Kiew in Bedrängnis
Von Lars LangeEs sind bedeutende territoriale Gewinne, die die russischen Streitkräfte im Südosten der Ukraine verzeichnen: Am Sonnabend meldete Moskau die Einnahme der militärisch wichtigen Kleinstadt Welika Nowosilka nach einer Umfassungsoperation. Die ukrainischen Einheiten zogen sich weitgehend ohne Kampfhandlungen zurück, wie Aufnahmen aus der vergleichsweise wenig zerstörten Stadt belegen.
Ermöglicht hatte diesen Erfolg die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Wugledar im Herbst. Wugledar liegt etwa 30 Kilometer östlich von Welika Nowosilka und stellte einen Eckpfeiler der ukrainischen Verteidigung dar. Danach gelang es den systematisch vorgehenden Streitkräften Russlands, das weitestgehend unbefestigte Hinterland zu erobern. Mit der Einnahme der Kleinstadt stehen die russischen Streitkräfte nun unmittelbar vor der letzten Verteidigungslinie der ukrainischen Armee – eine ernste Lage für Kiew.
Fällt diese letzte Verteidigungslinie, würde das einen Kaskadeneffekt bewirken, der auch auf benachbarte Frontabschnitte übergreift. Das große Problem aus Sicht der Ukraine ist, dass nach der Einnahme von Welika Nowosilka und dem nur knapp 40 Kilometer entfernten, nordöstlich gelegenen Kurachowe festungsartig ausgebaute, städtische Strukturen fehlen, die dem methodischen Vorgehen der russischen Militärführung noch Widerstand bieten könnten. Denn diese letzte Verteidigungslinie basiert auf einem klassischen militärischen Konzept: Städte dienen als stark befestigte Ankerpunkte, die durch Feldbefestigungen miteinander verbunden werden. Doch die Feldbefestigungen sind vermutlich deutlich schwächer als die urbanen Verteidigungszentren. Und die Stärke des Systems liegt in der Kombination beider Elemente – der befestigten Städte als robuster Stützpunkte und der verbindenden Feldbefestigungen. Mit dem Fall der beiden Städte fehlen die entscheidenden urbanen Ankerpunkte. Dadurch verlieren die verbindenden Feldbefestigungen erheblich an Verteidigungswert.
Auffällig ist, dass sich auch die Einnahme dieser gehärteten urbanen Räume beschleunigt: Die Stadt Selidowe fiel im Oktober überraschend schnell, da die ukrainischen Streitkräfte es vorzogen, sich zurückzuziehen. Ähnlich verlief die Einnahme von Kurachowe, das trotz seiner strategischen Bedeutung und erwarteter monatelanger Kämpfe nach erfolgreicher Umfassung relativ zügig eingenommen wurde. Wugledar wurde Anfang Oktober nach nur fünf Tagen Kampf besetzt, nachdem die russischen Streitkräfte die Stadt über Monate hinweg langsam eingekreist hatten.
In der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine hat die russische Armee einen Brückenkopf nördlich von Kupjansk am Westufer des Flusses Oskil etabliert und ausgebaut. Diese Position ermöglicht eine zukünftige Umfassung von Kupjansk von beiden Flussseiten aus. Was zunächst anscheinend als Erkundungsvorstoß begann, hat sich zu einer bedeutenden operativen Position entwickelt.
In der Gegend um Pokrowsk in der Region Donezk nähern sich russische Verbände der wichtigen Versorgungsroute E 50 und der Stadt Grischine. Die erste der drei Hauptlogistikrouten ist bereits unterbrochen. Pokrowsk, das von beiden Konfliktparteien als einer der wichtigsten bevorstehenden Kampfschauplätze eingeschätzt wird, könnte nach den jüngsten Entwicklungen schneller erobert werden als erwartet – sobald nämlich die Hauptversorgungsrouten unterbrochen sind.
Voraussetzung dafür ist aber vermutlich noch eine Frontbegradigung östlich von Pokrowsk bis etwa zum Dorf Prawdiwka. Denn die russische Führung hat im bisherigen Kriegsverlauf immer stark auf eine Flankensicherung der eigenen Kräfte gesetzt. Bei Prawdiwka gibt es aber einen etwa 20 Kilometer und zehn Kilometer tiefen ukrainischen Frontbogen, der potentielle Vorstöße auf Pokrowsk gefährden könnte. Die Begradigung dieser Ausbuchtung der militärischen Front in gegnerisches Gebiet ist durch die russische Einnahme von Torezk Anfang Januar allerdings in greifbare Nähe gerückt. Die Bergbaustadt war zuvor wichtiger Stützpunkt der ukrainischen Verteidigung.
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