Das Herz am linken Fleck
Von Florian Neuner![10.jpg](/img/450/205350.jpg)
Er ist der letzte Überlebende der legendären Wiener Gruppe, die sich Mitte der 50er Jahre formierte und in der österreichischen Hauptstadt mit einem kulturellen Klima zu kämpfen hatte, das von der Kontinuität des Faschismus geprägt war. Gerhard Rühm und seine Freunde H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener mussten sich mühsam die Quellen der Avantgarden, der Expressionisten, Surrealisten und Futuristen erschließen, die das Naziregime als »entartete Kunst« bekämpft und mit deren Rehabilitierung es das offizielle Kulturleben im Nachkriegsösterreich nicht eilig hatte. Die jungen Künstler eroberten sich gemeinsam die progressive Kunst, die ihnen vorenthalten werden sollte, schufen Gemeinschaftsarbeiten und traten mit den happeningartigen »literarischen cabarets« an die Öffentlichkeit.
Dabei schien Gerhard Rühm, dem Sohn eines Wiener Philharmonikers, zunächst eine Musikerlaufbahn vorgezeichnet. Er studierte Klavier, einer seiner Mitstudenten an der Wiener Musikhochschule hieß Friedrich Gulda. Bald entdeckte Rühm den an der Musikhochschule damals noch verpönten Jazz ebenso für sich wie die Musik der Schönberg-Schule. Als Privatschüler studierte er bei dem Schönberg-Antipoden Josef Matthias Hauer. Nach kompositorischen Anfängen, die auch traditionelle Vokalmusik umfassten, fand er bald zu experimentellen Ansätzen, komponierte Eintonmusik und arbeitete an der Verbindung von Zwölftontechnik und Jazz. In Kellertheatern sorgte der junge Rühm für Bühnenmusik und verdient sich so ein Zubrot. Mit der Wiener Gruppe trat dann die Literatur in den Mittelpunkt der künstlerischen Aktivitäten – freilich verstanden als grenzüberschreitendes Medium.
An der Grenze zur Musik entsteht Lautdichtung (in Rühms Terminologie »auditive poesie«), an der Grenze zur bildenden Kunst »visuelle poesie«. Gerhard Rühms experimenteller Ansatz wird bis heute befeuert von permanenten Grenzüberschreitungen, durch die Übertragung von Methoden einer Gattung in die andere. Der Dichter, Komponist und bildende Künstler kreiert »visuelle musik« (Zeichnungen auf Notenpapier), lässt mit seinem Schreib- und Zeichengerät »bleistiftmusik« erklingen und schreibt »tondichtungen«, in denen Texte in Notentexte »übersetzt« werden wie im »leben chopins«, in dem ein biographischer Text über den Komponisten in ein Klavierstück transformiert wird. Rühm collagiert aber auch mit Zeitungsausrissen und Bildmaterial der unterschiedlichsten Provenienz und ist als Hörspielautor einer der wichtigsten Protagonisten des »Neuen Hörspiels« und legt mit »textall« (1993) einen »utopischen roman« vor.
Rühm und seinen Freunden war bald klar, dass sie im Kulturleben Österreichs nichts werden konnten. Einzig mit ihrem radikal neuen Ansatz in der Dialektdichtung erregten sie ein gewisses Publikumsinteresse, zu »hosn rosn baa« (1959) mit Texten von Achleitner, Artmann und Rühm schrieb Heimito von Doderer ein Vorwort. Längst haben sie Kontakte zu »Konkreten« in der Schweiz und in der Bundesrepublik geknüpft, die Insel Westberlin bietet sich als Zufluchtsort an. Dort war Rühm zeitweise Teil einer »österreichischen Exilregierung«, von der die Zeitschrift Die Schastrommel herausgegeben wurde, in Berlin kam es auch zu Kooperationen mit Dieter Roth (»Selten gehörte Musik«). In Westdeutschland konnte Rühm endlich radiophone Arbeiten umsetzen, im Rowohlt-Verlag 1967 den Band »Die Wiener Gruppe« herausgeben, der diese in der Geschichte der Neoavantgarden verankerte.
Im Rückblick scheint der Weg vom Underground bis zum Staatskünstler (Rühm ist unter anderem Mitglied des Österreichischen Kunstsenats) gar nicht so lang gewesen zu sein; von 1972 bis 1995 unterrichtete Rühm an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste in Hamburg. In einem Alter, in dem andere nur noch mit der Verwaltung ihres Nachruhms beschäftigt sind, ist Rühm, der nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren wieder vorwiegend in Wien lebt, erstaunlich produktiv geblieben. In der Neuen Galerie in Graz wird im April der bildende Künstler Gerhard Rühm in einer umfangreichen Ausstellung gewürdigt, und in diesen Tagen erscheint ein Buch, in dem er auf Schreibverfahren zurückkommt, die schon in der Wiener Gruppe eine Rolle gespielt haben; Rühm spricht von einem »methodengeleiteten Surrealismus«. Die Filmemacherin Martina Kudláček hat Listen erstellt, die Rühm als Ausgangsmaterial für seine Prosaminiaturen dienten. In den auf zehn Bände angelegten »gesammelten werken«, die seit 2005 erscheinen, wird es dereinst einen dicken Band mit Nachträgen geben müssen.
Gerhard Rühm/Martina Kudláček: zugvögel – 36 prosa-miniaturen + eine zugabe. Ritter-Verlag, Klagenfurt 2025, 100 Seiten, 25 Euro
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