Panik nach Lehrbuch
Von Ralf Wurzbacher
Panikattacken vorm angriffslustigen Russen sollen nun auch in Deutschlands Lehranstalten Pflichtstoff werden. Das Bundesinnenministerium unter der nur noch geschäftsführenden Frontfrau Nancy Faeser (SPD) plädiert dafür, Heranwachsende auf Krisen und den möglichen Kriegsfall vorzubereiten. »Angesichts der Entwicklung der sicherheitspolitischen Lage in jüngerer Zeit sollte ein stärkerer Fokus auf den Zivilschutz gesetzt werden, auch schon in der Schulbildung«, zitierte am Montag das Handelsblatt einen Ministeriumssprecher. Im selben Bericht gab es Schützenhilfe durch CDU-»Sicherheitspolitiker« Roderich Kiesewetter: »Es ist zwingend nötig, dass der Ernstfall geübt wird, denn die Schülerinnen und Schüler sind besonders verletzlich und im Ernstfall besonders betroffen.«
Besoffen vom Getrommel, dass Wladimir Putin demnächst über Europa herfällt, hatte schon Ende März Hadja Lahbib, EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, telegen ihr Notfallköfferchen gepackt. Motto: Immer auf das Allerschlimmste gefasst sein, »das muss unser neuer europäischer Way of Life sein«. Nicht geklappt hat das nach ihrer Ansicht während der Coronakrise, als Menschen die Geschäfte gestürmt hätten, um Toilettenpapier zu horten. Zu wissen, was in der Krise zu tun sei, bedeute auch, »Panik zu vermeiden«, weiß die Belgierin.
Im Stil der von ihr vorgestellten »Preparedness Strategy«, die selbstredend vorm Klassenzimmer nicht haltmacht, steht auch Faeser Gewehr bei Fuß, wenn es um die Gehirnwäsche des Nachwuchses geht. Für die »Bestimmung von Lerninhalten« seien die Bundesländer zuständig, ließ sie mitteilen. Gleichwohl stehe der Bund mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) bereit, mit »Materialien für junge Menschen und für Lehrpersonen« zu helfen. Auch »Erste-Hilfe-Kurse mit Selbstschutzinhalten« würden finanziert. »Dabei werden Zivilschutz und die zivile Verteidigung immer mitgedacht.«
Es gelte »längst als realistisches Szenario«, dass den europäischen Staaten »ein großer Krieg drohen könnte«, weiß man beim Handelsblatt deswegen, weil der Bundesnachrichtendienst (BND) und der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, das wissen. Nach dessen Worten sei Russland imstande, »in vier bis sieben Jahren NATO-Territorium anzugreifen«. Ob Reis und Nudeln in Lahbibs 72-Stunden-Surival-Kit so lange halten? Ganz egal, Hauptsache die Bürger schlucken ihre Botschaft: »Wir müssen größer denken, weil auch die Bedrohungen größer werden.« Dazu gehören für Kiesewetter ein »Krisentraining« für Schüler sowie eine »Grundausbildung zum Verhalten in Katastrophenlagen«. Dies wäre auch mit Blick auf einen Gesellschaftsdienst »klug und vorausschauend«, meint der Unionsfalke. An Finnlands Schulen sei das seit Jahrzehnten üblich.
Bei dem Getöse dringt Widerspruch kaum noch durch, aber es gibt ihn. In ihrer am 30. März veröffentlichten Stellungnahme »Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus« beklagen 15 Fachleute mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik eine Debatte, die »Maß und Mitte« verlassen habe. Angesichts seiner ökonomischen und militärischen Kapazitäten wie seiner realisierbaren Intentionen spreche wenig dafür, »dass Russland sich mit der NATO militärisch anlegen und deren Territorium angreifen könnte oder nur wollte«, heißt es in dem Text, der von Johannes Varwick, Politologe an der Universität Halle, initiiert wurde. Zu seinen Mitstreitern zählen neben mehreren Friedensforschern auch militärische Vertreter wie Brigadegeneral a. D. Reiner Schwalb, Oberst a. D. Ralph Thiele oder Elmar Wiesendahl, ehemals Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr.
Ihr Plädoyer: Panikstimmung, begleitet von einer gigantischen Verschuldung für Aufrüstung, lösten Europas Sicherheitsprobleme nicht. Wichtiger sei es, den Krieg in der Ukraine »mit Hilfe kluger politischer Kompromisse zu beenden« und eine »Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur anzustreben, in der Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Diplomatie wieder eine zentrale Rolle spielen«.
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