäre Demokratie«, die im Inneren einen »zivilen Frieden« will: Wie sich dieser im Westen unterschätzte Staat entwickelt hat, belegt Todd mit statistischen Daten. »Jede Sanktionsregelung scheint Russland dazu angeregt zu haben, eine Reihe von ökonomischen Umstrukturierungen vorzunehmen und allmählich seine Autonomie gegenüber dem westlichen Markt wiederherzustellen.« Wie die niedrige Geburtenrate mit Kriegführung und Militärdoktrin im Zusammenhang stehen, war mir bislang nicht bewusst.
Als Anthropologe analysiert Todd auch die Unterschiede zwischen Russland und der Ukraine, die lange schon aus mindestens zwei Teilen bestand. Er untersucht die Russophobie in Osteuropa und betrachtet auf eine mir ungewohnte Weise den Westen, indem er auch Familienstrukturen und Konfessionen mit einbezieht. Er spricht von »liberalen Oligarchien«, in denen Wahlen nur noch »Theaterstücke« sind, von einem Europa, das »assistierten Suizid« begeht, und einer NATO, die Westeuropa weniger schützt als kontrolliert. Dabei ist es immer wieder frappierend, wie Bereiche ausgeleuchtet werden, die gemeinhin im Dunkeln bleiben. Wie entstand die Macht der USA und wodurch schwindet sie? Welche Auswirkungen hat das enorme Ungleichgewicht der Handelsbilanz? »Es ist so viel leichter, Geld zu produzieren als Waren.« Auf welche Weise wird das abgesichert? Welche Rolle spielt der Geheimdienst NSA? In der Fragmentierung der fortgeschrittenen individualistischen Gesellschaften sieht Todd einen Grund für deren Niedergang. Das Fehlen eines Zusammenhalts im Inneren wird durch Größenwahn nach außen kaschiert.
Journalistische Vorliebe für Kriegsszenarien: weil sie ein Spektakel bieten. Dabei repräsentiert der Westen mit seinen Sanktionen nur zwölf Prozent der Weltbevölkerung, tut aber so, als sei er Herr der Welt. Anderswo werde die Globalisierung als Rekolonialisierung erlebt – zugunsten der westlichen Konsumenten und auf Kosten der Produzenten. Dass letztere sich zunehmend selbstbewusst dagegen wehren, ist verständlich. Von Bedeutung sind aber auch die unterschiedlichen Familienstrukturen und Traditionen, die man mit »feministischer Außenpolitik« und LGBTQ-Förderung nicht einfach beiseite wischen kann. Da musste ich an Annalena Baerbocks Syrien-Mission denken. Welche hochmütige Ignoranz offenbarte sich da! Russland dagegen, wegen seiner »Antitransgenderpolitik« kritisiert, bezieht daraus eine »beachtliche Soft-Power« gerade in der muslimischen Welt.
Selbst jüdischer Herkunft, beobachtet Emmanuel Todd, wie die jüdische Intelligenz in den USA zurückgedrängt wird. Er würde wahrscheinlich nicht widersprechen, wenn man ihn als Wertkonservativen bezeichnet. Marx, Engels, Lenin und natürlich auch Brzeziński hat er gelesen. Ein riesiges Literaturverzeichnis ist im Buch enthalten. Trumps Wiederwahl hat er nicht vorausgesehen, aber auch keine allzu großen Hoffnungen auf ein Kriegsende in der Ukraine mit ihm verbunden. Auf nüchterne Art betrachtet er im Nachwort Russlands Vorrücken in strategisch wichtige Gebiete. Weiter wird es nicht gehen, davon ist er überzeugt. Trotz westlicher Waffenlieferungen würde die Ukraine keinesfalls die Oberhand gewinnen. Aber ein Friedensschluss könne schwierig sein, weil Russland seine Sicherheitsinteressen durchsetzen wird. An westliche Zusicherungen glaubt man dort nicht mehr.
Gerade die ärmeren Bevölkerungsschichten in Italien, Deutschland und Frankreich würden der Kriegsbeteiligung ihrer Länder zunehmend kritisch gegenüberstehen. Das »kommunistische Russland« hatte in den westlichen Proletariern Verbündete gefunden. Das konservativ gewordene Russland »würde seine Verbündeten immer noch in diesen westlichen Bevölkerungskreisen finden, die aber inzwischen ebenfalls konservativ geworden sind …«. Und Deutschland »wird zwischen einem endlosen Konflikt und dem Frieden mit Russland wählen müssen«. Kühle Rationalität sei gefragt. »Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die Bemühungen der Vereinigten Staaten, Deutschland von Russland zu trennen – eine ihrer strategischen Obsessionen seit 1990 –, letztlich scheitern werden.«
Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Aus dem Französischen von Tabea A. Rotter. Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2024, 350 Seiten, 28 Euro
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