Alptraum Europas
Von Karim Natour
Der Schock sitzt tief. Die Ankündigung von Ukraine-Friedensverhandlungen zwischen den USA und Russland ohne westeuropäische Beteiligung sowie der »Affront« durch den US-amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance bei der Münchner »Sicherheitskonferenz« am Freitag hat das europäische Politikestablishment schwer verunsichert. Entsprechend schroff fielen die Reaktionen aus. »Was dort gesagt wurde, ist völlig unakzeptabel«, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag abend im RTL-»Quadrell« der Kanzlerkandidaten von SPD, Union, Bündnisgrünen und AfD in bezug auf die Rede des US-Vizepräsidenten. »Und ich verbitte mir solche Einmischungen in die deutsche Bundestagswahl – und auch in die Regierungsbildung danach.«
In seiner Rede hatte Vance einen Verlust von Demokratie und Meinungsfreiheit in Europa bemängelt und die Ausgrenzung von Parteien kritisiert. Auch der CDU/CSU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz kritisierte den Auftritt. »Ich lasse mir doch nicht von einem amerikanischen Vizepräsidenten sagen, mit wem ich hier in Deutschland zu sprechen habe«, sagte Merz in der Sendung. Der bisherige »Siko«-Chef Christoph Heusgen zog ein ernüchterndes Fazit. Die Veranstaltung sei ein »europäischer Alptraum« gewesen, erklärte Heusgen am Sonntag abend im ZDF-»Heute-Journal«. »Gleichzeitig war das auch eine sehr klärende Konferenz«, fügte der ehemalige Diplomat hinzu. In bezug auf etwaige Ukraine-Friedensverhandlungen erklärte Heusgen, in Europa müsse man »sehr viel mehr Stärke zeigen«.
Indessen hielt Scholz die Diskussion über die Entsendung von europäischen Truppen in die Ukraine nach einem Waffenstillstand für »verfrüht«. Am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Kassel sagte er am Montag, es gehe viel mehr um die Frage, wie Frieden in der Ukraine gewährleistet werden könne, ohne dass über die Köpfe von Ukrainern hinweg entschieden werde. Im Mittelpunkt müsse »eine sehr starke ukrainische Armee« stehen, »auch in Friedenszeiten«. Europa müsse »stark, souverän, mit geradem Rücken die Herausforderungen der Zukunft« bewältigen – also auch ohne Hilfe aus Übersee die Ukraine unterstützen. Die Kosten für einen Wiederaufbau des Landes, von denen laut Donald Trump ein Großteil von den EU-Mitgliedstaaten zu tragen sind, werden aktuell auf rund drei Billionen US-Dollar geschätzt.
Auch sonst waren die Reaktionen auf den Kurswechsel der USA in der Ukraine-Politik brüsk. Olexij Makejew, Botschafter der Ukraine in Deutschland, kritisierte am Sonntag in der ARD-Sendung »Miosga« die geplanten Friedensverhandlungen. »Wir brauchen keine Vermittler, wir brauchen Verbündete«, so Makejew. Der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München bemühte erneut einen Vergleich mit Nazideutschland. Wenn man glaube, dass der russische Präsident Wladimir Putin sich »zufriedenstelle«, wenn man ihm »all das gibt, was er will«, begehe man »den gleichen Fehler wie 1938« – wenn »man den Nazis das Sudetenland gibt, dann ist Ruhe«. Norbert Röttgen (CDU) verkündete in der Sendung, »europäische Sicherheit in Zeiten von Krieg in Europa ist ab diesem Wochenende eine allein europäische Aufgabe«.
Die Direktorin des Washingtoner Instituts »Center on the United States and Europe« (CUSE) bei der Brookings Institution, Constanze Stelzenmüller, sprach aus, was dem neuen Ansatz des Weißen Hauses vermutlich zugrunde liegt: »Vielleicht überlegt sich in der Trump-Administration jemand, dass dieses Vorgehen eine Möglichkeit sei, die Russen von den Chinesen abzutrennen«, spekulierte die Publizistin. In München hatte Vance »die Europäer« dazu aufgefordert, ihre Rüstungsausgaben erhöhen, damit sich die US-Amerikaner auf »andere Weltgegenden« konzentrieren könnten.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. Februar 2025 um 10:01 Uhr)Ein Spiegel für Brüssel. Die Rede des US-Vizepräsidenten J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz war nichts anderes als ein Spiegel, den er den EU-Machthabern vorhielt. Doch anstatt sich der unbequemen Realität zu stellen, reagierten sie empört. Sie scheinen noch immer nicht zu begreifen, dass sie in ihrer Politik längst verkehrt herum auf dem Pferd sitzen – und schlimmer noch: dass sie ein totes Pferd reiten! Doch genau darüber spricht niemand. Dabei kennen die Amerikaner eine Weisheit der Ureinwohner: »Wenn du ein totes Pferd reitest, steige ab.« Vielleicht wäre es an der Zeit, dass Europa diesen Rat beherzigt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (17. Februar 2025 um 19:59 Uhr)Die Rede von Vizepräsident Vance klang wie ein Aufruf zu mehr Demokratie und weniger Ausgrenzung. Dem könnte man gut und gerne zustimmen. Aber ist nicht eigentlich ein Ende der Ausgrenzung der politischen Ultrarechten in Europa gemeint? In den USA sind jetzt Kräfte am Werke, vor deren Visionen man durchaus Angst haben sollte. Und wir wissen: »Gleich und gleich gesellt sich gern«. Das Treffen von Vance mit Frau Weidel signalisiert ziemlich deutlich, wohin die Reise der »Demokratisierung« wirklich gehen soll. Meloni, Le Pen und Kickl dürften nicht annähernd so finster und betroffen schauen wie die Teilnehmer der Münchener Sicherheitskonferenz. Dort hatte man erwartet, dass Russland und China geprügelt werden. Dass man selbst Prügel einstecken musste, kam unerwartet. Denn welcher Radikale lässt sich schon gerne sagen, dass er nicht radikal und gerissen genug sei?
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