Dein roter Faden in wirren Zeiten
Gegründet 1947 Sa. / So., 29. / 30. März 2025, Nr. 75
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Dein roter Faden in wirren Zeiten Dein roter Faden in wirren Zeiten
Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 18.02.2025, Seite 4 / Inland
»Siko« 2025

Alptraum Europas

Auf Äußerungen der US-Regierung bei der Münchner »Sicherheitskonferenz« folgen brüske Reaktionen
Von Karim Natour
4.jpg
Transatlantische Freundschaft? – Frank-Walter Steinmeier begrüßt J. D. Vance in München (14.2.2025)

Der Schock sitzt tief. Die Ankündigung von Ukraine-Friedensverhandlungen zwischen den USA und Russland ohne westeuropäische Beteiligung sowie der »Affront« durch den US-amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance bei der Münchner »Sicherheitskonferenz« am Freitag hat das europäische Politestablishment schwer verunsichert. Entsprechend schroff fielen die Reaktionen aus. »Was dort gesagt wurde, ist völlig unakzeptabel«, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag abend im RTL-»Quadrell« der Kanzlerkandidaten von SPD, Union, Bündnisgrünen und AfD in bezug auf die Rede des US-Vizepräsidenten. »Und ich verbitte mir solche Einmischungen in die deutsche Bundestagswahl – und auch in die Regierungsbildung danach.«

In seiner Rede hatte Vance einen Verlust von Demokratie und Meinungsfreiheit in Europa bemängelt und die Ausgrenzung von Parteien kritisiert. Auch der CDU/CSU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz kritisierte den Auftritt. »Ich lasse mir doch nicht von einem amerikanischen Vizepräsidenten sagen, mit wem ich hier in Deutschland zu sprechen habe«, sagte Merz in der Sendung. Der bisherige »Siko«-Chef Christoph Heusgen zog ein ernüchterndes Fazit. Die Veranstaltung sei ein »europäischer Alptraum« gewesen, erklärte Heusgen am Sonntag abend im ZDF-»Heute-Journal«. »Gleichzeitig war das auch eine sehr klärende Konferenz«, fügte der ehemalige Diplomat hinzu. In bezug auf etwaige Ukraine-Friedensverhandlungen erklärte Heusgen, in Europa müsse man »sehr viel mehr Stärke zeigen«.

Indessen hielt Scholz die Diskussion über die Entsendung von europäischen Truppen in die Ukraine nach einem Waffenstillstand für »verfrüht«. Am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Kassel sagte er am Montag, es gehe viel mehr um die Frage, wie Frieden in der ­Ukraine gewährleistet werden könne, ohne dass über die Köpfe von Ukrainern hinweg entschieden werde. Im Mittelpunkt müsse »eine sehr starke ukrainische Armee« stehen, »auch in Friedenszeiten«. Europa müsse »stark, souverän, mit geradem Rücken die Herausforderungen der Zukunft« bewältigen – also auch ohne Hilfe aus Übersee die Ukraine unterstützen. Die Kosten für einen Wiederaufbau des Landes, von denen laut Donald Trump ein Großteil von den EU-Mitgliedstaaten zu tragen sind, werden aktuell auf rund drei Billionen US-Dollar geschätzt.

Auch sonst waren die Reaktionen auf den Kurswechsel der USA in der Ukraine-Politik brüsk. Olexij ­Makejew, Botschafter der Ukraine in Deutschland, kritisierte am Sonntag in der ARD-Sendung »Miosga« die geplanten Friedensverhandlungen. »Wir brauchen keine Vermittler, wir brauchen Verbündete«, so Makejew. Der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München bemühte erneut einen Vergleich mit Nazideutschland. Wenn man glaube, dass man den russischen Präsidenten Wladimir Putin »zufriedenstelle«, wenn man ihm »all das gibt, was er will«, dann begehe man »den gleichen Fehler wie 1938« – wenn »man den Nazis das Sudetenland gibt, dann ist Ruhe«. Norbert Röttgen (CDU) verkündete in der Sendung, »europäische Sicherheit in Zeiten von Krieg in Europa ist ab diesem Wochenende eine allein europäische Aufgabe«.

Die Direktorin des Washingtoner Instituts »Center on the United States and Europe« (CUSE) bei der ­Brookings Institution, Constanze Stelzenmüller, sprach aus, was dem neuen Ansatz des Weißen Hauses vermutlich zugrunde liegt: »Vielleicht überlegt sich in der Trump-Administration jemand, dass dieses Vorgehen eine Möglichkeit sei, die Russen von den Chinesen abzutrennen«, spekulierte die Publizistin. In München hatte Vance »die Europäer« dazu aufgefordert, ihre Rüstungsausgaben zu erhöhen, damit sich die US-Amerikaner auf »andere Weltgegenden« konzentrieren könnten.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

  • Leserbrief von Christian Helms aus Dresden (20. Februar 2025 um 12:34 Uhr)
    Mit dem Strategiewechsel der Trump-Administration sind die politischen Eliten Europas offensichtlich überfordert. Dabei war er abzusehen. Denn nachdem die US-Administrationen ein gemeinsames Haus Europa von Wladiwostok bis Lissabon erfolgreich sabotiert haben, ein wirtschaftlich starkes und politisch selbstbewusstes Europa verhinderten, in Europa so ihren Hegemonieanspruch sicherten, war ihr Strategiewechsel absehbar. Für die Trump-Administration gilt es jetzt, Putin außenpolitisch aufzuwerten, ihm in der Ukrainefrage Zugeständnisse zu machen, um ihn davon abzuhalten, sich China weiter anzunähern. Wird doch China von den USA als der entscheidende Konkurrent um die globale Vorherrschaft gesehen. Eine stärkere wirtschaftliche und militärische Russland-China-Allianz liegt deshalb nicht im Interesse der USA. Für die EU jedoch wurde ihre »Nibelungentreue«, die Aufgabe eigener Interessen zu Gunsten US-amerikanischer Interessen zum Desaster. Über nunmehr drei Jahre hinweg hat sie folgsam mit den USA die Ukraine in immer größerem Umfang aufgerüstet, ukrainische Militärs an westlichen Waffensystemen ausgebildet, umfangreiche Finanzhilfen gewährt, sich gleichzeitig diplomatischen Lösungen des Konfliktes verweigert. In der trügerischen Hoffnung, »Russland zu ruinieren«, wie die deutsche Außenministerin in völliger Verkennung der Tatsachen frohlockte. Das Gegenteil ist eingetreten. Während Russland die immer wieder verschärften Sanktionen bisher locker wegsteckt, leidet die europäische, insbesondere die deutsche Wirtschaft, unter ihnen. Ungleich schwerer wiegen jedoch der Tod hunderttausender Menschenleben auf beiden Seiten sowie eine verwüstete, demoralisierte und traumatisierte Ukraine. Angesichts des im Detail noch nicht überschaubaren Strategiewechsels und der schmerzlichen Erfahrung ihrer eignen, sehr begrenzten weltpolitischen Bedeutung ringen die überforderten politische Eliten Europas um eine gemeinsame Positionierung zu den USA und zum Ukraine-Konflikt. Entsprechend hektisch folgt eine Konferenz auf die andere.
  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (19. Februar 2025 um 14:12 Uhr)
    Beim Thema Wiederaufbau der Ukraine wird immer unterschlagen, dass die Zerstörungen zu 80 bis 90 Prozent die russischsprachigen Regionen im Osten und Süden des Landes betrafen, die allein Russland wird wieder aufbauen müssen. Denn ihre Abtretung ist wohl nach zehn Jahren der Verfolgung alles Russischen in der »Nesaleschna« unabdingbar.
    Und was Frau Stelzenmueller vermutet, sieht doch ein Blinder mit ’nem Krückstock! »Jemand« also könnte sich überlegen, »die Russen von den Chinesen abzutrennen«. Wer wohl? Es ist doch nur die Umkehrung des Vorgehens von Richard Nixon in den späten Siebzigerjahren, als China gegen die UdSSR in Stellung gebracht werden sollte! Moskau hielt damals z. B. den Bau der »Baikal-Amur-Magistrale« (BAM) für dringend erforderlich – wegen der vermuteten Gefahr für die »Transsib«. China wurde allerdings letztlich um die friedliche Wiedervereinigung mit Taiwan geprellt, ähnlich könnte es Russland mit den russischsprachigen Gebieten der Ukraine gehen. Denn Trump will die europäischen NATO-»Verbündeten« in die Spur schicken, und zumindest die Verbündeten des (ersten) Krimkrieg es 1853-56 und der Suezaggression 1956, Frankreich und Britannien, wären durchaus bereit, mal wieder die Russen zu bekämpfen.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. Februar 2025 um 10:01 Uhr)
    Ein Spiegel für Brüssel. Die Rede des US-Vizepräsidenten J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz war nichts anderes als ein Spiegel, den er den EU-Machthabern vorhielt. Doch anstatt sich der unbequemen Realität zu stellen, reagierten sie empört. Sie scheinen noch immer nicht zu begreifen, dass sie in ihrer Politik längst verkehrt herum auf dem Pferd sitzen – und schlimmer noch: dass sie ein totes Pferd reiten! Doch genau darüber spricht niemand. Dabei kennen die Amerikaner eine Weisheit der Ureinwohner: »Wenn du ein totes Pferd reitest, steige ab.« Vielleicht wäre es an der Zeit, dass Europa diesen Rat beherzigt.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (18. Februar 2025 um 02:13 Uhr)
    Scholz: »...... ohne dass über die Köpfe von Ukrainern hinweg entschieden werde «. Das ist bereits mit SPD-Beteiligung geschehen. Der Bock möchte der Gärtner sein. Obwohl die ukrainische Verfassung eine Neutralität der Ukraine vorschrieb, obwohl der stark überwiegende Teil der Bevölkerung der Ukraine damals gegen eine Mitgliedschaft in der NATO war, obwohl sich selbst Angela Merkel und der französische Präsident zunächst gegen eine NATO-Mitgliedschaft dieses Landes wandten, ließen sie sich auf Druck der USA 2008 umstimmen. Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens wurde zum Ziel erklärt und mit der gesteigerten Finanzierung von NGO zu diesem Zweck begonnen. Victoria Nuland: »Wir haben in die Ukraine fünf Milliarden Dollar investiert. «Welche Kraft die Jahre lange Wühltätigkeit der auch aus Deutschland finanzierten NGO hatte, sah man dann beim Maidan 2014 in Kiew und sieht es nun in Georgien. Es gab durchaus Unzufriedenheit mit der Politik des gewählten Präsidenten Janukowitsch, aber im Osten der Ukraine auch eine Zustimmung, welche ihm die Wählerstimmen verlässlich sicherte. Die Stiftungen von SPD, CDU, Grünen und FDP waren am Umsturz in Kiew fördernd mit beteiligt, Herr Westerwelle (FDP) hielt dort sogar Reden und half, die Wählerstimmen und das Wahlergebnis bei der Wahl des rechtmäßigen ukrainischen Präsidenten zu annullieren, alles über die Köpfe der Ukrainer hinweg. Die USA legten fest, wer dort Regierungschef wird (»fuck the EU«). Eine CDU/CSU/SPD-Regierung in Deutschland anerkannte 2014 sofort das Putschistenregime in Kiew, über den Kopf der Wähler der Ukraine hinweg und trägt somit eine Mitschuld am anschließend entstehenden Bürgerkrieg von 2014 bis 2022 mit allen seinen Folgen. Die Ukrainer dürfen seit langem nicht wählen, nahezu alle Oppositionsparteien sind verboten und zahlreiche ihrer Repräsentanten in Haft. Dieses Regime wird von der Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien unterstützt. Ukrainer werden nicht gefragt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (17. Februar 2025 um 19:59 Uhr)
    Die Rede von Vizepräsident Vance klang wie ein Aufruf zu mehr Demokratie und weniger Ausgrenzung. Dem könnte man gut und gerne zustimmen. Aber ist nicht eigentlich ein Ende der Ausgrenzung der politischen Ultrarechten in Europa gemeint? In den USA sind jetzt Kräfte am Werke, vor deren Visionen man durchaus Angst haben sollte. Und wir wissen: »Gleich und gleich gesellt sich gern«. Das Treffen von Vance mit Frau Weidel signalisiert ziemlich deutlich, wohin die Reise der »Demokratisierung« wirklich gehen soll. Meloni, Le Pen und Kickl dürften nicht annähernd so finster und betroffen schauen wie die Teilnehmer der Münchener Sicherheitskonferenz. Dort hatte man erwartet, dass Russland und China geprügelt werden. Dass man selbst Prügel einstecken musste, kam unerwartet. Denn welcher Radikale lässt sich schon gerne sagen, dass er nicht radikal und gerissen genug sei?

Ähnliche: