Chronik eines versunkenen Staates
Von Holger Teschke
Christoph Hein: Das Narrenschiff. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025, 750 Seiten, 28 Euro
Der neue Roman von Christoph Hein, »Das Narrenschiff«, beginnt 1949 mit der Begegnung der Schülerin Kathinka Lebinski mit dem Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, neben dem sie bei dessen Besuch in ihrer Schule als Klassenbeste sitzen darf. Von dieser Begegnung wird es später sogar eine Postkarte geben. Am Ende des Romans, vierzig Jahre später, zerreißt Kathinka diese Karte, aber nicht ohne vorher noch einen Abschiedskuss draufzudrücken.
Das ist der Zeitraum der großen Chronik, die Christoph Hein im 35. Jahr der »Deutschen Einheit« vorlegt. Es ist die Geschichte eines Untergangs, der schon absehbar war, als das Staatsschiff DDR vom Stapel lief. Es war zu klein und zu leicht gebaut für die Stürme, die der »Kalte Krieg« in Europa und weltweit entfesseln sollte. Und es hatte eine Schiffsführung, die diesen Stürmen nicht gewachsen war und die ihren Kurs von einer Weltmacht vorgeschrieben bekam, in deren Flotte sie nur ein ganz kleiner Dampfer war. Aber Hein erzählt am Ende seines Romans auch von den Fehlern, die bei der Übernahme dieses Staatsschiffs in die Flotte der anderen deutschen Reederei geschahen, die sich nach 1989 als die neue Siegerin der Geschichte sah.
Erzählt wird die Lebensgeschichte des Ingenieurs Dr. Johannes Goretzka, seiner Frau Yvonne und ihrer Kinder Kathinka und Heinrich, von Professor Karsten Emser und seiner Frau Rita, beide hohe Funktionäre im Staatsapparat der DDR, sowie von Professor Benaja Kuckuck, einst angesehener Anglist und Shakespeare-Forscher und nach seiner Rückkehr aus dem britischen Exil durch Parteiauftrag zum Referatsleiter für Kinder- und Jugendfilme verpflichtet.
Im Gegensatz zu seinen Romanen wie »Horns Ende« von 1985 bis zu »Unterm Staub der Zeit« von 2024 erzählt Hein diesmal vor allem von Menschen aus der Nomenklatura der SED und ihrer Blockparteien und deren Versuch, sich wider besseres Wissen an die immer fragwürdiger werdenden Verhältnisse anzupassen, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Und er erzählt vom Preis, den diese Anpassung fordert. Mit den Hoffnungen sterben die einstigen Ideale und Werte einer »endlich befreiten Welt«, mit den Enttäuschungen darüber nehmen Entfremdung und Kälte zu. Insofern ist diese Chronik aus längst vergangenen Zeiten auch ein Lehrstück für Gegenwart und Zukunft.
In der Mitte des Romans gibt es einen kurzen, kursiv gesetzten Absatz, den man auch als das Credo des Chronisten lesen kann: »Ich werde weiterhin berichten, was ich vermag, und der Leser wird erkennen und anerkennen müssen, dass ich beschreibe, wofür ich mich verbürgen kann, für die Kapriolen, welche die deutsche und die Weltgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlugen, sowie für die höchst seltsamen und unerwarteten Wendungen.« An jähen Wendungen und atemberaubenden Wenden hat es in der deutschen Geschichte wahrlich nie gemangelt, und wir erleben gerade wieder die erstaunlichsten Kapriolen.
Am Ende des Romans, als nach 1990 durch die Gesetzgebung »Rückgabe vor Entschädigung« die alten Besitzer aus dem Westen die Ostdeutschen aus ihren Häusern und Wohnungen klagen, lässt Christoph Hein den Bauern Jost Kosegarten zu Rita Emser sagen: »Wenn ich vom Hof gehen muss, fackel ich zuvor das ganze Haus ab. Benzin und Diesel hab ich reichlich im Keller, und da ist es mir völlig egal, was sie dann mit mir machen.«
Heute brauchen die Ostdeutschen weder Benzin noch Diesel für einen späten Racheakt, ein Wahlzettel reicht. Wie und warum das so kommen konnte und warum der Ballast der Vergangenheit sich nicht mit staatlich verordneter Erinnerungskultur ausräumen lässt, auch davon handelt Christoph Heins Roman. Man wünscht ihm viele Leserinnen und Leser in Ost und West inmitten der größten politischen Krise Europas seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (28. März 2025 um 09:24 Uhr)Natürlich wird es wieder eine ganze Menge Leute geben, die Christoph Hein für den Schriftführer des Weltgewissens halten, das gerade sein endgültiges Urteil über die DDR formuliert. Offenbar hält er sich selbst auch dafür. Warum hat es aber so lange gedauert, bis der blinde Passagier auf dem Narrenschiff bemerkte, mit wem er da 40 Jahre unterwegs gewesen war? Hat das Närrische damals vielleicht abgefärbt? Und tritt erst jetzt vollends zu Tage? Der Volksmund weiß ja, dass es eine kaum zu bewältigende Mühsal ist, große Narretei unter viel Papier zu verstecken. Auch wenn das Buch noch so dick ist.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Stefan W. aus bei Berlin (27. März 2025 um 11:04 Uhr)Lesen? Neeee, lieber nich. Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Aber es geht immer nur um den Zirkel. Immer nur um den Zirkel. Gelegentlich auch mal um den Ährenkranz, aber den Hammer? Zirkel drehen sich im Kreis. Langweilig. Und wenn er sich im Bauchnabel dreht, piekt’s. »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« Und die ist rot von Blut, kaum von Scham. Das Bild zerreißen, das letzte, was von Vaterland noch blieb? »Das mit dem Grab hat sich nun auch zerschlagen. Doch war das Glück mit meinen Mannestagen.« In diesen Zeiten treibt es mich eher tiefer in den Hacks, auf der Spur der Steine.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (27. März 2025 um 10:37 Uhr)»Man wünscht ihm viele Leserinnen und Leser in Ost und West inmitten der größten politischen Krise Europas seit Ende des Zweiten Weltkriegs«, so die Hoffnung von Holger Teschke zum Schluss. Es ist leider zu befürchten, dass dieses Buch von Christoph Hein (Geschäftsmodell: Abrechnung mit der DDR) reißenden Absatz findet. Der Antikommunismus hat nach wie vor Hochkonjunktur, wie auch die Rezensionen in bürgerlichen Medien zeigen. Dafür, dass Hein deren Erwartungen erfüllt, ein paar Beispiele: »Hein zeichnet die DDR als Narrenschiff, auf dem die Menschen hin und hergeschaukelt werden, oder gerade noch selbst am Steuer saßen und im nächsten Moment über Bord gehen. Die DDR ist bei Hein ein von Anfang an dem Untergang geweihter Staat, regiert von Ungebildeten, die Parteidisziplin über Wissen stellen« (rbb). »(…) Christoph Hein räumt damit en passant das in bestimmten Kreisen noch heute wirkungsmächtige Klischee von den guten Anfängen der DDR ab« (DLF). »Angelehnt an eine berühmte Satire von Sebastian Brant betrachtet Christoph Hein die DDR als Narrenschiff. Wie konnte ein Haufen Politbüro-Narren die Bevölkerung so lange terrorisieren?« (Welt). »Es ist ein tiefer Blick in die Führungskräfte des Landes und auf die circa 18 Millionen Menschen, die jahrelang an ihrer westlichen Grenze eingemauert waren« (Aachener Zeitung). »Dieser Zwangsenthusiasmus. Diese böse Neigung zum kurzen Prozess. Diese Sühne, auch wenn keine Schuld vorlag. Mählich geschieht, dass Menschen zerrieben werden. Eben noch Gutgläubige, Neugierige, Wissensfrohe, Weltfreudige. Für eine Sache leben? Daraus folgt nicht nur Selbstverlust, sondern auch Gefährdung und Züchtigung anderer Menschen. Die nicht ans Reißbrett einer Theorie genagelt werden wollen. Und plötzlich bist du entsetzt: hast dich schmutzig gemacht just an der reinen Lehre. Porträtiert wird ein drahtumwickeltes Land« (nd). Dass die Propaganda gegen die DDR nie aufhört, zeigt, wie tief der Stachel 40 Jahre DDR in der Bourgeoisie immer noch sitzt.
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