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Aus: Ausgabe vom 29.04.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Das Neue braucht die Katastrophe

Tausend Diagramme: Gilles Deleuzes Vorlesungen zur Malerei und eine Berliner Ausstellung von Ull Hohn
Von Martin Göddeler
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Das Peinlichste überhaupt? Der Abgrund hinter der Bergidylle (Ull Hohn, »Ohne Titel«, 1993)

Der Rezession der Malerei in den 1970er Jahren folgte um 1980 ein neoexpressionistischer Boom, der ironisierte oder neoreaktionäre Ergebnisse zeitigte. Zur gleichen Zeit, nach Erscheinen von »Tausend Plateaus« und vor seinen Arbeiten zum Spielfilm, hat Gilles Deleuze acht Vorlesungen über die Malerei gehalten. Sie liegen nun in deutscher Übersetzung vor.

Auch in »Über die Malerei« schlägt Deleuzes Vorliebe für kühne Begriffssetzungen und sprunghafte Gedankenführung schnell durch. Zunächst bestimmt er Malerei als ein Medium, das immer wieder neu sich ereignende Schöpfungsgeschichten hervorbringt, worauf dann grundlegende Kategorien angewendet werden. Dabei nimmt das »Diagramm« eine besondere Stellung ein. Dieses Wort ist von Francis Bacon überkommen und wird bei Deleuze zu einem dem Chaos und der Katastrophe abgerungenen Nullpunkt, von dem aus erst das Neue entstehen kann. Bis dahin bringen es nur die erstklassigen Künstler, weshalb hier hauptsächlich Klee, Pollock, Cézanne oder Francis Bacon aufgerufen werden, um Gedanken zu Chaos und Katastrophe, Kosmogenese oder die handgezeichnete »Linie ohne Auge« zu entwickeln.

Die Malerei ist vor allem aber der Anlass für freilaufendes Umherschweifen: zu Malgründen, Gewandfalten, den Männerrücken Michelangelos, zum Kristallinen der altägyptischen Kunst oder zu den Peirceschen Zeichentypen. Dass viele dieser Referenzen bekannt erscheinen, hat wohl mit einem Pragmatismus der Lehre zu tun. Erneut wird auch Gregory Bateson, der Deleuze schon den Double Bind und das Plateau geliefert hatte, als Gegenmodell einer deduktiven europäischen Intellektualität hochgehalten, weil er so experimentell und »offen für alles« sei.

Das bleibt alles mild temperiert, und Deleuzes Sound verfängt auch nicht mehr so gut. Wenn es dann, wie es oft geschieht, »wir wissen es nicht« heißt oder von »unklaren Problemen« die Rede ist, denn die »Malerei ist immer ganz anders«, dann ist solche Vorsicht erst mal nicht falsch. Das Variable der Malerei, ihre Nähe zum Besonderen, Nichtallgemeinen, Nichtgleichartigen ist ohnehin die Voraussetzung für Deleuzes Denkbewegungen, die natürlich schon viele Beobachtungs-, Behauptungs- oder Formulierungsperlen mitproduzieren.

Das Mäandern des Philosophen stößt da an Grenzen, wo in Aussicht gestellte Auflösungen auf ewig aufgeschoben werden. Es ist bestimmt nicht zuviel verlangt, von Ausführungen »über die Malerei« zu erwarten, dass sie über das Werk einiger Künstlerautoritäten hinausstrahlen.

Dunkelbraune Gebilde

Im Berliner Haus am Waldsee gibt es gerade die Gelegenheit, sich mit einem anderen Typ »Diagramm« vertraut zu machen: eine Überblickschau der Malerei von Ull Hohn. Es ist die erste institutionelle in Deutschland. Eingeleitet wird sie mit einer turnerhaft lumineszenten Landschaft von 1987, in der die alte Bildgattung durch Gerhard Richter und, da auf einen weißen Kasten gemalt, den Minimalismus geleitet wurde.

Das ist eines jener besonders glanzvollen Gemälde, die Hohn nach seinem Umzug nach New York 1987 dutzendfach hergestellt hat. Er traf dort aber auch auf ein viel intellektuelleres und malereifeindliches Klima, und eine poststrukturalistische Kritikalität machte es auch nicht leichter, unreflektiert an piktoralen Volumen oder der Schichtung von Malgesten zu arbeiten. Sie drängte seiner Praxis vielmehr, keineswegs gegen seinen Willen, eine Befassung mit deren macht-, ideologie- und institutionskritischen Aspekten auf.

Hohn zügelte seine handwerkliche Geschmeidigkeit und eine Neigung zur großen Geste, wertete das Einzelbild in Serien ab, profanierte Bildanlässe und erkannte Bezüge auf (Homo-)Sexualität oder Metonymien des Körpers an. Er unterlegte hautfarbene Monochrome mit Fingerspuren oder etikettierte sie mit abfälligen Adjektiven, er arbeitete mit Penisschablonen und stellte dunkelbraune Gebilde her, deren übertriebene und mit Gips erzeugte Pastosität auch das frühkindliche »Joy of Painting« einschließen sollte, in den eigenen Fäkalien herumzumantschen. Da diese Ausstellung den Schwerpunkt auf Landschaften legt, sieht man Hohns Vereinnahmungen von US-Versionen des 19. Jahrhunderts (da sie stark von der Düsseldorfer Schule beeinflusst waren) und des TV-Romantikers Bob Ross, aus denen er spitze Malereikonzentrate eigener Geltung machte.

Das Haus am Waldsee ist ein guter Rahmen für diese Auswahl zwischen 1987 und 1995 in den USA entstandener Arbeiten. Die Schau belegt dabei nicht nur die Vielseitigkeit des 1995 früh und HIV-bedingt verstorbenen Künstlers, sondern auch das Interesse jüngerer Generationen an seinem Werk. Diesem Interesse hat sicher auch die Möglichkeit »politischer« Anbindbarkeit aufgeholfen, an den AIDS-Aktivismus der 90er Jahre oder durch das Unterstellen »gequeerter« Malerei. Es könnte aber auch sein, dass sie nur der Effekt einer Analytik ist, deren Denken wie im Theater Gesten einschließt und sich mit Farbpasten, Pinseln oder Rakeln realisiert. Vielleicht sind auch noch unfassbarere Synthesen das Entscheidende dieser Malerei, und seien es »Synthesen der Zeit«, von denen Deleuze spricht.

Trotzdem malen

Zum Beispiel kam es in Hohns letztem Lebensjahr zu einer seltsamen Wende in den Selbstbezug. Hohn wählte einige Stillleben aus, die er als Jugendlicher etwa für den Kunstunterricht angefertigt hatte und arbeitete sie kaum verändert nach. Indem er der Naivität und den Klischees ins Auge blickte, denen er in seiner Jugend entsprechen wollte, das Peinlichste überhaupt, unterzog er sich als Genealoge der Malerei auch einer ideologischen Selbstkritik.

Einige dieser Bilder wirken allerdings derart feingliedrig, dass es schwerfällt, darin nicht auch eine Reaktion auf die bevorstehende Katastrophe der eigenen Auslöschung zu sehen. An dieser Stelle fallen alle Ansprüche an eine deklarative Motivik in sich zusammen, laufen vage Behauptungen von Konzeptualität ins Leere. Eher ist es so: Hier schließt »Queerness« die Eigenartigkeit der Malerei selbst ein. Und Trotz: »trotzdem« malen, am Abgrund, trotz unvorteilhafter Vorbestimmung.

Gilles Deleuze: Über die Malerei. Vorlesungen März bis Juni 1981. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025, 432 Seiten, 38 Euro

»Ull Hohn. Revisions«, Haus am Waldsee, Berlin, bis 11.5.2025

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