Hannibal ante portas
Von Knut Mellenthin
Die Führung der israelischen Streitkräfte und das Büro des Premierministers streiten öffentlich über dessen Rolle am frühen Morgen des 7. Oktober 2023, wenige Stunden vor Beginn der Militäroperation aus dem Gazastreifen. Benjamin Netanjahus Leute widersprechen der Darstellung in einem Untersuchungsbericht der Armee, der am Donnerstag bekannt wurde. Diesem zufolge hatte Generalstabschef Herzl Halevi dem Sicherheitsverantwortlichen des Premierministers gegen 3.30 Uhr einen Bericht über mehrere Hinweise auf einen möglicherweise bevorstehenden Angriff der Hamas zugeleitet. Der Offizier entschied sich, Netanjahu nicht wecken zu lassen, da sich aus dem Bericht keine Dringlichkeit ergeben habe.
Netanjahus Büro rechtfertigte dies am Sonnabend mit der in dem Bericht enthaltenen Lageeinschätzung und beschuldigt Halevi, er versuche, die Verantwortung für die am 7. Oktober 2023 begangenen Fehler auf Untergebene abzuwälzen. Tatsächlich sah Israels Militärführung zu diesem Zeitpunkt offenbar keinen Grund für sofortige umfassende Gegenmaßnahmen und verschob eine Beratung auf die frühen Tagesstunden.
Der Wortlaut des Untersuchungsberichts ist bisher nicht veröffentlicht. Israelische Medien bekamen aber weitgehende Einblicke, die sie am Donnerstag in umfangreichen Artikeln darstellten. Die von Netanjahu geführte Regierungskoalition hat bisher alle Forderungen nach Einsetzung eines staatlichen Untersuchungsausschusses vehement abgeschmettert. Aus diesem Grund beschäftigt sich der Bericht ausschließlich mit den militärischen Aspekten des »Versagens«, aber nicht mit dem Verhalten der politisch Verantwortlichen.
Der Bericht geht drei Fragestellungen nach: erstens der Missachtung der vorliegenden Erkenntnisse über Angriffspläne der Hamas in den Jahren vor dem 7. Oktober 2023. Zweitens den Fehleinschätzungen der Armeeführung und der zuständigen Kommandeure in der Nacht zum 7. Oktober, als sich die Hinweise auf bevorstehende Aktivitäten aus dem Gazastreifen häuften. Drittens den operativen Entscheidungen am 7. Oktober, nachdem um 6.30 Uhr der Angriff am Boden, begleitet vom Abschuss Hunderter Raketen, begonnen hatte. Das meiste, was jetzt, systematisiert und bestätigt, vorliegt, war seit mehreren Monaten, teilweise schon unmittelbar nach dem 7. Oktober, durch mehr oder weniger tolerierte und teilweise vermutlich gesteuerte »Leaks« aus dem Militär bekannt.
Nichts Neues erfährt man aus den Darstellungen der israelischen Medien zur Praktizierung der »Hannibal-Direktive« am 7. Oktober 2023. Gemeint ist eine 1986 formal zusammengefasste Anweisung, die Entführung von Israelis durch bewaffnete Palästinenser »um jeden Preis« zu verhindern, notfalls auch mit militärischen Aktionen, durch die die Unversehrtheit und das Leben der Entführten riskiert würden. Die Direktive habe ursprünglich nur für Soldaten gegolten und sei am 7. Oktober 2023 erstmals auch auf Zivilpersonen angewendet worden, berichtete die rechte Tageszeitung Jerusalem Post am 27. Februar. So hätten Panzermannschaften auf Fahrzeuge geschossen, in denen sich möglicherweise israelische Geiseln befanden. Andere hätten Häuser auf israelischem Gebiet angegriffen, in denen sich neben palästinensischen Kämpfern auch Geiseln befanden, und nachweislich mehrere von diesen getötet. Mehrfach seien die Streitkräfte angewiesen worden, »alles niederzuschießen, was sich entlang der Grenze bewegte«. Piloten der Luftwaffe hätten aber gezögert, diese Befehle auszuführen, um keine Geiseln zu gefährden.
Wirklich neu ist das nicht, und genauer als bisher sind die Darstellungen auch jetzt nicht. Die linksliberale Tageszeitung Haaretz zum Beispiel hatte diese Vorgänge schon am 7. Juli vorigen Jahres mit vielen Einzelheiten beschrieben. Zum ersten Mal sei die Formel »Hannibal im Land« am 7. Oktober um 7.18 Uhr benutzt und der Einsatz einer bewaffneten Drohne angeordnet worden. Vermutlich wird nie aufgeklärt werden, wie viele Israelis an jenem Tag durch die eigenen Streitkräfte getötet wurden.
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