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Aus: Ausgabe vom 01.02.2025, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Lateinamerika

»Ich habe noch nie eine so schnelle Zerstörung eines Landes gesehen«

Ecuadors Expräsident Rafael Correa über den Ausverkauf der lateinamerikanischen Republik und die Möglichkeit eines Sieges der fortschrittlichen Kräfte bei den bevorstehenden Wahlen
Interview: Pablo Iglesias
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»Haut ab!« – Protest gegen Ecuadors Präsidenten Daniel Noboa und die Narco-Mafia (Quito, 15.11.2024)

Im Februar 2017 habe ich Sie zum letzten Mal interviewt. Das war wenige Wochen vor dem Wahlsieg von Lenín Moreno, der die Wahlen dank Ihrer Unterstützung gewann. Ab diesem Zeitpunkt begannen sich die Dinge in Ecuador zu verschlechtern. Ist Lenín Moreno dafür verantwortlich, dass heute Daniel Noboa Präsident des Landes ist?

Voll und ganz. Lenín Moreno beging einen großen demokratischen Betrug. Er gewann mit unseren Stimmen, unserer Partei und unserem Programm die Präsidentschaft, verkaufte sich dann aber vollständig an die Oligarchie. Er änderte das Programm von sozialer Gerechtigkeit, Würde und Souveränität hin zu einem neoliberalen und korrupten Programm. Er begann, seine ehemaligen Mitstreiter zu verfolgen. Angetrieben von einer Mischung aus Hass, Inkompetenz und Korruption demontierte er Staat, um uns schlecht aussehen zu lassen, behauptete, alles sei falsch gemacht worden. Heute zahlen wir dafür einen hohen Preis, und eine der Konsequenzen ist die Präsidentschaft von Daniel Noboa.

Während Ihrer Präsidentschaft sank die Mordrate in Ecuador von 18 auf 5,6 pro 100.000 Einwohner. Heute liegt sie bei 47 pro 100.000 Einwohner und ist damit die höchste in Lateinamerika. Wie ist Ecuador von einer sicheren Insel in Lateinamerika zu einem der unsichersten Länder geworden?

Ich habe noch nie eine so schnelle und tiefgreifende Zerstörung eines Landes in Friedenszeiten gesehen. Diese rasante Zerstörung, wie sie in Ecuador stattgefunden hat, ist beispiellos. Vier ecuadorianische Städte, einschließlich der Hauptstadt Quito, gehörten zu den zehn sichersten Städten Lateinamerikas. Nun befinden sich drei ecuadorianische Städte unter den zehn gefährlichsten Städten der Welt. Die unsicherste ist Durán, vor meiner Heimatstadt Guayaquil. Die Energieversorgung war sichergestellt, heute gibt es Stromausfälle von zwölf bis 14 Stunden am Tag, der Strom wird zudem sehr teuer importiert, während wir früher Strom verkauft haben. Das Straßennetz funktionierte, heute sind 60 Prozent zerstört. Kurzum, Moreno hatte begonnen, den Staat zu zerschlagen. Er ist ein Wolf im Schafspelz, ein schamloser Heuchler. Zuerst sagte er, die Regierung Correa sei die beste Regierung aller Zeiten. Doch plötzlich waren alle inkompetent, korrupt, Mafiosi. Moreno hat die Institutionen der Exekutive zerschlagen. Zunächst löste er das Ministerium für Sicherheit auf, das Streitkräfte, Polizei und Geheimdienste koordinierte, dann kündigte er Sicherheitsvereinbarungen mit Kolumbien und Peru. Die Ausgaben für die Zolleinheiten wurden radikal zusammengestrichen. All das hat die transnationale Kriminalität enorm begünstigt. Abgeschafft wurde auch das Strafvollzugssystem, das auf Rehabilitierung setzte. Die Gefängnisse gerieten in die Hände krimineller Gruppen. Die Häftlinge werden nicht mehr nach ihrem Gefährlichkeitsgrad eingestuft, statt dessen sind einzelne Gefängnisblöcke unter Banden wie den »Lobos«, »Tiguerones« oder »­Choneros« aufgeteilt worden. Von dort steuern die Gangs die organisierte Kriminalität. All das fiel zusammen mit einer Ausweitung des internationalen Drogenhandels. Unsere Regierung hatte dagegen Maßnahmen ergriffen, etwa die Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen, härtere Strafen für Kleindealer und strengere Einreisekontrollen. Mit der gezielten Schwächung des Staates klangen diese Maßnahmen aus. Als wäre all das nicht genug, markierte die Verfassungsreform von 2018 einen regelrechten Staatsstreich. Die Reform zielte darauf ab, meine Kandidatur zu verhindern. Verabschiedet wurden rückwirkende Gesetze, die Justiz wurde der Kontrolle der Regierung unterworfen. Ecuador hatte einst eines der vertrauenswürdigsten Justizsysteme in Lateinamerika, aber jetzt gehört es zu den korruptesten weltweit. Die organisierte Kriminalität hat den Staat durchdrungen.

In Mexiko haben Drogenkartelle den Staat infiltriert. Genaro García Luna, damals Minister für öffentliche Sicherheit, arbeitete für das Sinaloa-Kartell. In Ecuador geschieht vergleichbares. Wie kann der Staat von diesen Elementen der organisierten Kriminalität gereinigt werden?

Was Genaro Luna in Mexiko war, ist in Ecuador die Generalstaatsanwältin Diana Salazar, eine korrupte Person, von den USA unterstützt, um uns zu verfolgen, während sie das Verbrechen verschont. Sie hat keinen einzigen Anführer der organisierten Kriminalität ins Gefängnis gebracht. Ein handlungsfähiger Staat, der dagegen vorgehen könnte, ist seit 2018 Stück für Stück zertrümmert worden. Gegen die Narco-Mafia braucht es eine internationale Koordination. Denn die Drogen kommen aus Anbaugebieten wie Putumayo in Kolumbien. 2014, während meiner Regierungszeit, hatten die Vereinten Nationen Ecuador zum drogenfreien Anbauland erklärt. Doch dieser Erfolg wurde zunichte gemacht. Gegen die Drogen, die aus Putumayo kommen, und gegen die Waffen, die aus Peru kommen, wird nichts unternommen. Es wird nichts unternommen, um die Geldflüsse zu untersuchen, und eine Kooperation mit den Zielhäfen, etwa in Antwerpen oder Rotterdam, gibt es auch nicht. Das ist nicht bloß auf Unfähigkeit zurückzuführen, es mangelt auch am Willen.

In Ecuador herrscht weitgehend Einigkeit über das Versagen von Daniel Noboa, insbesondere was seine Wirtschaftspolitik angeht. Während die Sicherheitspolitik auf eine gewisse Akzeptanz stößt, ist die Ablehnung seiner neoliberalen Vorstöße groß. Wie sähe das wirtschaftspolitische Programm einer progressiven Regierung in Ecuador aus?

Es geht nicht nur darum, was Noboa gemacht, sondern auch, was er unterlassen hat. Seine Regierung ist völlig unfähig. Unter normalen Umständen erhielte er bei der kommenden Wahl nicht mehr als sechs bis acht Prozent der Stimmen. Trotzdem kommt er in Umfragen immer auf mindestens 30 Prozent Zustimmung. Das ist schwer zu verstehen. Klar, es gibt eine permanente Propagandakampagne. Allein für eines seiner fünf Facebook-Konten gibt er etwa 200.000 US-Dollar pro Monat aus. Die wiederum sind verknüpft mit anderen Social-media-Plattformen. Geschätzt investiert er mindestens zwei Millionen Dollar monatlich in soziale Netzwerke. Noboa ist der Sohn des reichsten Mannes des Landes, eines Bananenmagnaten, eines Ausbeuters und Steuerhinterziehers. So einer kauft die Medien und wird von den privaten Unternehmen unterstützt. Um die Wirtschaft Ecuadors wieder voranzubringen, müssen die staatlichen Kompetenzen wiederhergestellt werden, müssen die öffentlichen Investitionen steigen. Unter meiner Regierung gab es die höchste öffentliche Investitionsquote in Lateinamerika. Sie belief sich mal auf 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Infrastruktur in Ecuador war einmal die beste in Lateinamerika. Im Gegensatz zu den Behauptungen mancher Wirtschaftsfakultäten führen öffentliche Investitionen nicht zur Verdrängung privater. Sie ziehen private Investitionen an. Aber derzeit gibt es keine öffentlichen Investitionen. Die Einnahmen aus der Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von zwölf auf 15 Prozent wurden verwendet, um die Auslandsschuld zu begleichen – alles für ein Eigeninteresse, nicht für das Gemeinwohl.

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Rafael Correa

Artikel 5 der ecuadorianischen Verfassung verbietet die Errichtung US-amerikanischer Militärstützpunkte auf ecuadorianischem Boden, aber Noboa hat die militärische Allianz mit den USA verstärkt und spricht sogar von der Möglichkeit, diesen Artikel zu ändern, falls er die anstehenden Wahlen gewinnt. Welche Rolle spielen die USA in Ecuador?

Noboa wird sicherlich eine manipulierte Volksabstimmung durchführen, um das Volk zu überzeugen, dass US-amerikanische Militärstützpunkte zum Nutzen des Landes sind. Dabei ging es Ecuador nie besser als nach dem Abbau der US-Basis aus Manta im Jahr 2009. Das war kein Vertragsbruch, und ich habe auch nicht die Spielregeln geändert. Der Vertrag mit den USA war 1999 von einer ultraliberalen Regierung unter Jamil Mahuad für die Dauer von zehn Jahren unterzeichnet worden. 2009 habe ich dann als Präsident gesagt: »Danke, aber ich werde diesen Vertrag nicht verlängern.« Mit dem Abzug der US-Soldaten wurde Ecuador von den Drogen befreit und entwickelte sich zum Vorbild für Lateinamerika, was die innere Sicherheit angeht. Gegenwärtig wird aber behauptet, wir hätten damals Vereinbarungen mit den Drogenkartellen getroffen. Dabei ist Ecuador aktuell der größte Exporteur von Kokain weltweit, besonders nach Europa. Wir hatten die Drogenproblematik ohne ausländische Militärbasen im Griff.

Seit dem Machtantritt von Moreno 2017 werden die Anhänger der zivilen Revolution, die Anhänger Ihrer Bewegung ununterbrochen verfolgt. Einige mussten ins Exil gehen, Jorge Glas, der ehemalige Vizepräsident, wurde im eigenen Land entführt infolge eines beispiellosen Angriffs auf die mexikanische Botschaft, wo er Schutz gesucht hatte. Angenommen, Luisa González, die in Ihrer Regierung gearbeitet hat und jetzt gegen Noboa kandidiert, gewinnt die Wahlen. Wird das rechte Lager ein solches Ergebnis akzeptieren?

Zum ersten Aspekt. Unsere Bewegung ist Opfer einer brutalen Verfolgung, Opfer einer Lawfare-Kampagne. Ecuador ist ein Land, das nicht so sehr im Fokus steht wie Brasilien. Doch der Fall Glas ist genauer besehen gravierender als der Fall Lula. Ein ehemaliger Vizepräsident der Republik wird ohne jeglichen Beweis in einen Hochsicherheitstrakt eingesperrt, während diejenigen, die wirklich korrupt sind, weiterhin frei herumlaufen. Die Korruptionsvorwürfe gegen Glas sind frei erfunden. Ich wiederum wurde in 55 Fällen angeklagt, und in einem dieser Fälle zusammen mit 18 anderen Personen und Unternehmern, die ich nicht einmal kenne, wegen angeblicher Bestechungsgelder auch verurteilt, ohne dass es Beweise gegeben hätte. Das Gericht behauptete, ich hätte eine Organisation geleitet, die Bestechungsgelder gesammelt hat. Fünf Länder haben mir politisches Asyl gewährt: Argentinien unter dem ehemaligen Präsidenten Alberto Fernández, Venezuela unter Nicolás Maduro, Mexiko unter López Obrador und auch Belgien. Belgien gewährt kein politisches Asyl im Fall von Korruption, die indirekte Begründung lautet also: Korrupt sind die anderen. Kanada hat mir ebenfalls Asyl angeboten. Interpol hat dreimal meinen internationalen Haftbefehl abgelehnt. Es ist also offensichtlich, dass die Verfolgung politisch motiviert ist. Dennoch hört die Diffamierung gegen uns nicht auf. Das ist die Taktik der Rechten, sich das Land zu nehmen, weil sie wissen, dass sie in jedem offenen Wahlkampf gegen uns verlieren würden.

Was erwarten Sie, wenn Sie die Wahl gewinnen? Würde die Rechte den Wahlsieg akzeptieren?

Unsere Gegner sind zu allem bereit, um zu verhindern, dass wir gewinnen. Sie wissen, dass ich, sollte ich nach Ecuador zurückkehren, alle Wahlen gewinnen würde. Ihre Taktik ist es, meine Rückkehr zu verhindern und die politische Bewegung zu schwächen. Trotz allem erhalten wir vom ecuadorianischen Volk enorme Unterstützung. Der Rückhalt ist riesig. Wir sind ohne Zweifel die stärkste politische Partei des Landes. Wenn jetzt gewählt würde, würden wir die erste Runde gewinnen. Es bleibt abzuwarten, mit welchen neuen Lügen unsere Gegner aufwarten. 2021 behaupteten sie, wir hätten die ELN in Kolumbien finanziert, machten gefakte Videos, brachten den kolumbianischen Staatsanwalt nach Ecuador, aber passiert ist nichts. Ecuador ist in der geopolitischen Arena offenbar wichtiger, als ich das lange eingeschätzt habe. Wir haben ein sehr erfolgreiches linkes Projekt aufgebaut, und unsere Gegner wehren sich mit aller Macht dagegen, politische Alternativen zuzulassen. Wir müssen uns also sorgen, dass sie einen möglichen Wahlsieg unsererseits nicht akzeptieren werden.

Welche Wahlstrategie verfolgen Sie?

Wir haben die Präsidentschaftswahlen 2021 nur sehr knapp verloren, und auch 2023 hätten wir sie fast gewonnen. Damals hat das Regierungslager sogar einen Oppositionskandidaten ermordet und uns die Schuld dafür gegeben. Unsere wichtigsten Führer wurden alle verfolgt, alle befinden sich im Exil. 2021 haben sie uns unsere Partei genommen, so dass wir eine neue gründen mussten. Wir begannen mit dem »Centro Democrático« und erst vor zwei Jahren haben wir es geschafft, eine eigene Partei zu bilden, die »Revolución Ciudadana« heißt. Unter diesen Bedingungen sollten sich alle fragen, wie uns ein politisches Überleben geglückt ist. Unter den herrschenden Bedingungen haben wir bisher sehr gut abgeschnitten. Manchmal liegt es nicht an den politischen Akteuren, sondern an den Wählern und der politischen Kultur Ecuadors. Ich rufe daher das ecuadorianische Volk dazu auf, reflektierter zu wählen, sich nicht von den neuesten Moden treiben zu lassen und die Lügen nicht zu banalisieren. Es geht um die Gegenwart und vor allem um die Zukunft des Landes. Ecuador ist zerstört. Was werden wir tun, um die Wahlen zu gewinnen? Dasselbe, was wir immer getan haben: die Wahrheit sagen, Lösungen für das Land im Rahmen von Gerechtigkeit und Würde anbieten, ohne ideologischen Fundamentalismus. Glauben Sie mir, wenn der Neoliberalismus die Lösung wäre, wäre ich ein Neoliberaler. Was mich interessiert, ist das Wohl der Menschen. Welchen Sinn hat es, von Neoliberalismus zu sprechen in einer Weltregion mit der größten Ungleichheit, wenn Tausende in Elendsvierteln geboren werden? Wir müssen zunächst Chancengleichheit schaffen, für Gerechtigkeit sorgen. Wir müssen etwas Neues ausprobieren. Immerzu wird gefragt, in welchem Land der Sozialismus denn bitte schön funktioniert hat, aber das ist nicht die richtige Frage. In Lateinamerika lautet die richtige Frage eher: In welchem Land hat der liberale Kapitalismus funktioniert? Seit 200 Jahren ist Ecuador unabhängig, aber kein lateinamerikanisches Land hat sein niedriges Entwicklungsniveau bisher überwunden. Das ärmste Land der Welt ist ein lateinamerikanisches Land: Haiti. Dort herrschen liberaler Kapitalismus und liberale Demokratie mit allen formalen westlichen Institutionen. Wir müssen etwas Neues, Besseres erfinden. Das ist die Botschaft, die wir vermitteln wollen, aber wir halten uns an den demokratischen politischen Pakt. Die Wähler müssen ihren Teil erfüllen: reflektiert und verantwortungsbewusst wählen und nicht für irgendeinen Unsinn stimmen.

Am 9. Februar sind mehr als 13 Millionen Ecuadorianer zur Wahl aufgerufen. Der derzeitige Präsident, der Bananenunternehmer Daniel Noboa, tritt gegen die Kandidatin der Bürgerrevolution, Luisa González, an. Möglich, dass die Bewegung des linken Expräsidenten Rafael Correa das Land zurückerobern könnte. Correa regierte während seiner Präsidentschaft von 2007 bis 2017 auf der Basis eines Programms der wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit. Verfolgt von den neuen Machthabern, lebt er seit 2017 im belgischen Exil. Im Rahmen seiner Sendung bei Canal Red sprach Pablo Iglesias, ehemaliger Vizeregierungschef Spaniens, mit Correa. Das Video veröffentlichte der Internetsender am 9. Januar. Das Interview wurde mit freundlicher Genehmigung von Canal Red und Pablo Iglesias von Carmela Negrete verschriftlicht und übersetzt

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