Den Schmerz spüren
Von Irmtraud Gutschke
Wie »die Dinge begonnen haben auseinanderzufallen«: Auch in ihrem sechsten Roman bei Aufbau bietet die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang, was man von ihr erwartet. Eine »intensive poetische Prosa«, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die »Verbindung zwischen Körper und Seele, den Lebenden und den Toten« aufzeige, wie es zur Begründung ihres Literaturnobelpreises 2024 verlautete. Was man nach ihren bisherigen Büchern zu erwarten hat, weiß man also schon, wenn man »Unmöglicher Abschied« aufschlägt: fragile junge Frauen am Rande des Zusammenbruchs, der in ungelösten Konflikten wurzelt – nicht nur persönlicher, sondern auch gesellschaftlicher Art.
»Als würde mein Körper in zwei Hälften gerissen«, so fühlt sich Gyeongha. Alpträume immer wieder. Voller physischer Gewalt, »als wäre ein großes wuchtiges Schwert aus dem Nichts aufgetaucht«. Eines Nachts hat sie sogar ihr Testament verfasst. »Krankheit als Sprache der Seele« – an dieses vielgelesene Buch von Ruediger Dahlke musste ich denken, wobei die Beschädigung der Seele hier offen zutage liegt. Eine junge Frau, die sich von ihrer Familie, sogar von ihrer Tochter abgesondert hat, um diese nicht zu belasten – ihre Angstvisionen rufen danach, entschlüsselt zu werden. Wir sollen uns einfühlen, wobei ich auch Distanz in mir spürte gegenüber dieser exaltierten Empfindsamkeit, als ob der Zusammenbruch noch zu feiern wäre.
Fast wie Befreiung mag es da anmuten, dass Gyeongha eine SMS von ihrer Freundin erhält. »Kannst Du schnell zu mir kommen?« Inseon liegt im Krankenhaus. Mit der Kreissäge hat sie sich zwei Finger abgesägt. Das geschah bei der Arbeit an einem Kunstprojekt, das sie zusammen geplant hatten, inspiriert von Gyeonghas Alptraum, der zu Beginn des Buches geschildert wird: schwarze Baustämme auf einem Hügel, »verschieden hoch, wie Menschen unterschiedlichen Alters«. Inseons Finger wurden wieder angenäht. Doch nun wird sie alle drei Minuten in die Wunde gestochen. Sie soll den Schmerz spüren, sonst stirbt der Nerv ab.
Hat Han Kang da auch ihr eigenes literarisches Verfahren gemeint? Wie sie auf eine traumwandlerisch leise Art Spannung entstehen lässt und sie bis ins Dramatische steigert, zwingt einen geradezu in die Lektüre, macht sie aber auch durchschaubar. Dass Gyeongha schnellstens in Inseons Haus auf der Insel Jeju gehen soll, um den kleinen weißen Vogel Ama zu versorgen, erfahren wir schon aus dem Klappentext. Auch dass es für sie selbst zu einem Überlebenskampf wird gegen beißende Kälte und einen schrecklichen Schneesturm. Aber es ist so fürchterlich, dass die junge Frau hätte umkommen können. So wie sie den weißen Vogel, der im übrigen sprechen konnte, begraben musste. Doch dann scheint er plötzlich umherzufliegen. Eine Fiebervision? Und auch Inseon taucht auf. Ist sie es wirklich oder »ihre Seele«?
Ihr gemeinsames Projekt hatten sie »Unmöglicher Abschied« genannt, wobei Gyeongha erst im Haus der Freundin erfährt, was deren Mutter so qualvoll mit sich herumtrug. Etwas Verschwiegenes, Verschüttetes: ein Massaker auf der Insel Jeju, das sich zwischen 1948 und Anfang 1949 kurz vor Ausbruch des Koreakrieges ereignete. Um die »Roten« auszulöschen. Im Auftrag einer rechtsgerichteten Lokalregierung schlugen koreanische Truppen mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsarmee einen angeblich kommunistischen Aufstand nieder. Auf die Unmutskundgebung von ein paar hundert Menschen folgte ein Gemetzel. 270 von 400 Dörfern auf der Insel ausgelöscht, dreißigtausend Tote sagen die einen, hundertvierzigtausend sagt man auf Jeju: Frauen, Kinder und Greise. Fast jede Familie verlor jemanden, und jahrzehntelang war es streng verboten, den Massenmord auch nur zu erwähnen, den »Vorfall vom 3. April«, wie es noch immer euphemistisch heißt. Auf ihre Weise hat Han Kang ein lange vertuschtes Verbrechen öffentlich gemacht.
Han Kang: Unmöglicher Abschied. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau-Verlag, Berlin 2024, 315 Seiten, 24 Euro
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