Dämme gebrochen
Von Susanne Knütter
Die Verlängerung der Arbeitszeit wird seit Jahren und zusehends aggressiver von der Kapitalseite gefordert. Nun hat sie Eingang in einen Tarifvertrag für 2,5 Millionen Beschäftigte gefunden. Und das Absurde ist: Die freiwillige, individuelle Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 42 Stunden, wie sie nun der am Sonntag erzielte Tarifvertrag für Bund und Kommunen vorsieht, war nach Angaben von Verdi die Bedingung für den von den Gewerkschaften geforderten Einstieg in mehr freie Zeit.
Die individuelle Arbeitszeiterhöhung soll zeitlich befristet, besser vergütet und freiwillig sein. »Niemand kann gedrängt werden, mehr zu arbeiten – das ist Teil der Tarifvereinbarung«, betonte Verdi-Chef Frank Werneke. Die Regelung sei zunächst auf fünf Jahre angelegt und werde rechtzeitig vorher in ihrer Wirkung überprüft. Aus Sicht von Verdi-Mitglied Orhan Akman, der beim letzten Gewerkschaftstag selbst für den Verdi-Bundesvorstand kandidierte, ist das ein »tarifpolitischer Irrweg«. Auf seiner Website erinnerte er an die harten Kämpfe der Gewerkschaften um den Achtstundentag und die 35-Stunden-Woche. Und nach wie vor ist eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit »notwendig, da unter anderem die Produktivität der Beschäftigten steigt (auch im öffentlichen Dienst) und eine zunehmende Arbeitsverdichtung unsererseits zu bekämpfen ist«, erklärte Akman am Sonntag.
Und was ist aus den geforderten drei zusätzlichen freien Tagen geworden? Die erzielte Regelung sieht nun vor, dass die Beschäftigten Teile des erhöhten 13. Monatsgehalts in bis zu drei zusätzliche freie Tage eintauschen können. Allerdings – hier kommt die nächste Bedingung – Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind von diesem Wahlmodell ausgenommen. Also genau jene, die besonders unter Arbeitsverdichtung leiden. Als Grund für die Ausnahme wurde die dünne Personaldecke genannt.
Ein Tarifergebnis sei immer Ausdruck von Kräfteverhältnissen, heißt es in der Verdi-Information zum TVöD-Abschluss. Zum jetzigen Zeitpunkt hätten die Gewerkschafter keinen Spielraum gesehen, »mit diesen Arbeitgebern zu dieser Zeit vor dem Hintergrund neuer politischer Verhältnisse noch mehr rauszuholen«. Allerdings hat Verdi mit dem Abschluss Dämme gebrochen: Ein weiterer ist, die Verfassungstreue von Auszubildenden und Studierenden zur Bedingung für deren Übernahme zu machen. Im Einigungstext heißt es: »Voraussetzung für die Übernahme ist, dass Auszubildende und dual Studierende des Bundes und anderer Arbeitgeber, in deren Aufgabenbereichen auch hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden, sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen.« Das ist neu. Zumindest im Tarifbereich des TVöD.
Aufgrund einer fast gleichlautenden Regelung im Tarifvertrag der Länder (TVL) werden immer wieder Linke oder auch nur engagierte junge Erwachsene mit Berufsverboten belegt. So etwa der Geoinformatiker Bejamin Ruß, dem mit Verweis auf Paragraph 3 im TVL eine Stelle an einer bayerischen Universität versagt wurde. Vorgeworfen wurde ihm vor Gericht unter anderem ein kritischer Artikel über einen zu frühen und schwachen Tarifabschluss für Krankenhäuser.
Gegenwärtig müssen sich in Hamburg die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes mit dem Vorstoß der »rot-grünen« Landesregierung auseinandersetzen, die Regelanfrage zu Verfassungstreue bei Einstellungsverfahren wieder einzuführen. Unter dem Titel »Resilienz des öffentlichen Dienstes gegen Verfassungsfeinde stärken« hat sich die Hamburger Bürgerschaft im Januar mit einem entsprechenden Antrag beschäftigt. Hamburger GEW, Verdi und DGB wehren sich dagegen und erinnern an die Berufsverbotpraxis der 70er und 80er Jahre. Statt Solidarität auf Bundesebene ernten sie nun eine entsprechende Klausel im TVöD.
Die zahlreichen Facebook-Kommentare der Mitglieder zum Tarifabschluss hatten überwiegend die erreichten Lohnerhöhungen zum Inhalt. Ihre Stoßrichtung: »War ja klar, Verdi ist mal wieder eingeknickt.« Nun sind die Facebook-Kommentare vermutlich nicht repräsentativ. Vielleicht ist es aber das Abstimmungsverhältnis innerhalb der gewerkschaftlichen Bundestarifkommission: Nach Informationen von jW stimmten nur 51 von 99 Mitgliedern für den Abschluss und 37 dagegen.
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