Begriffe und Taten
Von Dominik Wetzel, BonnZiemlich genau ein Jahr nach der Parteigründung hat es das Bündnis Sahra Wagenknecht in zwei Landesregierungen, drei Landtage und das EU-Parlament geschafft. Beim zweiten Parteitag im World Conference Center im einstigen Bonner Regierungsviertel ist die Stimmung am Sonntag zuversichtlich – trotz der inzwischen nicht mehr ganz so euphorisch stimmenden Umfragewerte der Partei. Störungen gibt es in Bonn kaum: Vor der Tür protestieren einige proukrainische Aktivisten und NATO-Freunde gegen »Sahra ›Zarenknecht‹«. Und die zwei Mitglieder aus dem Hamburger Landesverband, gegen die Parteiausschlussverfahren laufen, versuchen ohne Erfolg, Zugang zum Parteitag zu erhalten.
In etwa sechs Wochen sind Wahlen für den neuen Bundestag, und die will die Parteiführung unbedingt erfolgreich bestehen. Man wolle den anderen Parteien »das Land nicht überlassen«, Friedrich Merz sei ein »gefährlicher Hasardeur, dem man das Handwerk legen muss«, ist am Sonntag zu hören. AfD-Kandidatin Alice Weidel habe mit ihrer »Anbiederung« an den »reichsten Mann der Welt« Elon Musk ihre Unterwürfigkeit gegenüber US-Präsident Donald Trump sichtbar zur Schau gestellt. »Aufrüsten für Donald« sei das Gebot der AfD, aber auch anderer Parteien. Das BSW sei die einzige Partei mit Aussicht auf den Einzug in den Bundestag, die »konsequent in der Friedensfrage« sei. Fast alle im Bundestag vertretenen Parteien wurden scharf angegangen. Auffallend: Nur die schwer angeschlagene Partei Die Linke, aus der viele BSW-Mitglieder kommen, wurde nicht explizit kritisiert.
Ich treffe Parteimitglieder im Foyer, die aus den unterschiedlichsten Gründen zum BSW gekommen sind. Heike Hänsel, ehemals für Die Linke im Bundestag, hat die Friedensfrage zum Wechsel der Partei bewogen. Andere konnten sich erst mit Wagenknecht identifizieren, als diese die Linkspartei verlassen hatte und ihre Positionen unabhängig vertrat. Auch Wagenknechts Haltung zur Coronapolitik hat manch einen zum BSW hingezogen. Viele sind nie zuvor in einer Partei aktiv gewesen. Die meisten Parteimitglieder, mit denen ich spreche, positionieren sich »links der Mitte«.
Von anderen, die sich »links der Mitte« sehen, wird die Partei vor allem für ihre migrationspolitischen Positionen kritisiert. Vielen BSW-Mitgliedern in Bonn geht es nach eigenem Bekunden lediglich um eine »realistische« Auseinandersetzung mit den Problemen überforderter Kommunen. Andere Themen seien ihnen jedoch in dieser »kriegsbesoffenen Zeit« viel wichtiger, die Verbesserung der Krankenversorgung und der sozialen Absicherung etwa, oder die Verteidigung der Meinungsfreiheit.
Ich frage Wagenknecht, ob die Berufung des BSW auf die Tradition der Sozialdemokratie Willy Brandts nicht auch als Bruch mit dem antikapitalistischen Anspruch zu werten sei, für den sie einst in der PDS und anfänglich auch in der Linkspartei stand. Sie sagt, dass vielen Menschen gerade in Westdeutschland »Sozialismus« schlicht nicht politisch vermittelbar sei. Sie bleibe jedoch bei ihrer harten Kritik an der Verteilung des Reichtums. Sevim Dagdelen betont, sie wolle sich nicht an Begriffen, sondern weiter an Taten messen lassen.
In ihrer Rede gibt Wagenknecht sich gewohnt kämpferisch. Während die anderen Parteimitglieder über den Seiteneingang ohne viel Aufhebens und Aufregung ans Podium treten, ist sie der eindeutige Star der Show. Lichtspiel und Musik erfüllen die Halle, als Wagenknecht durch die Mitte des Saals zu ihrer Rede emporsteigt, um die Parteifreunde auf den Wahlkampf einzustimmen. »Wer heute noch bürgerlich ist, der muss doch gegen das Establishment sein«, sagt sie. Bürgerliche Tugenden sieht sie durch den »ehrlichen Kaufmann« vertreten, »solide Arbeit«, »Haftung für die eigenen Fehler« sowie ein »Engagement für andere«. Die stünden im klaren Gegensatz zur »Managementphilosophie in Banken und Börsenunternehmen«, die ein Friedrich Merz, Christian Lindner oder Elon Musk verträten.
Ein Waffenstillstand in der Ukraine steht für das BSW ganz oben auf der Tagesordnung, auch die Wiederaufnahme des Imports von russischem Erdgas. Rohstoffimporte sollten sich nicht nach »Moral«, sondern nach dem billigsten Preis richten, sagt Oskar Lafontaine, erst recht dann nicht, wenn es sich um Doppelmoral handelt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (15. Januar 2025 um 12:21 Uhr)»Rohstoffimporte sollten sich nicht nach ›Moral‹, sondern nach dem billigsten Preis richten, sagt Oskar Lafontaine.« Da ist einem der Chefdenker der Wagenknechtpartei ein verräterischer Satz herausgerutscht. Hauptsache, der deutsche Imperialismus hat Zugriff auf billige Rohstoffe. Und genau wie die AfD, hat das BSW Russland die Rolle des billigen Rohstofflieferanten zugedacht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Hans-Ulrich B. aus Freudenstadt (15. Januar 2025 um 20:34 Uhr)Das ist eine absichtlich falsche Interpretation. Lafontaine hat nur gesagt, man solle dort kaufen, wo man die Ware am billigsten bekommt. Das ist ja wohl das Normalste von der Welt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (16. Januar 2025 um 15:05 Uhr)Wenn man das Wörtchen »Moral« weglässt, kann man das so sehen. Wie viele Kriege um »billige Rohstoffimporte« wurden schon geführt? Ein deutscher Bundespräsident meinte 2010, man solle das mit der Moral nicht so eng sehen: »Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (14. Januar 2025 um 13:25 Uhr)Ich werde den Teufel tun und an der einzigen Partei herummäkeln, die es wahrscheinlich schaffen könnte, den Ruf nach Frieden in den nächsten Bundestag zu tragen. Und das, auch wenn mir vieles nicht passt, was sie sonst noch im Programm zu stehen hat. Denn der Frieden ist zu wichtig, um ihn links liegenzulassen. Denkt daran: »Ohne Frieden ist alles nichts.«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (13. Januar 2025 um 22:55 Uhr)Was für ein politisches System wird gewählt? Man nennt es »Repräsentative Demokratie«. Was ist das? Im 18.Jhd. nannte man diese Herrschaftsform Wahlaristokratie, weil sie die Menschen von der aktiven politischen Teilnahme ausgeschlossen hat – wie heute auch. In friedlichen Zeiten ist sie die beste Herrschaftsform einer Diktatur. In einem Staat wie der BRD kann man mit der »Repräsentativen Demokratie« das Volk ohne Waffengewalt ausbeuten und unterwerfen. Dazu benötigt man nur alle vier Jahre eine sogenannte Wahl, um mit einem Kreuz die Diktatur zu bejahen. Man wählt einen Politiker (Repräsentanten) oder eine Partei, die man persönlich nicht kennt, aber die indirekt über mein Leben und mein Schicksal entscheidet. Repräsentanten spalteten politisch die Gesellschaft. Sie spielen die verschiedenen Schichten gegeneinander aus, z. B. Bürokraten gegen Arbeiter, Intelligenz gegen Arbeiter, Lumpenproletariat gegen Arbeiter. Was sind die politischen und psychologischen Auswirkungen auf die Menschen? »Repräsentative Demokratie« macht die Menschen politisch faul und behäbig. Mit dem Wahlkreuz akzeptiere ich, dass jemand anderes für mich denkt und handelt. Ich setze mich aufs Sofa, schalte den Fernseher an, alles andere erledigen die Politiker für mich. Aktivität, Kämpfen, Verantwortung, Denken u. a., überlasse ich den Politikern. Ich brauche nicht zu denken, das erledigen die Politiker für mich, ich brauche mich nicht zu bewegen, das machen die Politiker für mich. Das erzeugt Lethargie und verhindert, dass Menschen auf die Straße gehen und gegen soziale, politische und ökonomische Ungerechtigkeit kämpfen. Ich kann sie vom Sofa aus beschimpfen, wenn sie in meinen Augen Mist gebaut haben. Sie sind mein persönlicher »Blitzableiter«. Ich bin nicht in der Lage, meinen faulen Arsch zu bewegen, um die »Repräsentative Demokratie (Diktatur)« zu beseitigen … ich habe ein Kreuz gemacht und bin aus dem Schneider. Darum gehe ich nicht wählen, ich gehe kämpfen. Manni Guerth
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (15. Januar 2025 um 14:59 Uhr)»Darum gehe ich nicht wählen, ich gehe kämpfen.« Soll das heißen, jene, die wählen gehen, kämpfen nicht? Lenin zur Frage »Soll man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen?«: »Selbst wenn keine ›Millionen‹ und ›Legionen‹, sondern bloß eine ziemlich beträchtliche Minderheit von Industriearbeitern den katholischen Pfaffen und von Landarbeitern den Junkern und Großbauern nachläuft, ergibt sich schon daraus unzweifelhaft, daß der Parlamentarismus in Deutschland politisch noch nicht erledigt ist, daß die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne für die Partei des revolutionären Proletariats unbedingte Pflicht ist, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln und aufzuklären. Solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen auseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, gerade innerhalb dieser Institutionen zu arbeiten, weil sich dort noch Arbeiter befinden, die von den Pfaffen und durch das Leben in den ländlichen Provinznestern verdummt worden sind. Sonst lauft ihr Gefahr, einfach zu Schwätzern zu werden« (»Der ›Linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«).
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