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Aus: Ausgabe vom 08.04.2025, Seite 5 / Inland
TVöD-Abschluss 2025

Dämme gebrochen

Tarifeinigung für Bund und Kommunen macht Arbeitszeitverlängerung möglich und Verfassungstreue für Übernahme von Azubis und Studis zur Bedingung
Von Susanne Knütter
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Überstunden machen sie schon genug: Warnstreik im öffentlichen Dienst (Kiel, 13.3.2025)

Die Verlängerung der Arbeitszeit wird seit Jahren und zusehends aggressiver von der Kapitalseite gefordert. Nun hat sie Eingang in einen Tarifvertrag für 2,5 Millionen Beschäftigte gefunden. Und das Absurde ist: Die freiwillige, individuelle Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 42 Stunden, wie sie nun der am Sonntag erzielte Tarifvertrag für Bund und Kommunen vorsieht, war nach Angaben von Verdi die Bedingung für den von den Gewerkschaften geforderten Einstieg in mehr freie Zeit.

Die individuelle Arbeitszeiterhöhung soll zeitlich befristet, besser vergütet und freiwillig sein. »Niemand kann gedrängt werden, mehr zu arbeiten – das ist Teil der Tarifvereinbarung«, betonte Verdi-Chef Frank Werneke. Die Regelung sei zunächst auf fünf Jahre angelegt und werde rechtzeitig vorher in ihrer Wirkung überprüft. Aus Sicht von Verdi-Mitglied Orhan Akman, der beim letzten Gewerkschaftstag selbst für den Verdi-Bundesvorstand kandidierte, ist das ein »tarifpolitischer Irrweg«. Auf seiner Website erinnerte er an die harten Kämpfe der Gewerkschaften um den Achtstundentag und die 35-Stunden-Woche. Und nach wie vor ist eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit »notwendig, da unter anderem die Produktivität der Beschäftigten steigt (auch im öffentlichen Dienst) und eine zunehmende Arbeitsverdichtung unsererseits zu bekämpfen ist«, erklärte Akman am Sonntag.

Und was ist aus den geforderten drei zusätzlichen freien Tagen geworden? Die erzielte Regelung sieht nun vor, dass die Beschäftigten Teile des erhöhten 13. Monatsgehalts in bis zu drei zusätzliche freie Tage eintauschen können. Allerdings – hier kommt die nächste Bedingung – Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind von diesem Wahlmodell ausgenommen. Also genau jene, die besonders unter Arbeitsverdichtung leiden. Als Grund für die Ausnahme wurde die dünne Personaldecke genannt.

Ein Tarifergebnis sei immer Ausdruck von Kräfteverhältnissen, heißt es in der Verdi-Information zum TVöD-Abschluss. Zum jetzigen Zeitpunkt hätten die Gewerkschafter keinen Spielraum gesehen, »mit diesen Arbeitgebern zu dieser Zeit vor dem Hintergrund neuer politischer Verhältnisse noch mehr rauszuholen«. Allerdings hat Verdi mit dem Abschluss Dämme gebrochen: Ein weiterer ist, die Verfassungstreue von Auszubildenden und Studierenden zur Bedingung für deren Übernahme zu machen. Im Einigungstext heißt es: »Voraussetzung für die Übernahme ist, dass Auszubildende und dual Studierende des Bundes und anderer Arbeitgeber, in deren Aufgabenbereichen auch hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden, sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen.« Das ist neu. Zumindest im Tarifbereich des TVöD.

Aufgrund einer fast gleichlautenden Regelung im Tarifvertrag der Länder (TVL) werden immer wieder Linke oder auch nur engagierte junge Erwachsene mit Berufsverboten belegt. So etwa der Geoinformatiker Bejamin Ruß, dem mit Verweis auf Paragraph 3 im TVL eine Stelle an einer bayerischen Universität versagt wurde. Vorgeworfen wurde ihm vor Gericht unter anderem ein kritischer Artikel über einen zu frühen und schwachen Tarifabschluss für Krankenhäuser.

Gegenwärtig müssen sich in Hamburg die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes mit dem Vorstoß der »rot-grünen« Landesregierung auseinandersetzen, die Regelanfrage zu Verfassungstreue bei Einstellungsverfahren wieder einzuführen. Unter dem Titel »Resilienz des öffentlichen Dienstes gegen Verfassungsfeinde stärken« hat sich die Hamburger Bürgerschaft im Januar mit einem entsprechenden Antrag beschäftigt. Hamburger GEW, Verdi und DGB wehren sich dagegen und erinnern an die Berufsverbotpraxis der 70er und 80er Jahre. Statt Solidarität auf Bundesebene ernten sie nun eine entsprechende Klausel im TVöD.

Die zahlreichen Facebook-Kommentare der Mitglieder zum Tarifabschluss hatten überwiegend die erreichten Lohnerhöhungen zum Inhalt. Ihre Stoßrichtung: »War ja klar, Verdi ist mal wieder eingeknickt.« Nun sind die Facebook-Kommentare vermutlich nicht repräsentativ. Vielleicht ist es aber das Abstimmungsverhältnis innerhalb der gewerkschaftlichen Bundestarifkommission: Nach Informationen von jW stimmten nur 51 von 99 Mitgliedern für den Abschluss und 37 dagegen.

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  • Leserbrief von Manfred Pohlmann aus Hamburg (10. April 2025 um 12:38 Uhr)
    »Voraussetzung für die Übernahme ist, dass Auszubildende und dual Studierende des Bundes und anderer Arbeitgeber, in deren Aufgabenbereichen auch hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden, sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen.« Was man dann wie üblich vom Verfassungsschutz überprüfen lässt. Und das mit gewerkschaftlichem Segen! Das ist eine Katastrophe! An dieser Stelle sollten wir daran erinnern, dass nach Artikel 9 des GG Vereinigungen wie z. B. Gewerkschaften gegründet werden können. Grundsatz ist die »Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen«, kurz: Es geht um das allgemeine Recht der Koalitionsfreiheit. Im Jahre 1952 wurde dieses Recht infolge der damaligen Rechtsprechung sehr eingeschränkt interpretiert und hat bis heute Bestand. Das damalige Urteil hat rigoros festgelegt, dass politische Forderungen in diesem Sinne nicht zulässig seien; so sind z. B. bis heute Streiks, die sich nicht auf nur tarifvertragliche Sachverhalte wie Eingruppierungen, Urlaubsansprüche o. Ä. beziehen und politische Forderungen, wie z. B. die Demokratisierung des Wirtschaftslebens fordern, verboten. Wohlgemerkt wäre ein solches Verbot nicht durch Gesetz zu begründen! Es handelt sich ausschließlich um sogenanntes Richterrecht. Aus alldem ergibt sich, dass die potenziell mächtigsten »Vereinigungen« in Form der DGB-Gewerkschaften als Vertretung der abhängig Beschäftigten bereits seit 1952 politisch kastriert sind. Der DGB ist demnach auf rein defensives Handeln beschränkt. Jedwede Forderung nach Beschränkung wirtschaftlicher Macht oder gar Enteignung bei Verstoß gegen die durch das GG festgelegte Sozialverpflichtung des Eigentumgebrauchs, ist damit ausgeschlossen. Wie kann eine solche Auslegung von Recht in einer Republik Platz haben, wo doch faktisch gesichert ist, dass der Eigentumsmissbrauch der wirtschaftlich Mächtigen, also die Krupps und Thyssens, den Hitlerfaschismus an die Macht geschoben haben? Nicht umsonst haben nach 1945 bis in die Reihen der CDU (Ahlener Programm 1949) die politischen Parteien wie SPD und KPD die Enteignung der Schlüsselindustrien und Monopole gefordert. Volksabstimmungen in einigen Bundesländern haben dazu geführt, dass noch heute ähnliche Forderungen in ihren Verfassungen festgeschrieben sind! Es gibt auch dafür eine ziemlich einfache Erklärung. Wenn wir nachforschen, wer höchstpersönlich für die noch immer restriktive Auslegung der Koalitionsfreiheit federführend war: es war der hochangesehene Jurist Hans Carl Nipperdey, der das damalige Urteil (1952) fällte, die Auslegung des GG bis heute maßgeblich beeinflusst hat und sein Handwerk als überzeugter Nazi zwischen 1933 und 1945 erlernt und ausgeübt hat und nach 1945 sogar eine Zeit lang Präsident des Bundesarbeitsgerichts (1954 bis 1963) war! So schließt sich denn der Kreis. Aber auf die oben beschriebene Festlegung der Bewerber auf das Phantom »FDGO« ist beileibe keine »Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen«. Sie bedeutet im Klartext, den Maulkorb noch mal weiter zu straffen, um unbotmäßiges Verhalten oder Kritik einzuschränken. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sollten dringlichst überlegen, ob sie nicht in naher Zukunft mit aller Macht und Entschlossenheit für ein umfassendes Streikrecht kämpfen und den alten Plunder von der sogenannten Sozialpartnerschaft schleunigst ablegen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Susanne R. aus Stuttgart (9. April 2025 um 10:57 Uhr)
    Hier muss man eingestehen, dass es nicht gelungen ist, die enormen Rüstungsausgaben innerhalb der Gewerkschaften zu thematisieren. Deshalb konnten die Arbeitgeber mit ihrem Argument der leeren Kassen viele Menschen erreichen. Auch wenn die Warnstreiks beeindruckend waren.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Beate Z. aus Nürnberg (7. April 2025 um 22:37 Uhr)
    Endlich brauchen wir keinen Radikalenerlass mehr, nachdem die Regelanfrage beim Verfassungsschutz jetzt tariflich festgelegt wurde! Was hat denn eine solche Bestimmung in einem Tarifvertrag zu suchen? Auf die Begründung wäre ich mal gespannt. Weiterhin ist der Einstieg in die Arbeitszeitverlängerung zu kritisieren. M. E. ist eine »Garantie« wie »Niemand kann gedrängt werden, mehr zu arbeiten« das Papier nicht wert, auf dem sie niedergelegt ist. Sollten die 42-Stunden-Fälle zunehmen, und sollte ein Betriebsrat sich um Verletzungen des Arbeitszeitgesetzes kümmern wollen, spätestens dann ist schnell mit den Betroffenen die Freiwilligkeit des Einsatzes besprochen … ging halt nicht anders, wir schaffen es sonst nicht! Die Schutzwirkung der 40-Stunden-Grenze wird also noch mehr durchlöchert, als sie es sowieso schon ist. Darüber hinaus wird die unterschiedliche Ausgestaltung der Vollzeitarbeit das Ihre zu Spaltung der Belegschaften tun – was, Kollege, du willst nicht solidarisch die Mehrarbeit mittragen? Die Erhöhung der Schichtzulagen war fällig und ist in Ordnung. Dies soll also keine vernichtende Kritik sein, aber sicherlich ein Aufruf, uns jetzt nicht alle begeistert auf die Schultern zu klopfen, sondern in kommenden Runden höher zu zielen, insbesondere in der entscheidenden Frage der Arbeitszeitverkürzung.
    • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (8. April 2025 um 18:33 Uhr)
      Ordnet man das Ganze unter das übergeordnete Ziel der ebenso in anderen Bereichen bereits unverkennbar angelaufenen Kriegsvorbereitung ein, so erschließt sich einem sogleich die politische Marschrichtung. Erschall gestern noch die Parole »Wir sind das Volk!«, so müsste diese heute lauten: »Wir sind das dumme deutsche Volk, das sich schon wieder in einen Krieg befehlen lässt!«.

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