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Aus: Ausgabe vom 07.04.2025, Seite 4 / Inland
Koalitionsverhandlungen

Die AfD im Nacken

Während Union und SPD Koalitionsverhandlungen führen, legt die Rechtsaußenpartei in Umfragen weiter zu
Von Kristian Stemmler
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Gegen den CDU-Chef und die AfD: Demonstranten rufen am Frauentag in Berlin zur Verteidigung des Asylrechts auf

Wie zu erwarten war, hat die Strategie der bürgerlich-demokratischen Parteien, den Bundestagswahlkampf auf dem Rücken von Geflüchteten zu bestreiten, nur eine Partei stark gemacht: die AfD. Eine am Sonnabend publizierte Umfrage von INSA im Auftrag des Boulevardblattes Bild sieht die Rechtsaußenpartei erstmals gleichauf mit CDU/CSU an der Spitze, jeweils mit 24 Prozent. Im Vergleich zu den Wahlergebnissen vor sechs Wochen hat die Union damit 4,5 Prozent verloren, die AfD 3,2 Prozent gewonnen. Auch wenn bei INSA-Umfragen wegen einer gewissen Nähe des Instituts zur AfD Skepsis angebracht ist, verfehlten die Zahlen ihre Wirkung nicht: Unionspolitiker forderten mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen von Union und SPD, die am Sonnabend fortgesetzt wurden, einen »echten Politikwechsel«.

Die aktuellen Umfragewerte seien »bitter«, erklärte etwa CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann gegenüber Bild am Sonntag. Jetzt komme es »nicht nur auf einen guten Koalitionsvertrag« an, sondern »vor allem auf die Taten der neuen Regierung«. Die Menschen hätten »keine Ampel 2.0 gewählt, sondern einen Politikwechsel«, so Linnemann. Parlamentsgeschäftsführer Thorsten Frei (CDU) versuchte, mit vollmundigen Versprechungen die Wogen zu glätten. Sobald die Regierung stehe, würden die Weichen in der Wirtschafts-, Migrations- und Verteidigungspolitik umgestellt, sagte er dem Blatt. »Der Neustart wird in jedem Dorf und in jeder Stadt zu spüren sein«, so Frei.

Unverdrossen propagierten Unions-Hardliner auch die längst widerlegte These, eine weitere Verschärfung der Asylpolitik könne der AfD das Wasser abgraben. So forderte der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß am Sonntag gegenüber der Rheinischen Post Zugeständnisse der SPD bei dem Thema. In der Migration müsse »wieder Recht und Ordnung herrschen«. »Arbeitskräfte für Deutschland« seien willkommen, die »illegale Migration« müsse dagegen gestoppt werden. Der CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries stieß ins selbe Horn. Die Bürger hätten »mit großer Mehrheit den Politikwechsel gewählt und kein ›Weiter so‹«, sagte er dem Handelsblatt (Sonntag). De Vries forderte eine »echte Asylwende«.

Zur Fortsetzung der Koalitionsgespräche am Sonnabend in der CDU-Zentrale in Berlin reagierten die Unterhändler mit Zweckoptimismus auf die aktuelle Umfrage. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erklärte laut dpa, die Menschen erwarteten zu Recht, »dass es ein Koalitionsergebnis gibt, was die Erwartungen erfüllt, was auch das Wahlergebnis wiedergibt«. In der vergangenen Woche sei man sehr weit gekommen, an diesem Sonnabend beuge man sich »über die dicken Klopper«, die Themen, bei denen eine Einigung ausstehe, so Dobrindt. Er registriere bei den Gesprächen »ganz viel Einigungsbereitschaft«. Unions-Unterhändler Jens Spahn (CDU) betonte, das AfD-Hoch zeige, dass ganz massiv Vertrauen zurückgewonnen werden müsse. Es müsse »dem Land wieder bessergehen«.

Die SPD-Kovorsitzende Saskia Esken erklärte beim Eintreffen am Konrad-Adenauer-Haus, um »die AfD wieder kleiner zu machen«, komme es darauf an, »dass wir jetzt liefern«. Mit den Finanzpaketen für »Infrastruktur und Verteidigung« sei schon vieles vorangebracht worden. Aber es müssten noch Fragen geklärt werden, etwa: »Wie stabilisieren wir unsere Rente? Wie sorgen wir dafür, dass Bildung und Betreuung gerechter und verlässlicher wird?« Man müsse dafür sorgen, »dass die Daseinsvorsorge wieder verlässlich den Menschen auch zur Seite steht, dass sie Sicherheit haben, auch was ihre Arbeitsplätze anbelangt«.

Unterdessen äußerte sich Manfred Güllner, Chef des Forsa-Instituts, in einer aktuellen Analyse kritisch zum designierten Bundeskanzler Friedrich Merz. Dieser sei »kein Zugpferd für die Union« gewesen und verstärke »auch nach der Wahl zunehmend die Zweifel an seiner Kanzlerfähigkeit«, zitierte AFP den Meinungsforscher aus der Analyse, die der Nachrichtenagentur vorlag. Könne der CDU-Chef diese Zweifel nicht ausräumen, »könnte die AfD schon bald und nicht erst 2029 zur stärksten politischen Kraft im Land werden«, so Güllner.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. April 2025 um 13:55 Uhr)
    Die Nachkriegsordnung hat Deutschland einst Aufschwung und Stabilität gebracht. Mit dem Marshallplan, der Währungsreform und einer exportstarken Industrie erlebte die junge Bundesrepublik ein »Wirtschaftswunder«, das Millionen Menschen ein Gefühl von Teilhabe vermittelte. Ludwig Erhard versprach »Wohlstand für alle«, und zumindest für eine Zeit schien dieser Anspruch Realität zu werden. Die Soziale Marktwirtschaft funktionierte – aber nur, solange die globale Lage günstig war, und der Westen sich seiner wirtschaftlichen Überlegenheit sicher sein konnte.
    Heute, inmitten multipler Krisen, zeigt sich: Das Fundament dieser Ordnung war fragiler als gedacht. Politische Führung erschöpft sich zunehmend in Reaktionen, statt Gestaltung. Die Demokratie, wie sie hierzulande praktiziert wird, funktioniert im Prinzip wie ein sich selbst verwaltendes System der Verantwortungsdiffusion: Jeder redet mit, niemand haftet. Fehlentscheidungen – ob in Energie-, Finanz-, Migrations- oder Außenpolitik – bleiben folgenlos für jene, die sie zu verantworten haben.
    Währenddessen wächst die Entfremdung der Bevölkerung. Die Kluft zwischen politischem Betrieb und gesellschaftlicher Realität wird größer. Wenn Umfragen die AfD gleichauf mit der Union sehen, dann ist das kein plötzlicher Rechtsruck, sondern ein Ausdruck massiver Enttäuschung. Es ist ein Misstrauensvotum gegen ein System, das sich immun gegen Kurskorrektur gemacht hat.
    Die Reaktion der sogenannten »bürgerlichen Mitte« wirkt hilflos: Man glaubt, mit Symbolpolitik und harter Rhetorik gegen Geflüchtete könne man der AfD Wähler abnehmen. Doch genau das ist Teil des Problems. Statt echte Reformen zu wagen – sei es bei sozialer Gerechtigkeit, Souveränität oder Infrastruktur – verbeißt sich die Politik in Scheindebatten und verliert dabei weiter an Glaubwürdigkeit.
    Dass Deutschland zudem außenpolitisch kaum souverän agiert, verschärft die Lage. Entscheidungen in Berlin folgen oft eher den Interessen der NATO, der USA oder Brüsseler Machtlogiken, als den Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung. Von echter Autonomie ist wenig zu spüren. Doch solange diese Fremdbestimmung nicht offen benannt wird, bleibt jede innenpolitische Reform ein Stück weit Theater.
    Wer glaubt, ein Machtwechsel – etwa hin zur AfD – könne an diesen strukturellen Problemen etwas ändern, unterschätzt die Tiefe der Krise. Auch sie würde an denselben wirtschaftlichen Abhängigkeiten, rechtlichen Hürden und internationalen Verpflichtungen scheitern. Der Unterschied bestünde höchstens in schärferer Symbolik – aber nicht in substanziellem Wandel.
    Deutschland steckt in einem Zustand der politischen Erschöpfung. Reformunfähigkeit, Verantwortungsvermeidung und externe Steuerung haben ein Klima erzeugt, in dem Vertrauen schwindet, Spaltung zunimmt und radikale Stimmen wachsen. Die Demokratie lebt nicht von Wahlen allein – sie braucht auch die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. An genau dieser Fähigkeit scheint es derzeit dramatisch zu fehlen.

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