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Aus: Ausgabe vom 12.02.2025, Seite 11 / Feuilleton
Soziologie

Dialektisch denken

Zum Tod des Soziologen Richard Sorg
Von Martin Küpper
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Begreifen, um zu verändern: Richard Sorg

Der Ort Bečmen liegt in einer Landschaft zwischen Donau und Save im heutigen Serbien. Bereits im 17. Jahrhundert siedelte die österreichisch-ungarische Herrschaft hier Deutsche an, die in der Landwirtschaft und als Handwerker tätig waren. Als die Wehrmacht 1941 innerhalb weniger Tage einmarschierte, wurde ein kroatischer Satellitenstaat unter Führung der faschistischen Ustascha errichtet. Die dort lebenden Deutschen wurden zu einer »Volksgruppe« mit eigenen Rechten erhoben und erhielten sogar eigene bewaffnete Einheiten, die der kroatische Staat teilweise an die Wehrmacht abtrat. Als 1944 die Partisanen und die Rote Armee vorrückten, wurden die Deutschen evakuiert. Unter den Evakuierten befand sich auch Richard Sorg, der 1940 in Bečmen geboren worden war. Er starb am 4. Februar 2025.

Die Flucht führte ihn über Österreich nach Ronshausen in Nordhessen, wo er aufwuchs. Mit dem Abitur in der Tasche begann Sorg 1960 ein Studium der evangelischen Theologie und Philosophie in Tübingen, das er in Westberlin und Zürich fortsetzte und schließlich in Marburg abschloss. Von Wissensdurst getrieben und der Atmosphäre der Stadt angeregt, begann er nach dem Theologieexamen im »roten Marburg« am berühmten Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, dem Zentrum der Abendroth-Schule, Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie zu studieren. 1973 wurde er vom Soziologen Heinz Maus zum Thema »Marxismus und Protestantismus« promoviert. Das Rigorosum nahmen der Politikwissenschaftler Frank Deppe und der Philosoph Hans Heinz Holz ab.

Seine Interessen lagen also zwischen Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie. Und so saß er als wissenschaftlicher Mitarbeiter auch zwischen den Stühlen. Während die Mitglieder der zweiten Generation der Abendroth-Schule die Philosophie eher als Behelf für Politik betrachteten, war für Holz der Marxismus in erster Linie eine Philosophie. Die inhaltlichen Differenzen konnten durch die politische Nähe nicht immer überbrückt werden. So wurde ein gemeinsames Vorgehen weniger in hochschul- und gewerkschaftspolitischen Fragen als im Kampf gegen die Zeitschrift Das Argument um Wolfgang Fritz Haug oder die kritische Theorie in Frankfurt erreicht. Die Gegner spöttelten über diese »rote Kaderschmiede«. Sorg war einer dieser Kader, und obwohl sein Interesse eher der Philosophie galt, trat er 1978 eine Professur an der Fachhochschule Wiesbaden an, die er 1985 gegen eine Professur für Allgemeine Soziologie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg eintauschte, die er bis zu seiner Emeritierung 2005 innehatte und wo er bis zuletzt mit seiner Frau, der Musikwissenschaftlerin Beatrix Borchard, lebte.

Sorg kann nicht als »Hansdampf in allen Gassen« bezeichnet werden. Sein breit gefächertes Interesse spiegelt sich in einem umfangreichen Werk wider. Der zuletzt erschienene Sammelband »Begreifen, um zu verändern« (2021) gibt darüber Auskunft. Darin finden sich profunde Beiträge zur Dialektik, Soziologie, Politik, sozialen Arbeit und Musik. Mit der Dialektik verbindet er die Position, dass sie seit den Anfängen der Philosophie »eine bestimmte Auffassung der Wirklichkeit sowie (…) eine Methode des Begreifens der Wirklichkeit« bezeichnet. Die Formbestimmtheit der Wirklichkeit sei eine in sich strukturierte, zeitlich determinierte, wissenschaftlich erfassbare. Kurz: Wirklichkeit ist widersprüchlich. Der Widerspruch bezeichnet eine übergreifende Einheit. Sie besteht erstens aus Gegensätzen. Diese bilden zweitens eine Einheit, indem sie einander ausschließen und zugleich bedingen. Diese Einheit der Gegensätze bildet drittens mit den Gegensätzen die übergreifende Einheit. Die wissenschaftliche Theorie ist dann nicht nur ein in Sprache gegossener Ist-Zustand der Welt, sondern sie liefert das ideelle Rüstzeug für ein revolutionäres Programm der Praxis. Denn wenn sich die Wirklichkeit verändert, kann sie auch verändert werden, weil die Wissenschaft zeigt, wo die Bedingungen der Veränderung wie des zu Verändernden liegen.

Eine solche Sicht öffnet freilich auch den Blick auf die Theorielandschaft. Denn auch die entlegensten Positionen sind dann Teil eines Ganzen, das sie überwölbt. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Sorg stets bemüht war, die Pole des marxistischen Diskurses – wie Haug und Holz – zu vermitteln. Das war sicher auch eine Lehre aus den Marburger Jahren, als die politischen Kämpfe untereinander »sehr viele Kräfte gekostet haben«, wie er noch viele Jahre später klagte.

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