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Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018

Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018


Referenten aus sieben Ländern, Kunstausstellung und viel Musik: Afrika war der Schwerpunkt der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2018 im Mercure-Hotel MOA in Berlin.

Hintergrund

  • · Hintergrund

    Mit Gott und Peitsche

    Das Deutsche Reich war die viertgrößte Kolonialmacht der Welt. Vor allem in Afrika gingen Soldaten und Siedler mit brutaler Gewalt gegen die Einheimischen vor
    Ulrich van der Heyden
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    Der Kolonialismus wurde von Beginn an ideologisch bemäntelt. Man bringe den »Ungläubigen« und »Unterentwickelten« die christliche Religion und die Zivilisation, hieß es. Statt dessen wurde ausgebeutet und unterdrückt (Karikatur aus der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der wahre Jacob, 1905)

    Die Eroberung der überseeischen Welt durch Europäer ging von Anfang an mit mannigfachen Formen der Gewalt einher. Betrug, Drohungen und brutale Gewaltexzesse begleiteten den Kolonisierungsprozess. Seit Kolumbus 1492 Amerika entdeckt hatte, floss Blut, wurden Menschen versklavt, zur Zwangsarbeit und zu Abgaben verpflichtet, gedemütigt, getötet, vertrieben und übervorteilt. Alle europäischen Mächte, die sich mit Schwert und Feuer in Amerika, Asien, Australien, Afrika und in Ozeanien ihre Kolonialreiche, in der Regel abgesegnet durch die großen staatstragenden Kirchen, zusammenraubten, errichteten eine Zwangsherrschaft, die in Afrika erst ab 1960, dem »Afrikanischen Jahr«, beendet werden konnte. Allerdings war damit noch nicht die volle nationale Selbstbestimmung erreicht. Die Gewalt zur Aufrechterhaltung der sozialen Ungleichheit hält, wenn auch oftmals in modifizierter Form, nicht zuletzt befeuert durch den Kalten Krieg und neokoloniale Ausbeutungsmethoden, in einigen Gebieten der Erde bis heute an.

    Gewalt war auch das Markenzeichen der Deutschen, die sich nach der sogenannten Berliner Kongokonferenz von 1884/85 an der Aufteilung des afrikanischen Kontinents beteiligten. Hier errichteten sie in Deutsch-Ostafrika (heute vornehmlich die Staatsgebiete von Tansania, Burundi und Ruanda), in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), in Kamerun und Togo ihre Herrschaft.

    Kritik im Deutschen Reich

    Über das spezifische Ausmaß sowie zum Vergleich der Gewaltmethoden in den deutschen Kolonialgebieten gibt es bisher nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen. Dies ist eine seit Jahren erhobene Kritik an der Historiographie. Mit einer komparatistischen Analyse der Methoden und Formen der überseeischen Herrschaftsausübung der europäischen Kolonialmächte war man ebenfalls zurückhaltend. Das trifft auch auf Forschungen zur Kolonialkritik in den europäischen »Muttergesellschaften« zu.

    Dabei ging eine Welle der Empörung durch das Deutschland der Kaiserzeit, als die Gräuel im Kongo, die systematische Ausplünderung des Kongo-Freistaates, der sich quasi im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. befand, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt wurden. Menschen mit abgehackten Händen waren wohl das typischste Symbol dieser Gewaltexzesse. Als diese durch die sich verbreitende Fotografie hierzulande bekannt wurden, verstärkte sich die Kritik am Kolonialismus bis hin zu dessen kategorischer Ablehnung. Aber nur die wenigsten sahen, dass diese Gräuel einem System entstammten, nach welchem auch die Deutschen ihre Kolonien verwalteten und das dort jeder auftretende Widerstand mit Gewalt unterdrückt wurde. Jedoch gab es schon damals Proteste gegen die Kolonialpolitik, was heute viel zu wenig wahrgenommen wird.

    Drei unterschiedliche politische Gruppierungen traten gegen den Kolonialismus auf: erstens die Kritiker innerhalb der christlichen Missionsgesellschaften, die sich als »Anwalt der Eingeborenen« verstanden; zweitens liberale Politiker, die aus humanitären Gründen die Kolonialpolitik oder wesentliche Bestandteile davon in Frage stellten; und drittens Teile der Arbeiterbewegung, die sich unter dem politischen Dach der Sozialdemokratie organisierten.

    Haltung der Sozialisten

    Im Prinzip gab es schon bald nach dem Erwerb von Kolonialgebieten durch das Deutsche Reich Kritik aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an einzelnen Erscheinungen der deutschen Kolonialpolitik. Am 26. Januar 1889 beispielsweise griff August Bebel den Kolonialabenteurer Carl Peters, der wegen seiner Grausamkeiten in Ostafrika als »Hänge-Peters« bekannt wurde, und dessen Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft im Deutschen Reichstag scharf an. Am 17. Februar jenes Jahres setzte er sich dort auch mit den kolonialbegeisterten Vertretern der Regierungsparteien auseinander und wies deren Argumentation zurück, dass Deutschland den überseeischen Kulturen die Zivilisation bringen müsse: »Meine Herren, was bedeutet denn aber in Wahrheit Ihre christliche Zivilisation in Afrika? Äußerlich Christenthum, innerlich und in Wahrheit Prügelstrafe, Weibermisshandlung, Schnapspest, Niedermetzelung mit Feuer und Schwert, mit Säbel und Flinte. Das ist Ihre Kultur. Es handelt sich um ganz gemeine materielle Interessen, ums Geschäftemachen und um nichts weiter!«

    Bebel lehnte den Kolonialismus jedoch nicht grundsätzlich ab. Das zeigte sich in seiner Rede während der sogenannten Kolonialdebatte vom 1. Dezember 1906: »Kolonialpolitik zu treiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein; es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik betrieben wird. (…) Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften, wie es z. B. die europäischen Nationen und die nordamerikanische sind, zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind.«¹

    Die weitgehende Zurücknahme vorheriger Äußerungen sozialdemokratischer Politiker zum Kolonialismus hatte seine Ursache in der seit den 1880er Jahren verstärkt geführten Diskussionen um eine »sozialistische Kolonialpolitik«, einem Bestandteil des Revisionismus um den einflussreichen SPD-Politiker Eduard Bernstein. Die Befürworter des Kolonialismus innerhalb der Arbeiterbewegung machten sich einen damals allgemein diskutierten Grundsatz zu eigen, der davon ausging, dass es das »Recht der höheren Kultur« sei, den »unterentwickelten Kulturen« ihre vermeintlichen Errungenschaften zu bringen. Dies sei geradezu notwendig – auch unter Anwendung von Gewalt. Am konsequentesten widersprach Karl Kautsky solchen Auffassungen.

    Zu den wenigen generellen Kritikerinnen des Kolonialismus in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gehörte Rosa Luxemburg. Sie betrachtete ihn als einen immanenten Bestandteil des Imperialismus. Und August Bebel etwa kritisierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts vehement den Krieg gegen die Herero und Nama in der deutschen Kolonie Südwestafrika.

    »Heia Safari«

    In der Afrika- und Kolonialgeschichtsschreibung wurde die Tatsache, dass die deutsche Bevölkerung nicht durchweg kolonialbegeistert gewesen ist, bislang wenig beachtet.² Seltsamerweise spielten diese Themen, sieht man von einigen Arbeiten zur antikolonialen Haltung der deutschen Sozialdemokratie ab, bisher kaum eine Rolle. Wer sich mit der Geschichte der deutschen Kolonialismusforschung beschäftigt, wird feststellen, dass zuerst die DDR-Forscher an den Ende der 1950er Jahren von der Sowjetunion zurückgegebenen einschlägigen Archivbeständen arbeiteten. Damit wurde die »kolonialkritische Kolonialismusforschung« von Helmuth Stoecker, Walter Markov und anderen begründet. Als Standardwerke gelten bis heute der von Stoecker 1977 herausgegebene Sammelband »Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges«, das nach wie vor aktuelle Werk von Peter Sebald über »Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen ›Musterkolonie‹ auf der Grundlage amtlicher Quellen« (1988) und das mehrfach neuaufgelegte und auf Initiative der Vereinten Nationen in verschiedene Sprachen übersetzte Buch von Horst Drechsler »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« (1966). Letzterer hatte als erster Historiker den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord bezeichnet.

    Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann man sich auch in der BRD mit der deutschen Kolonialgeschichte kritisch auseinanderzusetzen. Den öffentlichen Anlass hierfür bot eine vom WDR produzierte und von Ralph Giordano erarbeitete TV-Dokumentation mit dem Titel »Heia Safari«, die bei den Kolonialverteidigern zu ablehnenden Reaktionen bis hin zu Randalen im Fernsehstudio führte. In den 1970er und 1980er Jahren beschäftigten sich nur wenige Historiker der damaligen Bundesrepublik mit der kolonialen Vergangenheit, in der DDR waren es vornehmlich Wissenschaftler an den Universitäten in Leipzig und Berlin sowie an der Akademie der Wissenschaften. Wenn auch weitgehend getrennt, konnten einige Kolonialverbrechen aufgearbeitet oder doch zumindest in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden. International anerkannte Ergebnisse wurden vorgelegt. Das hinderte jedoch später die aus dem Westen des dann vereinten Deutschlands kommenden Evaluatoren nicht, ihre Kollegen von den nunmehr neu ausgeschriebenen Stellen an den ostdeutschen Lehr- und Forschungsinstitutionen zu verdrängen.

    Ein Jahrzehnt später begann dann geradezu ein Forschungsboom. Ausgehend von den USA wurden auch in Deutschland die postkolonialen Studien begründet.³ Seither ist eine kaum zu überblickende Anzahl von einschlägigen Forschungsarbeiten erschienen.

    Krieg gegen die Herero und Nama

    Die Ursachen des Krieges der deutschen Kolonialsoldateska gegen die Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 sahen einige führende Sozialdemokraten in der Existenz des kolonialen Ausbeutungssystems. Die meisten SPD-Politiker schienen nunmehr den verbrecherischen Charakter der mit Gewalt ausgeübten Kolonialherrschaft erkannt zu haben: »Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz.«4 Die Kritik August Bebels gipfelte in dem Vorwurf, dass die Methoden der Kolonialpolitik auch bald die Innenpolitik bestimmen könnten: »Das ist die Politik, mit der Sie Tag für Tag noch einen großen Teil Ihrer eigenen Landesangehörigen behandeln.«

    Was war geschehen? Die durch die Kolonialherrschaft hervorgerufenen Existenzängste der afrikanischen Bevölkerung hatten zu einem Aufstand geführt, der im Januar 1904 mit dem Angriff der Ovaherero unter Samuel Maharero auf deutsche Einrichtungen und Farmen begann. Da die »Schutztruppe« damit nicht gerechnet hatte, entsandte die Reichsregierung umgehend Verstärkung. Die von Generalleutnant Lothar von Trotha befehligte, 15.000 Mann umfassende Truppe, schlug den Aufstand der Herero bis zum August 1904 blutig nieder. Ein großer Teil der Herero floh daraufhin in die Omaheke-Wüste, in der es kaum Wasser gab. Von Trotha ließ den Landstrich abriegeln und Flüchtlinge von den wenigen Wasserstellen verjagen. Tausende Herero mitsamt ihren Familien und Rinderherden verdursteten.

    Der grausame Krieg zur Unterwerfung der Herero trieb auch die Nama unter ihren Führern Hendrik Witbooi und Jakob Morenga zur Rebellion. Sie begannen einen Guerillakrieg. Hendrik Witbooi, das Oberhaupt der Nama, hatte sich über die deutsche Kolonialverwaltung in einem Brief beschwert: »Der Deutsche (…) führt Gesetze ein, (…) (die) völlig unmöglich sind, unhaltbar, unerträglich, undankbar und grausam. (…) Er züchtigt Menschen auf schändliche und grausame Weise. Wir, die er für dumm und unintelligent hält, haben niemals menschliche Wesen auf so erbarmungslose und unangebrachte Art behandelt wie er, der Menschen auf den Rücken legt und ihnen auf den Bauch und zwischen die Beine prügelt, Männer wie Frauen, von denen (…) keiner solch eine Strafe überleben kann.«

    Im März 1908 mussten die Nama aufgeben. Zu überlegen waren die militärtechnischen Möglichkeiten der Kolonialtruppe. Auch die Herero hatten sich unterworfen. Von der geschätzt 60.000 bis 80.000 Personen zählenden Ethnie lebten 1911 nur noch 20.000. Nach Abschluss der Kampfhandlungen wurden die Herero und Nama in von den Briten abgeschaute Konzentrationslager gesperrt, in denen annähernd jeder zweite Insasse an Krankheiten und Hunger verstarb. Es wird geschätzt, dass beim Völkermord in Deutsch-Südwestafrika etwa 40.000 bis 60.000 Herero sowie rund 10.000 Nama ums Leben kamen.

    Infolge des langwierigen und kostenaufwendigen Kolonialkrieges kam es im politischen System des Deutschen Reichs zu einer Krise. Im Reichstag sollte deshalb ein Nachtragshaushalt die rücksichtslose Kriegführung finanzieren. Die SPD und Teile der Zentrumspartei weigerten sich. Die Änderung am Budget wurde abgelehnt, der Reichstag daraufhin aufgelöst, und Neuwahlen wurden angesetzt. In einem bisher kaum gekannten Ausmaß an nationalistischer Propaganda versuchten die Vertreter der großbürgerlichen und junkerlichen Parteien, sekundiert und angespornt von prokolonialistischen Organisationen, für ein »hartes Durchgreifen« im Krieg gegen die aufständischen Afrikaner Stimmung zu machen. Ein Teil der deutschen Bevölkerung geriet in einen Taumel der Kriegsbegeisterung und des Chauvinismus. Mit den sogenannten Hottentottenwahlen am Beginn des Jahres 1907 hoffte Reichskanzler Bernhard von Bülow, eine ihm genehmere Zusammensetzung des Reichstags zu erreichen. Sein Ziel war, SPD und Zentrum in einer groß angelegten Kampagne als kolonialfeindlich, antinational und somit als Vaterlandsverräter abzustempeln und gleichzeitig einen zuverlässigen regierungsfreundlichen Block aus konservativen, nationalliberalen und liberalen Abgeordneten zu schaffen. Trotz intensiver gegen sie gerichteter Hetze gewann die SPD die Wahl zwar in absoluten Zahlen. Aber eine undemokratische Wahlkreiseinteilung sowie der Zusammenschluss konservativer Parteien zu einem Wahlbündnis im Falle von Stichwahlen verringerte die Anzahl der Abgeordneten der SPD im Reichstag dramatisch von 81 auf 43. Das Zentrum blieb stabil.

    Den Misserfolg bei den Wahlen von 1907 konnten viele sozialdemokratische Abgeordnete nicht vergessen. Er sollte nicht unerhebliche Bedeutung für deren Verhalten im August 1914 haben: Um nicht erneut des Vaterlandsverrats geziehen zu werden, stimmten sie nunmehr fast geschlossen für die Kriegskredite.

    Der Völkermord an den Herero- und Nama war nicht das einzige Kolonialverbrechen des deutschen Kaiserreichs. In allen vier deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent setzten die aus dem Reich in die Tropen gereisten neuen Herren, die in ihrer Heimat oft genug gescheiterte Existenzen waren, ihre vermeintlichen Ansprüche mit Gewaltmaßnahmen durch. In Erinnerung ist dort bis heute der Ausspruch: »Und noch einer für den Kaiser!« Damit wurde bei den Prügelstrafen ein zusätzlicher Peitschenhieb zu »Ehren des Kaisers« angekündigt. Ziel aller Gewaltmittel war letztendlich der Raub des Landes der Einheimischen. Mit der Ausbeutung der dort lebenden Menschen sollten die für die koloniale Verwaltung notwendigen Finanzmittel durch Steuern und Zwangsarbeit erbracht werden. Nach dem Motto »Teile und herrsche« wurden die Streitigkeiten unter den indigenen Herrschern ausgenutzt und Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppierungen geschürt.

    Maji-Maji-Aufstand

    Neben dem Krieg gegen die Herero und Nama stand damals auch der Maji-Maji-Krieg im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Arbeitszwang und Willkür waren die Hauptursachen für dessen Ausbruch. Eine Allianz von Angehörigen afrikanischer Ethnien erhob sich von 1905 bis 1907 im Süden der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Der bewaffnete Widerstand, einer der größten Kolonialkonflikte in der Phase der Eroberung Afrikas, endete mit einer verheerenden Niederlage. Die Mehrheit der Getöteten starb allerdings nicht durch Gewehrkugeln, sondern verhungerte, weil die deutsche »Schutztruppe« Felder und Dörfer niederbrannte. Ganze Landstriche wurden so entvölkert. Schätzungen zufolge starben bis zu 300.000 Menschen. Obwohl in der DDR die ersten diesbezüglichen Forschungen schon Anfang der 1960er Jahre veröffentlicht wurden, ist dieser Krieg noch immer nicht wirklich Teil der deutschen »Erinnerungskultur«.

    Noch weniger bekannt ist, wie die Deutschen in Kamerun ihre Macht durchsetzten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass zuweilen bis in die jüngste Zeit die Errichtung und Durchsetzung der dortigen Kolonialherrschaft beschönigt wird. Weil seit etwa 1907 eine Korrektur der Herrschaftsmethoden erfolgte, ist gar von einer »humanen Kolonialpolitik« die Rede. Nicht mehr blinde Gewalt sollte im Mittelpunkt der Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Herrschaft stehen, sondern effektive Ausbeutung. Der Nestor der deutschen Kolonialhistoriographie, Helmuth Stoecker, erklärte dies mit der Tatsache, dass nunmehr die Aufteilung der Erde unter den imperialistischen Großmächten abgeschlossen gewesen sei und »eine intensive Ausbeutung des Kolonialbesitzes« einsetzte.

    Doch die Ausbeutung der Kameruner Bevölkerung auf den Plantagen, beim Straßen- und Eisenbahnbau war eine räuberische Praxis. Außerökonomischer Zwang spielte dabei eine bedeutende Rolle. Die zukünftigen Arbeitskräfte wurden durch Alkohol gefügig gemacht, die Häuptlinge bestochen. Die Landräuber gingen mit rücksichtsloser Gewalt vor, die Sterblichkeit unter den Arbeitern nahm riesenhafte Ausmaße an. Die jährliche Todesrate lag 1913 unter den Eisenbahnarbeitern bei 13, ein Jahr später bei 16 Prozent. Bereits die Strapazen des Marsches zu den Baustellen überlebten viele der oftmals aneinander gefesselten Arbeiter nicht. In einer der ersten kolonialkritischen Untersuchungen, die in der DDR erschienen, heißt es hierzu: »Hungerlöhne, übermäßig lange Arbeitstage, ungenügende Ernährung, mangelhafte Unterkünfte, Frauen- und Kinderarbeit, ein zerrüttetes Familienleben, ein früher Tod, Prügel- und Kettenstrafen – das war das Los der Arbeiter in Kamerun.«5 Solche Formen der Ausbeutung und Unterdrückung verbunden mit Methoden der Vertreibung großer Teile der afrikanischen Bevölkerung von Grund und Boden führten zu passivem und auch aktivem Widerstand. Die Kolonialregierung reagierte: Zwischen 1906 und 1914 erhöhte sich die Anzahl der Strafurteile von jährlich 3.150 auf 11.229; die Zahl der Gefängnisstrafen stieg von 3.516 auf 5.452 und die der Prügelstrafen von 924 auf 4.800 im Jahr 1909.

    Zur Wahrheit gehört auch der Hinweis, dass die deutschen Kolonialsoldaten nicht besonders zahlreich waren, im Jahre 1900 waren nur 15 deutsche Offiziere und 23 Unteroffiziere in Kamerun stationiert. Die Majorität der Kolonialtruppe machten sogenannte Askaris, einheimische paramilitärische Polizeikräfte, und zum Teil in anderen europäischen Kolonien angeheuerte afrikanische Truppen aus. Sie standen, während des Ersten Weltkrieges auf fast 10.000 Mann aufgestockt, alle unter deutschem Befehl.

    »Musterkolonie« Togo

    Die flächenmäßig kleinste afrikanische Kolonie des deutschen Kaiserreichs war Togo. Das Land galt als »Musterkolonie«, weil man es so stark ausbeuten konnte, dass die dort niedergelassenen Händler, Farmer, Beamten und sonstigen Deutschen kein Verlustgeschäft machten und der Staatshaushalt nicht belastetet wurde. Als wenn ein Kapitalist je einen Pfennig investiert hätte, der nicht Gewinn versprach! Die finanziellen »Verluste« in den anderen deutschen Kolonien trugen die Steuerzahler zu Hause im Reich, also vor allem die Arbeiter.

    Trotz Gewaltanwendung bei der militärischen Unterwerfung und bei der Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft erhob sich die einheimische Bevölkerung in Togo nicht. Der Historiker Peter Sebald schreibt: »Es ist festzustellen, dass das Kolonialregime auf allen Gebieten scharfe Konflikte mit der Bevölkerung verursachte. Wenn es nicht (…) zu größeren Aufständen kam, dann besonders, weil die fortgeschrittenere gesellschaftliche Entwicklung der afrikanischen Bevölkerung (…) den deutschen Kolonialismus zur Anwendung differenzierterer Methoden veranlasste.«6 Die deutsche Kolonialverwaltung arbeitete deshalb eher mittels Repressionsmaßnahmen, die von der Justiz abgesichert wurden. Die Zahl der Strafurteile stieg von 1.072 im Jahre 1901/02 auf 6.009 im Jahre 1911/12, die der offiziell verhängten Prügelstrafen von 162 auf 733 im gleichen Zeitraum. Nicht zu unterschätzen ist der andauernde passive Widerstand: Einzelne Personen, zuweilen auch ganze Dörfer, wanderten in die Nachbarkolonien ab.

    Ob subtil oder direkt, spontan oder systematisch: Gewalt wandte die deutsche Kolonialadministration in allen von ihr unterworfenen Gebieten an, denn nach dem wie auch immer vonstatten gegangenen Landerwerb ging es darum, die Bevölkerung, die bislang von der Subsistenz- und Naturalwirtschaft gelebt hatte, nun aber zur Produktion von Mehrwert angehalten werden sollte, zur Arbeit zu zwingen. Die Deutschen führten deshalb Kopf- und Hüttensteuern ein. Wer diese nicht entrichten konnte oder wollte, wurde zur Zwangsarbeit verurteilt. Große Teile der indigenen Bevölkerungen gerieten so in Unfreiheit. Auf Widerstand, sei er aktiv oder passiv gewesen, reagierte die deutsche Kolonialadministration ausnahmslos mit Gewalt. Wer da von »humaner Kolonialpolitik« spricht, will in die Irre führen.

    Anmerkungen:

    1 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 5 (Sitzung am 13.12.1906), Berlin 1906, S. 4057

    2 Vgl. Ulrich van der Heyden: Antikolonialismus und Kolonialismuskritik in Deutschland. In: Joachim Zeller/Marianne Bechhaus-Gerst (Hg.): Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Berlin 2018 (im Druck)

    3 Vgl. Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002

    4 Zit. n. Axel Kuhn (Hg.): Deutsche Parlamentsdebatten, Bd. 1: 1871 bis 1918, Frankfurt am Main 1970, S. 170

    5 Hella Winkler: Das Kameruner Proletariat 1906–1914. In: Helmuth Stoecker (Hg.): Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, Berlin 1960, S. 280

    6 Peter Sebald: Togo 1900–1914. In: Helmuth Stoecker (Hg.): Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1977, S. 124

  • · Hintergrund

    Schulter an Schulter

    Migrantinnen und Migranten bringen Kampferfahrungen mit. Die hiesige Linke muss die Multiethnizität der Arbeiterklasse anerkennen und deren rassistische Spaltung zurückweisen
    Selma Schacht
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    Laut der Internationalen Organisation für ­Migration in Genf starben im Jahr 2017 rund 3.100 ­Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Die tatsächliche Zahl dürfte weit höher ­liegen – Protest vor dem Bundestag gegen die EU-Abschottungspolitik (21.6.2015)

    Im Herbst 2015 schien es, als habe sich das offizielle Österreich für kurze Zeit in ein humaneres Mäntelchen gekleidet. Zehntausende Flüchtlinge erreichten österreichischen Boden, wurden an der Grenze und in den Bahnhöfen der großen Städte von etablierten wie auch spontan gegründeten Hilfsorganisationen und Tausenden freiwilligen Helferinnen und Helfern in Empfang genommen. Innerhalb weniger Wochen wurden eine, für hiesige Verhältnisse riesige, Großdemonstration mit über 70.000 Menschen unter dem Motto »Flüchtlinge willkommen – für eine menschliche Asylpolitik« und ein Solidaritätskonzert »Voices for Refugees« am geschichtsträchtigen Heldenplatz mit über 150.000 Menschen auf die Beine gestellt.

    Doch kehrte die Alpenrepublik nach der Einführung der Grenzkontrollen durch Deutschland und dem damit verbundenen Ende des einfachen »Durchwinkens« der Flüchtlinge wieder zur repressiven »Normalität« zurück. Die sozialdemokratisch angeführten großen Koalitionen hatten in den Jahren zuvor das Asyl- und Fremdenrecht fast im Halbjahresrhythmus massiv verschärft. Die Balkanroute wurde geschlossen, am Grenzübergang Spielfeld zum Nachbarland Slowenien bereits zuvor ein Zaun erbaut, das Bundesheer zum Assistenzeinsatz an die Ost- und Südgrenzen abkommandiert. »Obergrenzen« wurden beschlossen, ein »Asyl auf Zeit« eingeführt und die Familienzusammenführung erschwert. Die inhumane Rechtsprechung gipfelte im Beschluss einer »Notverordnung«, die argumentierte, dass die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit Österreichs durch die hohe Zahl an Flüchtlingen gefährdet sei, weshalb es erlaubt sei, Asylanträge direkt an der Grenze abzulehnen.

    Die rechte Haltung und menschenfeindliche Politik der Kanzlerpartei SPÖ hat auch dazu geführt, dass keinerlei progressiven Aspekte des Flüchtlingsthemas zur Debatte standen, sondern öffentlich die demagogischen Positionen der erzreaktionären bis rechtsextremen Parteien und Medien dominierten. Die logische Folge war ein Erstarken der Rechten und nun eine ebensolche schwarz-blaue Regierung aus ÖVP und FPÖ. Diese sieht in ihrem Programm drastische Verschärfungen der ohnehin schon unmenschlichen restriktiven Asylbestimmungen sowie eine ganze Palette an zusätzlichen Einschränkungen, Schikanen und Entwürdigungen gegen Schutzsuchende vor, gepaart mit einem tief gestaffelten System der Abschottung und einer forcierten Militarisierung der Außengrenzen. Die Themen Asyl, Migration und Sicherheit werden zudem absichtlich in einen Topf geworfen und unter Vorbeten des Mantras von »Law and Order« zu einem xenophoben und repressiven Brei verrührt.

    Ursachen benennen

    Parallel dazu sprechen zwar fast alle politischen Akteure von der Notwendigkeit, die Fluchtursachen zu bekämpfen, ohne aber den systemimmanenten Zusammenhang und die sich gegenseitig und hochschaukelnden Ursachen von Kriegen, bewaffneten Konflikten, Wirtschaftskrise, neokolonialen Handelsbeziehungen, struktureller Gewalt, Armut und sich verschärfenden Klimakatastrophen zu benennen. In Europa werden die Menschen, die vor Elend und Hungertod, vor Krankheiten und Umweltzerstörung fliehen, als »Wirtschaftsflüchtlinge« delegitimiert. Doch es sind der Entzug der Lebensgrundlage, die Ausbeutung und der Ruin ihrer Länder durch das europäische Kapital und die imperialistischen Zentren, die die Menschen zur Flucht veranlassen. Auch mit dieser Verantwortung ist umzugehen, selbst wenn keine klassischen Asylgründe im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (welche also zu erweitern wäre) vorliegen.

    Es sind dieselben kapitalistischen Metropolen, die Krieg, Elend und Hunger in der Welt verbreiten, die den Menschen die Flucht verwehren, die sich abschotten – auch um den Preis Tausender Toter an den EU-Außengrenzen bzw. im Mittelmeer (und von wesentlich mehr in den betroffenen Ländern). Will man die Fluchtursachen tatsächlich bekämpfen und nachhaltig beseitigen, muss man das kapitalistische Globalsystem mit seinen ihm eingeschriebenen Aggressions- und Ausbeutungsverhältnissen sowie Verheerungsprozessen überwinden. Bis dahin stehen die westlichen Metropolen als hauptsächlicher Verursacher auch in der Pflicht, sichere Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, möglichst viele Flüchtlinge aufzunehmen, diese menschenwürdig unterzubringen und ihnen Perspektiven zu eröffnen.

    In der österreichischen Linken finden sich mannigfache Positionen zu den Themen Migration und Asyl, von der oft undifferenzierenden Forderung nach »offenen Grenzen für alle« über den Einsatz für liberale Asylregelungen und eine fortschrittliche Regulierung des Arbeitsmarkts bis hin zu Phantasien von Abschottung aufgrund von »Überlastung« und »Schutz heimischer Arbeitsplätze«. Während zivilgesellschaftliche Initiativen – mit dabei auch viele engagierte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – tagtäglich das Versagen öffentlicher Stellen auszubügeln versuchten, indem sie sich um Unterkunft, Essen, Sprachunterricht und überhaupt ein Mindestmaß an menschlichem Umgang kümmerten und politische Bündnisse im Wochen- und Monatstakt Proteste und Aktionen gegen Gesetzesverschärfungen und Abschiebungen organisierten, leistete sich beispielsweise der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) in sozialpartnerschaftlicher Manier und voller Regierungshörigkeit eine Stellungnahme zur Asylrechtsänderung, die sich gewaschen hatte: »Allerdings ist darauf zu achten, dass die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge mit den wirtschaftlichen, infrastrukturellen und sozialen Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen ist (…), dass die relevanten Systeme (…) gesichert und vor Überlastung geschützt werden (…) Vor diesem Hintergrund verstehen ÖGB und BAK (Bundesarbeitskammer, d. Red.) die Bemühungen der Bundesregierung, auf nationaler Ebene für eine Entlastung zu sorgen.« Wenn Asylrecht und Migration vermischt und vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihres volkswirtschaftlichen »Nutzens« für »den Standort« bewertet werden, dann ordnen sich sozialpartnerschaftliche Gewerkschaften wieder einmal dem neoliberalen Mainstream unter. Statt den Gegensatz zwischen Arm und Reich, oben und unten zu thematisieren, wird der Unterschied von hier und dort, von »autochthon« und »fremd« hochgespielt.

    Doch Lohndumping, Ausgliederungen, Privatisierungen, Subunternehmertum, Prekarisierung usw. gab es auch schon vor den großen Fluchtbewegungen. Und es sind auch nicht die neu gekommenen Kolleginnen und Kollegen, sondern die »alten« hiesigen Unternehmer und das Kapital und sein politisches Personal, welche die Behandlung von Asylbewerberinnen und -bewerbern als Experimentierfeld für die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Menschen im Land ansehen und Migrantinnen und Migranten als Billiglöhner missbrauchen.

    Eine Regulierung des Arbeitsmarktes statt neoliberaler Marktöffnung heißt eben nicht, Grenzzäune hochzuziehen, sondern gegen jegliche diskriminierende Regelungen aufzutreten. Beispiel: Entsenderichtlinie. Gleiches Entgelt und gleiche Rechte für alle muss die Devise sein!

    In der hiesigen Linken stellt die jeweilige Position zur Europäischen Union eine der schärfsten Trennlinien dar. Von der SPÖ und den Gewerkschaften über die Grünen bis zur KPÖ wird an der Mär der Möglichkeit einer »sozialen und ökologischen EU« als »Friedensunion« festgehalten. Eine kritische, ablehnende bis systemüberwindende Sichtweise wird beständig als nationalistisch diskreditiert und solche Positionen in die rechte Ecke gestellt. Doch die Orientierung am Europa der Konzerne, der Banken und des Militärs verhindert gerade eine internationalistische und revolutionäre Perspektive – ausgehend von Klassenkämpfen einer geeinten Arbeiterklasse unabhängig von Pass, Sprache und Aufenthaltsstatus; beginnend mit Kämpfen im nationalen Rahmen für eine progressive Wende im Sozialen, im Gesundheitsbereich, im Bildungswesen, gegen den Militarismus und im Fall von Österreich für die Verteidigung bzw. Wiedererlangung der Neutralität.

    Keine armen Hascherln

    Die Arbeiterklasse, das gilt es endlich zu begreifen, ist objektiv multiethnisch. Logische Folge ist also, dass auch Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten, egal ob »legal« oder »illegal«, anhand ihrer Stellung in den gesellschaftlichen Verhältnissen überwiegend auch Teil der Arbeiterklasse sind – und es insofern auch kein »Wir« und »Die« geben kann und darf. Insofern haben auch alle Organisationen, welche die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt ansehen, so angelegt zu sein und danach zu streben, diese Gleichstellung und Gleichbehandlung auch in der Realität – bei ihrer Themensetzung, hinsichtlich ihrer Funktionärinnen und Funktionäre, ihrer Kampffelder, Publikationen usw. umzusetzen.

    Migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter sind keine armen Hascherln, sondern bringen – auch wenn es natürlich widersprüchliche Tendenzen gibt – oft viel Kampferfahrungen, (gewerkschaftlichen) Aktivismus, linke Ideen bzw. eine migrationsbedingte Widerstandskraft mit. Die Kolleginnen und Kollegen dürfen mitnichten bloß als defiziente Empfänger unserer Solidarität, sondern müssen als aktiv handelnde politische Subjekte wahr- und ernst genommen werden. Inklusion ist die gleichberechtigte (politische, soziale, bildungsmäßige) Partizipation. Das bedeutet auch, gleichberechtigt auf Augenhöhe zu kämpfen!

    Eine Einbindung und Aktivierung migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter setzt den Kampf gegen sozialpartnerschaftliche Vertretungsformen und gewerkschaftliche Hierarchien (»wir für euch«) voraus. Entscheidend ist also auch unsere gemeinsame Fähigkeit, am eigenen Arbeitsplatz, in den Gewerkschaften und über die Branchen hinweg kollektiv Widerstand zu organisieren und die Kämpfe Schulter an Schulter zu führen!

  • · Hintergrund

    Solidarität sichtbar machen

    Vor dem Hintergrund des rechten Vormarsches werden Geflüchtete häufig nur als Problem gesehen. Linke Positionen müssen wieder deutlicher wahrnehmbar werden
    Canan Bayram
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    Seit Jahren fordert die Linke in Deutschland ein Bleiberecht für Flüchtlinge und den Stopp von Abschiebungen – Proteste vor der nigerianischen Botschaft in Berlin (15.10.2012)

    Die neokolonialen Kriege des Westens hinterließen seit 1990 Millionen Tote und machten Dutzende Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Die Migranten aber kommen in Gesellschaften, in denen verschärfte Konkurrenz unter Lohnabhängigen und Entsolidarisierung zu den wichtigsten Waffen im Klassenkampf von oben geworden sind. Der Aufstieg rassistischer und neofaschistischer Organisationen, die demagogisch die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgreifen, begleitet diese Entwicklung wie schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Auf der anderen Seite wird innerhalb der Linken um internationalistische und solidarische Positionen gerungen. Die längst wieder akute soziale Frage steht dabei oft nicht im Mittelpunkt von Debatten. Rückt der Kampf gegen die westlichen Kriege, die eine Hauptursache der Fluchtbewegungen sind, in den Hintergrund? Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Deren Positionen werden hier vorgestellt. In der gestrigen Ausgabe erschienen Beiträge von Günter Pohl und Lorenz Gösta Beutin, heute folgen die von Canan Bayram und Selma Schacht. (jW)

    Es sind nicht Staaten wie Deutschland oder andere europäische Länder, die solidarisch mit Geflüchteten sind, vielmehr sind es die Zivilgesellschaften insbesondere in vielen Ländern in Afrika, Asien und dem Nahen Osten. Staaten wie Pakistan, Jordanien oder auch der Libanon haben die Geflüchteten aus den Nachbarländern aufgenommen. Die Zahl der Binnenvertriebenen ist besonders auf dem afrikanischen Kontinent enorm hoch. Berichte von der Flucht von Nigerianerinnen und Nigerianern vor Boko Haram oder der von Kongolesinnen und Kongolesen vor den mordenden Rebellentruppen haben uns auch hierzulande erreicht. Weniger bekannt sind die Fluchtgeschichten von Menschen, die bereits durch viele afrikanische oder asiatische Länder migrieren mussten, um nach Europa zu gelangen.

    Beobachtet man die Debatten der jüngsten Vergangenheit, so kommt das Gefühl auf, dass wir uns mehr und mehr von einem hilfsbereiten, empathischen und solidarischen Miteinander verabschieden. In der Bundesrepublik hat sich der mediale und politische Sprachgebrauch in den letzten Jahren verschärft. Man spricht von »Flüchtlingswelle« und »Flüchtlingskrise«, wodurch den Menschen die Individualität abgesprochen und damit auch ihr Leid relativiert werden soll. Es soll der Eindruck erweckt werden, dass von den Geflüchteten, das heißt von den sogenannten Fremden, eine Gefahr ausgehen würde, die gesetzlich abgewehrt werden müsste. Dieses Muster ist nicht neu. Schon im Ausländergesetz wurde als »Sonderpolizeirecht« das Recht von Menschen auf Bewegungsfreiheit und Familiennachzug eingeschränkt. In den 1960er Jahren konnte eine Person abgeschoben werden, wenn ihr Beischlaf mit einer Deutschen vorgeworfen wurde. Solche Gesetze und Debatten erzeugen eine Kategorie von Menschen zweiter Klasse, deren Rechte missachtet werden und für die die grundgesetzlich verbriefte Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht gelten soll.

    Nationalistische und rechtsextreme Parteien erhalten in ganz Europa Zulauf. Ressentiments gegenüber Minderheiten nehmen zu. Auch auf europäischer Ebene reagiert man auf Geflüchtete immer häufiger abwehrend. Während manche EU-Mitglieder beispielsweise keine muslimischen Flüchtlinge aufnehmen wollen, verschärft die EU ihre Grenzkontrollen und geht mit der Türkei und anderen Ländern unmoralische und europarechtswidrige Flüchtlingsabkommen ein.

    Entsolidarisierung und Spaltung

    Zunehmend werden die Themen Terror und Kriminalität mit Geflüchteten in Verbindung gesetzt. Der Staat reagiert darauf mit einer fortgesetzter Einschränkung der Bürgerrechte. Der Ausbau der Vorratsdatenspeicherung und der Videoüberwachung treffen uns alle. Jeder muss sich und sein Gegenüber als potentielle Gefahr wahrnehmen, die der Staat kontrollieren können muss. Das führt zur Verletzung unserer Freiheitsrechte und Argwohn untereinander. Sobald man aber seinen Mitmenschen misstraut, befördert das eine Entsolidarisierung und Spaltung in »Wir« und »die anderen«. Hier setzen dann auch schnell die ­Neiddebatten ein. Die oftmals erfundenen Geschichten über Geflüchtete, die in Deutschland angeblich alles bekämen, was sie wollten, sind ein klares Zeichen dieser Spaltung innerhalb der Gesellschaft.

    Neid kommt meist dann auf, wenn es Menschen gibt, die sich abgehängt oder zumindest benachteiligt fühlen. Weil sie zum Beispiel aus ihrer Wohnung ausziehen müssen, da sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Ebenso können sie oftmals gar nicht oder nur eingeschränkt am sozialen und kulturellen Leben teilnehmen. Die Betroffenen befinden sich in einer Lage, aus der sie nur schwer wieder herauskommen – wenn überhaupt. Die Menschen erleben täglich, dass die soziale Gerechtigkeit abnimmt. Dieser Umstand darf jedoch nicht missbraucht werden, um Geflüchtete ­gegen sozial benachteiligte Menschen auszuspielen. Beide Gruppen benötigen Unterstützung, und es muss auch alles dafür getan werden, dass den Betroffenen von der Politik geholfen wird.

    Es bleibt Fakt, dass die Debatten und Maßnahmen vielfach einseitig sind und lediglich auf Abschottung und Verhinderung von Migration abzielen. Dabei wird der Lösungsansatz »Bekämpfung von Fluchtursachen« meist nur als Floskel benutzt oder dient dazu, die Verantwortung von sich zu weisen. So richtig es ist, Fluchtursachen zu bekämpfen, so fragwürdig sind die angewandten Mittel. Deutschland und Europa dürfen nicht versuchen, unabhängig von der Situation der Geflüchteten nur auf die Abschottung durch Abkommen mit Staaten wie der Türkei und Libyen zu setzen. Die finanzielle Unterstützung von Ländern beispielsweise in Afrika und die Verbesserung von Lebensbedingungen vor Ort können nur gelingen, wenn das nicht ausschließlich gewinnorientiert und aus egoistischen Motiven heraus geschieht, sondern vielmehr solidarisch umgesetzt wird. Denn die Abkommen mit den einzelnen Ländern und die Gelder werden nichts Gutes bewirken, solange Europa gleichzeitig die Lebensgrundlage für viele Menschen in den betroffenen Regionen zerstört. Durch Waffenlieferungen schafft Deutschland selbst Fluchtursachen. Auch die unfairen Handelsbeziehungen zwischen der EU und afrikanischen Ländern fördern die Armut und entziehen vielen Menschen die Lebensgrundlage. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zum Beispiel in Afrika Länder existieren, in denen es reiche Eliten gibt und der überwiegende Teil der Bevölkerung in Armut leben muss. Weltweit führen die Auswirkungen des Klimawandels dazu, dass Menschen in ihrer Heimat die Lebensgrundlagen verlieren. Auch die Einhaltung der Klimaziele ist ein wichtiger Beitrag, um Fluchtursachen zu bekämpfen.

    Waffenexporte stoppen

    Ehrlich gemeinte Lösungsansätze müssen unter anderem eine faire Handelspolitik und den sofortigen Stopp von Waffenexporten beinhalten. Europa muss gemeinsam agieren und der zunehmenden Konzentration auf nationalstaatliche Perspektiven und Interessen entgegenwirken. Viele Menschen in Deutschland handeln aber auch solidarisch, das konnte man in den letzten Jahren beobachten. Die nach wie vor große Bereitschaft der freiwilligen und unbezahlten Helferinnen und Helfer ist beeindruckend. Sie sind es, die den Geflüchteten tatkräftig zur Seite stehen – von ehrenamtlichen Sprachkursen und der Hilfe bei Amtsgängen bis hin zur Unterbringung in privaten Wohngemeinschaften und Wohnungen. Sie unterstützen die betroffenen Personen und leben somit tagtäglich ein solidarisches Miteinander. Sie sind die andere Seite der Medaille – auch wenn Rassismus und Populismus allgegenwärtig erscheinen. Die Solidarität der Menschen ist nicht verschwunden. In Zeiten von sozialen Herausforderungen muss sie aber besser sichtbar gemacht werden, sonst droht eine Fokussierung auf die vermeintlichen »Probleme«.

    Die Themensetzung und die Deutungshoheit dürfen dabei nicht den rechten Parteien überlassen werden. Linke Positionen müssen als Gegengewicht zu Rechtspopulismus und Rechtsruck wieder lauter und deutlicher werden. Solidarität und Internationalismus müssen stärker als Korrektiv innerhalb der derzeitigen Debatten fungieren. Denn die universellen Menschenrechte gelten für jede und jeden. ­Migration gab und gibt es solange, wie es Menschen gibt. Wir müssen einen gerechten Umgang damit finden. Ziel muss es sein, allen ein gutes Leben zu ermöglichen. In Deutschland können wir das durch gesellschaftliche Partizipation und Teilhabe unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter und sozialer Situation gewährleisten. Es stellt sich die Frage, wie Erfolge im Kampf gegen Diskriminierung und Ungleichheit in Europa und der übrigen Welt erreicht werden können. Die Kritik an der Globalisierung der Märkte hat den Kampf für die internationale Solidarität in den Hintergrund gerückt. Immer häufiger werden die Fragen der internationalen Gerechtigkeit verkürzt diskutiert. Aber gerade das Thema Flucht führt uns vor Augen, dass es vom Zufall abhängt, ob man in einem sicheren oder unsicheren Gebiet geboren wird und lebt. Diese Ungleichheit kann nur durch internationale Solidarität und weltweit gerechtere Verteilung der Ressourcen überwunden werden. Dabei ist die Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren ein wichtiger Ansatz, um über Austausch und Unterstützung an Stärke zu gewinnen.

  • · Hintergrund

    Den Aufruhr fördern

    Über Voraussetzungen und Ziele linker Politik. Anmerkungen zur Debatte über die notwendigen Reaktionen auf den gesellschaftlichen Rechtsruck
    Lorenz Gösta Beutin
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    Die Offensive von rechts hat auch das linke Lager erschüttert und progressive Positionen aufgeweicht. (Anti-Merkel-Demonstration am 7. Mai 2016 in Berlin)

    Die AfD hat die Koordinaten der Republik nach rechts verschoben: Die immer neuen Asylrechtsverschärfungen sind ein Ausdruck davon. Die Grünen waren bereit, für die Regierungsbeteiligung sogar eine Obergrenze, genannt »atmender Rahmen«, zu akzeptieren. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer von Bündnis 90/Die Grünen bedient rassistische Stimmungen, indem er angebliche Flüchtlinge beim Schwarzfahren fotografiert. Außenminister Sigmar Gabriel fabuliert, Klimaschutz, Gleichstellung oder Datensicherheit seien Themen der »Postmoderne«. Die Sozialdemokratie müsse sich jetzt auch solchen wie »Leitkultur« oder »Heimat« zuwenden.

    Diese Debatte macht vor der Partei Die Linke nicht halt: Oskar Lafontaine, ihr früherer Vorsitzender, meint, die Forderung aus dem Parteiprogramm nach »offenen Grenzen« sei eine des Neoliberalismus. Seine Partei betreibe damit einen »Nationalhumanismus«, weil sie die Flüchtlinge außerhalb der deutschen Grenzen nicht beachte. Ihre Flüchtlingspolitik sei »genauso falsch wie die der anderen Parteien«, sagte er Ende Dezember im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.

    Grenzenlose Solidarität

    Zwar ist die Ideologie des Neoliberalismus die der »Freiheit«. Diese gilt aber nur für die, die sich das leisten können. Sie gilt für den Warenverkehr, der für die Staaten des globalen Südens nicht viel mehr als die alte kolonialistische Ausbeutung bedeutet. Kurz: Die Freiheit gilt für das Kapital. Für die Nichtbesitzenden, die »Working poor« der Welt, sind dieser Freiheit Schranken gesetzt – durch den Mangel an Kapital oder brutal durch das Grenzregime an den Rändern der kapitalistischen Zentren. Das Gerede »Wir können ja nicht alle aufnehmen« zeugt von einem etatistischen Politikverständnis. Die Linke ist eben nicht in der Situation, entscheiden zu müssen, wer rein darf und wer draußen zu bleiben hat. Linkssein heißt heute, sich dieser inhumanen Logik zu entziehen, sich auf die Seite all derer zu stellen, die Beherrschte eines sich weiter brutalisierenden Systems sind. Deswegen ist die grenzenlose Solidarität die Stärke und nicht die Schwäche linker Bewegungen, zumal in einer Zeit, in der das Kapital längst global agiert.

    Was also wäre den Erzählungen von rechts, dem gesellschaftlichen Rollback entgegenzusetzen? Es wäre eine linke Erzählung von Solidarität, von einer Gesellschaft, die Freiheit und Gleichheit miteinander verbindet. Das klingt theoretisch, ist aber letztlich sehr konkret: Zwar ist der rechte Diskurs in der modernen Aufmerksamkeitsökonomie der Medien enorm präsent. Doch sind es Millionen Menschen, die in den sozialen Netzwerken, in den Vereinen und Verbänden, in Bündnissen und Gewerkschaften und nicht zuletzt in der Linkspartei der Rechtsentwicklung etwas entgegensetzen.

    Wenn von einer »Sammlungsbewegung« die Rede ist, sollte darunter nicht das Phantasma einer »linken Volkspartei« verstanden werden. Das hieße, dem Irrglauben aufsitzen, Bewegungen wären etwas, was von oben in Gang gesetzt werden könnte. Im Zweifelsfall wäre das Ergebnis nicht mehr als ein autoritärer Wahlverein. Für die Linkspartei müsste eine Sammlungsbewegung vielmehr bedeuten, sich noch stärker zu öffnen, offensiver die eigenen Zukunftsvorstellungen in die Öffentlichkeit zu tragen, mit dem Mut zu sagen, dass es in letzter Konsequenz eben um eine ganz andere Gesellschaft geht, jenseits des Kapitalismus. Die Partei müsste sich als organisierendes Zentrum innerhalb der gesamten Linken betrachten, die gesellschaftliche Gegenmacht bündelt und in die Parlamente trägt. In der aktuellen Debatte sind dazu zwei Fragen zu klären: In den Wahlauswertungen des letzten Jahres war die Rede davon, die Milieus der Wählerinnen und Wähler der Linkspartei hätten sich verändert. Weniger Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern mehr Menschen aus urbanen, modernen Milieus hätten sie gewählt. Wer so interpretiert, fällt auf die Verfechter des Neoliberalismus herein, der die Parzellierung der Gesellschaft perfektioniert hat. Sicher nimmt sich die selbständige »Crowdworkerin«, die 60 Stunden in der Woche auf sich gestellt am Laptop arbeitet, nicht unbedingt als Teil der »Arbeiterklasse« wahr. Auch Pflegekräfte sehen sich, nach ihrem Status befragt, eher als »Angestellte«, nicht als »Arbeiter«. Auch darin manifestiert sich die Spaltung der Gesellschaft.

    Das Verbindende aufzeigen

    Aufgabe linker Politik müsste sein, das Verbindende der Milieus aufzuzeigen, ohne deren Verschiedenheiten zu negieren. Das Gemeinsame: Keiner gehört zur Seite des Kapitals, keiner verfügt über die Produktionsmittel, alle sind in der ein oder anderen Weise von Lohnzahlungen oder Sozialleistungen abhängig, kurz: Sie befinden sich nicht auf der Seite der Herrschaft im Kapitalismus. Damit haben sie etwas gemeinsam mit der großen Mehrheit der Menschheit, ob in den kapitalistischen Zentren oder in der Peripherie. Sich dieses Bewusstsein wieder zu erarbeiten und es öffentlich zu vertreten, ist sicher nicht einfach angesichts der jahrzehntelang eingetrichterten neoliberalen Ideologie. Es sollte aber Ausgangspunkt jeder Frage nach politischer Organisierung sein.

    Die zweite Frage ist die nach den Politikfeldern. Rechte agitieren gegen Geschlechtergerechtigkeit, den Kampf gegen den Klimawandel, Antirassismus und Solidarität mit den Flüchtlingen. Eine linke Politik, die in Haupt- und Nebenwiderspruch denkt, ist in gewisser Weise empfänglich für deren reaktionäre Argumentationen, wie sich an Gabriel und Lafontaine zeigt: Zentral seien allein Lohnpolitik und die klassische »Industriearbeiterschaft«, die anderen Themen seien im besten Fall Beiwerk, im schlimmsten Ausdruck von »Postmoderne« oder Neoliberalismus.

    Dem entgegen müsste linke Politik bedeuten, jeden emanzipatorischen Aufruhr gegen Herrschaft, jede subversive Aktion zu unterstützen, die der Erkenntnis dient, dass diese Gesellschaft zum Besseren zu verändern ist, dass ein Leben jenseits kapitalistischer Wertvergesellschaftung erstrebenswert ist: Die Kämpfe um Klimagerechtigkeit, ob sie in Peru oder Indonesien oder im Hambacher Forst bei Köln ausgetragen werden, tragen in sich den Kern der Systemveränderung: Dass es so nicht weitergeht mit dem ungebremsten Wachstum, mit der absoluten Dominanz der Profitlogik, dass nur internationale Solidarität und entschiedenes Handeln dazu führen, dass diese Menschheitsfrage positiv entschieden werden kann; dass längst mehr Menschen vor den Folgen des Klimawandels fliehen – das alles erweitert in notwendiger Weise den Diskurs zur Flüchtlingspolitik. Hier ist längst deutlich, dass Menschen nicht allein vor individueller Verfolgung flüchten, sie verlassen ihre Heimat aufgrund von Hunger in Folge der globalen Erwärmung und einer Exportpolitik, an denen auch deutsche Konzerne und der deutsche Staat einen erheblichen Anteil haben, sie fliehen vor Bürgerkriegen und vor unhaltbaren Zuständen. Solidarität mit den Flüchtlingen bedeutet, sich gegen all diese Fluchtursachen zu wenden. Deutsche Wirtschaftsinteressen werden global abgesichert durch Auslandseinsätze, durch Waffenlieferungen in die Kriege dieser Welt. Wenn sich in Deutschland die Schere zwischen arm und reich weiter öffnet, so geschieht das global in unermesslicher, nie dagewesener Form. Dabei besitzen acht Männer soviel Geld wie 3,6 Milliarden Menschen. Frauen erledigen zwar laut UNO zwei Drittel der weltweiten Arbeit, beziehen aber nur zehn Prozent des globalen Einkommens und verfügen nur über ein Prozent des gesamten Eigentums. Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zeigt sich global noch brutaler als auf nationaler Ebene, auch von den Folgen des Klimawandels sind Frauen und Mädchen stärker betroffen als Männer.

    Deutlich wird: Die Fixierung allein auf eines dieser Themen hieße, auf eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten für linke Politik zu verzichten. Dagegen muss eine emanzipatorische Klassenpolitik in der Lage sein, all diese Ansätze für widerständige Theorie und Praxis miteinander zu verbinden: Antifaschistische und antirassistische Politik gehören genauso dazu wie Antimilitarismus und Friedenspolitik, wie der Kampf gegen die Kohleverstromung und für Klimagerechtigkeit, wie die Kämpfe um gute Arbeit und gute Löhne, gegen das Sanktionsregime von Hartz IV und für die Achtung der Menschenwürde sowie für eine queer-feministische Politik. Linke Praxis bedeutet, das Gemeinsame dieser Bewegungen gegen die Herrschaft herauszuarbeiten, ohne die Notwendigkeit des Handelns in diesen Bereichen in Frage zu stellen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass diese Kämpfe nicht allein im nationalen Rahmen ausgefochten werden, sondern ebenso auf europäischer Ebene und in allen Teilen der Welt. Deshalb ist, nein, muss internationale Solidarität Ausgangs- und Endpunkt jeder linken Politik sein.

  • · Hintergrund

    Fluchtursache Kapitalismus

    Soziale Frage und Flüchtlingselend. Internationale Solidarität muss in diesen Zeiten auch im eigenen Land geübt werden und bedeutet, gemeinsam zu kämpfen
    Günter Pohl
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    Einander fremd. Von der Polizei eskortierte Migranten am 20. Oktober 2015 in der Gemeinde Wegscheid bei Passau

    Die neokolonialen Kriege des Westens hinterließen seit 1990 Millionen Tote und machten Dutzende Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Die Migranten aber kommen in Gesellschaften, in denen verschärfte Konkurrenz unter Lohnabhängigen und Entsolidarisierung zu den wichtigsten Waffen im Klassenkampf von oben geworden sind. Der Aufstieg rassistischer und neofaschistischer Organisationen, die demagogisch die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgreifen, begleitet diese Entwicklung wie schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Auf der anderen Seite wird innerhalb der Linken um internationalistische und solidarische Positionen gerungen. Die längst wieder akute soziale Frage steht dabei oft nicht im Mittelpunkt von Debatten. Rückt der Kampf gegen die westlichen Kriege, die eine Hauptursache der Fluchtbewegungen sind, in den Hintergrund? Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Wir stellen auf diesen Seiten in der heutigen und morgigen Ausgabe die Positionen der vier Diskutanten vor. (jW)

    Internationale Solidarität muss sich heute infolge einer von Kriegen, Verelendung und Umweltbedingungen erzwungenen Migration nicht mehr nur am Erfolg einer Informierung und Mobilisierung hier lebender Menschen für Ereignisse anderswo messen lassen, sondern auch daran, was sie für Menschen tut, die herkommen mussten, um ihrer unerträglichen Situation zu entfliehen.

    Die Unterbringung von Geflohenen und Vertriebenen hat Auswirkungen auf diejenigen Menschen, die schon früher hergekommen sind oder schon immer hier leben, egal welcher Nationalität oder welchen Ursprungs sie sind, mit denen dann fortan der ohnehin schon knappe Wohnraum, prekäre Arbeitsplätze, Bildungschancen oder eine miserable Gesundheitsversorgung zu teilen sind. Das ist durchaus gewollt, wird zumindest billigend in Kauf genommen und führt auch zur Vertiefung von Ressentiments. In kaum einer Stadt werden Flüchtlingsunterkünfte in die Viertel Wohlhabender gesetzt. Und wenn doch, so sind die einheimischen Nachbarn immer noch nicht jenem Druck auf dem Wohnungsmarkt oder dem Arbeitsmarkt ausgesetzt, den die Arbeiterklasse in diesem Land erstens grundsätzlich und zweitens in vielen Städten verschärft wahrnimmt. Hierher geflohene Menschen werden als Lohndrücker missbraucht. Angela Merkel hatte mit ihrem »Wir schaffen das« kaum die Mittelschichten und schon gar nicht die Besitzenden gemeint. »Wir schaffen das« bedeutete von Anfang an, dass die Arbeiterklasse den Gürtel enger zu schnallen habe.

    Internationale Solidarität muss daher heute auch hierzulande geübt werden. »Unsere Willkommenskultur heißt, gemeinsam zu kämpfen«, formulierte die Deutsche Kommunistische Partei 2015 ihren Ansatz. Sie reagierte damit auf die Konkurrenzsituation zwischen denen, die kommen und denen, die schon hier waren. Ein koordinierter Kampf für die gemeinsamen Interessen der Menschen mit und ohne Arbeit, der Menschen mit und ohne deutschen Pass, wird am ehesten allen eine Verbesserung ihrer Situation bringen. Dazu gehören Investitionen in sozialen Wohnungsbau, in das Gesundheitswesen, in Schulen; dafür müssen Hunderttausende Stellen im Kranken- und Pflegebereich, im Baugewerbe und im Bildungswesen geschaffen werden. Der Mindestlohn muss erhöht, der Rüstungsetat zusammengestrichen werden.

    Die Verantwortlichen benennen

    Kriege, Verelendung, vom Menschen verschuldete Umweltkatastrophen – die Analyse der Fluchtursachen ist immer eine, die die Verantwortung des die Menschen und die Natur beherrschenden Wirtschaftssystems nicht ausklammern darf. Wer nicht verinnerlicht, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen, wie es der französische Sozialist Jean Jaurès formuliert hatte, der wird zwar noch einen Zusammenhang zwischen Krieg und Flucht herstellen können, aber bei der Bekämpfung der Fluchtursachen scheitern, wenn er den Kapitalismus nicht bekämpfen will. Wer zwar einerseits davon überzeugt ist, dass zum Beispiel die Fischerflotten von EU-Staaten vor afrikanischen Küsten für die Zerstörung der örtlichen Fischerei verantwortlich sind oder dass EU-Billigexporte in abhängige Staaten die dortige Ökonomie schleifen, aber andererseits die imperialistische Europäische Union weder als solche analysiert noch entsprechend bekämpft, der dringt auch in diesem Fall nicht zum Kern des Problems vor. Und wem klar ist, dass nicht wenige der Umweltereignisse auf den Klimawandel zurückzuführen sind, dann aber das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die nationalen und internationalen Monopole nicht angreifen will, lässt diejenigen, die den Auswirkungen des Klimawandels nur wenig ökonomisches Potential entgegensetzen können, im Stich.

    Der Kapitalismus und damit einhergehend der Imperialismus hat diese Prozesse schon immer befördert, aber im 21. Jahrhundert scheinen sich die negativen Auswirkungen zu potenzieren, noch verstärkt durch eine Zunahme der weltweiten Bevölkerung. Eine solidarische Linke muss also zuallererst den Kampf gegen den Kapitalismus führen – oder sie ist keine Linke. Und sie muss benennen, was denn auf den Kapitalismus folgen soll. Für Kommunistinnen und Kommunisten ist das der Sozialismus. Uneindeutige Begriffe wie »solidarische Gesellschaft«, »nachkapitalistische Ordnung« oder »Wirtschaftsdemokratie« zeugen von einer gewissen Furcht, sich zu bekennen, was bei manchen der linken Aktivisten damit zu tun haben mag, dass sie die Art und Weise kritisieren, wie der Sozialismus im 20. Jahrhundert aufzubauen versucht wurde. Aber es hat vor allem mit der Idee zu tun, man müsse nur irgendwelche »Auswüchse« oder »Fehlentwicklungen des spekulativen Finanzkapitalismus« beseitigen, und schon sei alles wieder so friedlich-freundlich wie im westdeutschen »rheinischen Kapitalismus« der Adenauer-Zeit, der ja inzwischen manchen als Modell dient, die von sich sagen, sie seien Linke. Allein gegen vermeintliche Erscheinungsformen des Kapitalismus zu kämpfen, heißt entweder in ihm einen grundsätzlich guten Kern zu sehen oder Illusionen zu verbreiten.

    Nicht antikapitalistisch zu handeln schmälert natürlich nicht notwendigerweise das Potential für eine solidarische Praxis, aber klassenneutrales Agieren behindert zum einen die Bemühungen um Nächstenliebe und verlängert zum anderen der Klassengesellschaft das Leben. Das unterscheidet im übrigen den Begriff der »internationalen Solidarität« vom Internationalismus, dem als Basis die Klassensolidarität zugrunde liegt, weshalb – der Form nach unmodern, dem Inhalt nach zutiefst aktuell – früher vom »proletarischen Internationalismus« gesprochen wurde.

    Internationalistische Hilfe

    »Die internationale Solidarität ist kein Akt der Barmherzigkeit: Sie ist ein Akt der Einheit von Verbündeten, die in unterschiedlichen Gebieten für die Erfüllung desselben Ziels kämpfen. Das allererste dieser Ziele ist es, die Entwicklung der Menschheit auf das höchstmögliche Niveau zu befördern«, sagte der ehemalige Präsident Moçambiques, Samora Machel.

    Moçambique und andere Staaten des südlichen Afrikas haben den Internationalismus Kubas erfahren, der mithalf, sie in die Unabhängigkeit zu führen. Die veränderte Weltlage führte beim selbst immer noch finanziell und wirtschaftlich blockierten Kuba zu veränderten Formen internationalistischer Hilfe wie der medizinischen Programme, aber sie blieb internationalistisch. Solcher Hilfe liegt das Motto zugrunde: »Solidarität bedeutet nicht zu geben, was man übrig hat – sie bedeutet zu teilen, was man hat.«

    Diese staatlichen Möglichkeiten haben einzelne Linke nicht, oft auch nicht solche, die in Parteien zusammengeschlossen sind. Und wer würde tatsächlich alles teilen können, was er oder sie hat? Hiesige Solidaritätsarbeit kann meist nicht über Sammlungen von Geld oder Informationsveranstaltungen hinausgehen, was den Zustand und die Möglichkeiten der Linken in einem der höchstentwickelten imperialistischen Länder entsprechend beschreibt.

    Aber über karitative und informierende Maßnahmen hinaus können und müssen Linke die Dinge wenigstens benennen, wie sie sind, und aus dieser Analyse heraus an den richtigen Stellen Widerstand entwickeln. Dazu gehört auch, die Gründe anzuführen, die Menschen in die Flucht treiben. Fluchtverursacher Nummer eins sind die Kriege der NATO-Staaten, und dazu gehören die Rüstungsgeschäfte, bei denen Deutschland immer ganz vorn dabei ist. Deshalb sollten auch antiimperialistische Positionen in die Friedensbewegung hineingebracht werden.

    Und es geht darum zu wissen, welche Partner, und sei es auf Zeit, auf dem schwierigen Weg hilfreich sind. Das Beispiel Syrien hat gezeigt, wohin die Unterstützung des »Islamischen Staates« durch imperialistische Mächte geführt hat. Am Ende hat das einzige Land, das von der syrischen Regierung für ein Eingreifen autorisiert wurde, für eine Rückkehr von mehreren Hunderttausend Flüchtlingen gesorgt, nachdem Aleppo vom IS befreit war. Das militärische Eingreifen der Russischen Föderation war eine Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung, territoriale Integrität und Nichteinmischung. Diese Prinzipien sind die wichtigste Bastion gegen kapitalistische Kriege um Rohstoffe, regionale Neuordnung und Umzingelung künftiger militärischer Gegner, wie es die Russische Föderation und die Volksrepublik China sind. Deshalb ist die Verteidigung der Vereinten Nationen und ihrer Grundsätze ein wirksames Mittel gegen Flucht und Vertreibung. Und damit ein Akt der internationalen Solidarität.

  • · Hintergrund

    Gesprengte Ketten

    Tansania ist ein Land der Gegensätze, doch die Ideale der Gleichheit leben an der »Wiege der Menschheit« fort
    Jenny Farrell
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    Auch in Daressalams Stadtbezirk Kisutu gehören ambulante Verkäufer zum Straßenbild. Hier leben viele Menschen indischer Abstammung. Bei den beiden Frauen in der Bildmitte ist das an der Kleidung erkennbar

    Die meisten Europäer reisen gewiss vor allem hierher, um auf einer Safari mit der Kamera Jagd auf Elefanten, Giraffen oder Löwen zu machen. Solche Exkursionen habe auch ich eingeplant, in erster Linie aber möchte ich in das ostafrikanische Land am Kilimandscharo, um seinen Menschen zu begegnen. Schon als die aus Los Angeles kommende Maschine vom irischen Dublin abhebt, sind die Weißen unter den Passagieren bereits klar in Unterzahl. Nach dem Umstieg in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba liegt ihr Anteil an Bord endgültig etwa auf dem an der Weltbevölkerung. Die Proportionen des Nordens, des reichen Europas, haben wir hinter uns gelassen.

    Für mich ist es auch ein Wiedersehen nach Jahrzehnten mit Orten aus meiner Kindheit. Zwei Jahre lang, von 1969 bis 1971, habe ich in Tansanias größter Stadt, der am Indischen Ozean gelegenen Metropole Daressalam, gelebt. Seit 1974 ist das in der Landesmitte gelegene Dodoma die offizielle Hauptstadt, doch die Regierung hat bis heute hier ihren Sitz. Dass es mich nach Tansania verschlug, lag an meinem Vater Jack Mitchell, einem Schotten. Er war einem Ruf an die Universität von Daressalam gefolgt, um dort Literatur zu unterrichten. Mein Vater übernahm die Stelle von Professor Arnold Kettle (1916-1986), einem legendären marxistischen Literaturkritiker aus England. Dessen Arbeit setzte er unter anderem dadurch fort, dass er den Studenten Bertolt Brecht nahe und mit ihnen sogar dessen »Tage der Commune« an der Hochschule zur Aufführung brachte. Zu seinen Kollegen zählte auch der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach (geb. 1934) von der Humboldt-Universität in Berlin, der in Daressalam als Gastprofessor wirkte.

    Meine Mutter Renate war DDR-Bürgerin und meine beiden jüngeren Brüder Robin und Colin und ich selbst konnten daher die Schule besuchen, die zur Botschaft des sozialistischen deutschen Staates gehörte. Im Schnitt nur etwa drei Dutzend Kinder lernten dort von der ersten bis zur sechsten Klasse nach DDR-Lehrplan und absolvierten das Pionierleben mit allem Drum und Dran. Sie gehörten zu Diplomatenfamilien oder denen von Lehrern und Ausbildern, vor allem in technischen Bereichen und aus dem Gesundheitswesen, die nach Tansania entsandt worden waren. Auch die Kinder des damaligen tansanischen Außenministers Stephen Mhando, der mit einer Leipzigerin verheiratet war, und ein Mädchen aus Mosambik waren unter meinen Mitschülern. Meine Mutter gab während unseres Afrikaaufenthaltes Englischkurse für die Angehörigen der DDR-Diplomaten.

    Ganz reibungslos verlief meine schulische Reintegration nach unserer Rückkehr nach Berlin dennoch nicht. Ich, damals 14, hinterfragte im Biologieunterricht die Beschreibung der Ethnien. Warum hatten andere dicke Lippen statt wir Europäer dünne? Waren wir denn nicht alle im Grunde Afrikaner, und wären diese nicht eher berechtigt, als Prototyp zu gelten? Meine Lehrerin war davon nicht so angetan.

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    Hofpause am Mittag: Drei Grundschulen teilen sich einen Hof in der Nähe von Arusha im Norden Tansanias. Jede hat ihre eigene Uniform. Der Besuch der Volksschule für alle Kinder bildete das Fundament einer neuen Bildungspolitik

    Neue Wege

    Es war eine Zeit des Aufbruchs für die Völker Afrikas. Erst wenige Jahre zuvor, 1961 und 1962, hatte die britische Kolonie Tanganjika schrittweise ihre Unabhängigkeit erlangt. Drei Jahre später vereinigte sich das Land, das bis 1918 zum sogenannten Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika gehört hatte, mit der Insel Sansibar zur Vereinigten Republik Tansania. Bis zu seinem Rücktritt 1985 stand mit Julius Nyerere (1922-1999) ein sozialistisch orientierter Lehrer und Katholik an der Spitze des jungen Staates. Er war eine wichtige Symbolfigur für den antikolonialen Kampf in ganz Afrika. Die aus einer Vereinigung der von ihm 1954 gegründeten Tanganyika African National Union (TANU) und ihrer Schwesterpartei auf der autonomen Insel Sansibar ASP 1977 hervorgegangene CCM (»Revolutionäre Staatspartei«) ist bis heute, mittlerweile deutlich pragmatischer orientiert, die bestimmende politische Kraft im Land. Seit 1992 gibt es ein Mehrparteiensystem.

    Dass Nyerere noch immer als »Lehrer (auf Suaheli: Mwalimu) der Nation« in Ehren gehalten wird, ist nicht zuletzt seinen Verdiensten um das Bildungswesen zuzuschreiben. Die Daressalamer Hochschule, 1961 als Ableger der Universität von London entstanden, ist dafür ein wichtiges Beispiel. Nach Aufspaltung der Ostafrikanischen Universität erfolgte 1970 die Gründung der University of Dar es Salaam. Die Bildungsstätte sollte die angestrebte auch akademische Unabhängigkeit des Landes voranbringen.

    Gut an jene Zeit erinnern kann sich Dennis Shio. Vor dem Nationalmuseum nahe des Botanischen Gartens kommen wir zufällig ins Gespräch. Der etwa 70jährige frühere Ökonom erlebte die Universität noch als ein intellektuelles Zentrum der afrikanischen Revolution. Dozenten aus der Sowjetunion, der DDR und Westdeutschland, aus Großbritannien, Irland und Kanada sind ihm im Gedächtnis geblieben. Vor allem linke Wissenschaftler aus aller Welt hätten an der Hochschule gewirkt, berichtet er. Der Lehrkörper hätte damals noch fast ausschließlich aus Weißen bestanden.

    Wie sehr sich das geändert hat, kann ich in diesen Sommertagen des Jahres 2017 bei einem Besuch der Universität beobachten. Der riesige Hauptcampus liegt etwas außerhalb der Stadt. Mittendrin auf einem Hügel liegen Wohnhäuser für die Angestellten. Hier haben auch wir gewohnt. Alles sieht noch so aus, wie ich es in Erinnerung behalten habe. Bei dem einzigen Weißen, der mir auf dem Gelände der Uni begegnet, scheint es sich um einen Studenten zu handeln. Vor der Unabhängigkeit gab es so gut wie keine im Land selbst ausgebildeten Hochschulabsolventen mit einheimischen Wurzeln. Ärzte waren so gut wie nicht vorhanden. Erst unter Nyerere wurde mit internationaler Beteiligung die erste tansanische Akademikergeneration herangebildet.

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    Die Hölle auf Erden: Sansibar war einer der wichtigsten Umschlagplätze im Sklavenhandel. Ein Denkmal erinnert dort an die grausamen Schicksale seiner Opfer

    Das Fundament der neuen Bildungspolitik bildete die allgemeine Volksschulpflicht. Die Kinder sollten von Anfang an gemeinsam, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Glaubensgruppe oder Stammesverband, zu gleichberechtigten Bürgern erzogen werden. Das ist Realität geworden, Schulklassen, die uns begegnen, sind bunt gemischt. Einheitliche Schuluniformen machen die sozialen Unterschiede unsichtbar. Muslimische Mädchen tragen dazu ein standardisiertes Kopftuch und ihre Uniformröcke sind länger. Eine Unterweisung in Religion gibt es nicht im staatlichen Rahmen, sondern die vielen verschiedenen Gemeinschaften pflegen diese in eigenen Schulen an den Sonnabenden. Am weitesten verbreitet sind Islam, Hinduismus und das Christentum in vielen Spielarten, daneben existieren diverse Naturreligionen. In allen Volksschulen findet der Unterricht in der alle mehr als 120 Volksgruppen, mit noch mehr eigenen Sprachen, verbindenden Nationalsprache Suaheli statt.

    In der Sekundarstufe, die nicht mehr unter die Schulpflicht fällt, wird ausschließlich auf Englisch unterrichtet. Englisch ist weiter wichtige Umgangssprache in den ehemaligen britischen Kolonien in Afrika und eine gute Voraussetzung, um sich im Rest der Welt zurecht zu finden. Viele hier sprechen neben ihrer Stammessprache und Suaheli auch etwas Englisch. Abgänger der höheren Schulen, die sich um einen Studienplatz bewerben oder in den Staatsdienst aufgenommen werden wollen, müssen zuvor Militärdienst leisten. Ihre Stammeszugehörigkeit soll hingegen keine Rolle spielen. Anders als in vielen afrikanischen Staaten stehen Unruhen und Konflikte zwischen den Ethnien in Tansania seit langem nicht mehr auf der Tagesordnung.

    Historische Zeugnisse

    Ich unternehme einen Abstecher nach Sansibar. Vor allem die Küsten der Insel mit ihren Traumstränden und Hotels sind ein touristischer Hotspot. Mit dem Flugzeug ist es von Daressalam aus nur ein kurzer Hüpfer, und der Anflug über den Indischen Ozean bietet eine traumhafte Aussicht auf das Eiland. In der Inselhauptstadt, die selbst auch Sansibar heißt und auch sonst wenige besondere Merkmale aufweist, stehen auch einige Plattenbauten. Vor fast einem halben Jahrhundert wurden diese mit Hilfe von Experten aus der DDR errichtet, die hier einheimische Bauleute ausbildeten. Der eine deutsche Staat, der solidarisch auf der Seite der afrikanischen Befreiungsbewegungen stand, hat auch in der Literatur, die den Aufbau des neuen Tansania thematisiert, Spuren hinterlassen. In dem Roman »By the Sea« des bekannten tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah (geb. 1948) aus dem Jahr 2001 bricht ein junger Sansibari nach Leipzig auf, um sich in der DDR beruflich fortzubilden.

    Sansibar, vor allem als Gewürzinsel bekannt, war früher ein wichtiger Umschlagplatz des muslimischen Sklavenhandels – und der letzte des Kontinents. Wo einmal der größte Markt war, im Stone Town genannten, arabisch geprägten historischen Teil von Sansibar-Stadt, steht seit 1873 die Alte Anglikanische Kirche. Die Sklaven mussten in finsteren Kellern hausen, bis sich die portugiesischen Aufkäufer ihrer bemächtigten. Einige Verliese sind noch zu besichtigen. Auch ein in einer Versenkung installiertes Denkmal erinnert an die unmenschlichen Schicksale. Die Skulpturen von Sklaven darin sind mit originalen Eisenketten aneinander gefesselt. Inoffiziell lief das Geschäft mit der menschlichen Ware trotz Verbots durch die Briten 1873 bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts weiter. Die jahrhundertelange arabische Herrschaft über Sansibar beendete erst 1964 eine Revolution endgültig.

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    Bei den Luguru sind die Frauen die Familienoberhäupter. Mit der Herstellung von Muddy-Cake-Stäben aus mineralstoffreicher roter Erde, als Nahrungsergänzung vor allem bei Schwangeren gefragt, verschaffen sie sich ein eigenes Einkommen

    Die Leitideen für das unabhängige Tansania waren von Beginn an Freiheit (auf Suaheli: uhura) und Einheit (umoja). Beide Begriffe untertiteln auch das Staatswappen. Ein eigener Weg zu einem afrikanischen Sozialismus (ujamaa), wie ihn der damalige Staatspräsident Julius Nyerere 1967 in der Arusha-Deklaration umriss, sollte beschritten werden. Einen wichtigen Ausgangspunkt dafür bildete das gemeinsame Eigentum an den natürlichen Ressourcen und den Produktionsmitteln bei den Stammesverbänden, was auch auf nationaler Ebene verwirklicht werden sollte.

    Tansania unterstützte aktiv andere afrikanische Befreiungsbewegungen und die sogenannten Frontstaaten, die in militärische Auseinandersetzungen mit dem Apartheidstaat Südafrika und dessen Vasallen verwickelt waren. Im Land befanden sich Sitze und Radiosender von Organisationen wie der mosambikanischen Frelimo, von ANC und PAC aus Südafrika oder der namibischen Swapo. 1979 marschierten tansanische Truppen in Kampala, der Hauptstadt des Nachbarstaates Uganda, ein und beendeten die blutrünstige Diktatur des »Schlächters von Afrika« Idi Amin (1928-2003), der sich ins Exil absetzen konnte. An diesen Krieg erinnern an vielen Orten Denkmäler. Tansania ist stolz auf seine fortschrittlichen Traditionen, was auch in vielen Gesprächen mit Einheimischen spürbar wird. Die heutige Politik hat viele Konzessionen an den Westen gemacht, der Privatisierungen als Vorbedingung sogenannter Entwicklungshilfe fordert. Ein neues Gesetz untersagt auch den Saatgutaustausch zwischen den Bauern, eine bewährte, jahrhundertealte Tradition. Nur noch patentierter Samen der Konzerne soll in den Boden gelangen dürfen.

    Verwobene Zeitalter

    Nach der Rückkehr aus Sansibar führt mein Weg von Daressalam landeinwärts. In den Siedlungen herrscht ein reger Handel und Wandel links und rechts der Straße. Verkäufer bieten an, was man so braucht: vor allem Trinkwasser in Flaschen. Fließendes oder wenigstens sauberes Wasser sind rar, vor allem auf dem Land fehlt es an Infrastruktur. Im Angebot sind auch Nüsse, Obst und alles mögliche, bis hin zu Autoreifen und Scheibenwischern. Frauen und Männer transportieren Waren, und das stets auf dem Kopf. Mehr als 200 Kilometer östlich der Metropole liegt die Region Morogoro mit dem Uluguru-Gebirge, an dessen Hängen der Stamm der Luguru siedelt. Hier liegt der Mikumi-Nationalpark, der viertgrößte des Landes. Die meisten weißen Touristen unternehmen ihre Safaris weiter nördlich, sie zieht es vor allem in den Serengeti. Zehntausenden Angehörigen der Masai droht dort die Vertreibung aus ihren angestammten Gebieten, weil diese an reiche Ausländer als Jagdreviere vermarktet werden sollen. Populär sind auch Trips zum höchsten Berg Afrikas, dem Kilimandscharo, oder an die Ausgrabungsstätten früher Menschheitszeugnisse am Ostafrikanischen Grabenbruch.

    Die Luguru praktizieren noch heute eine matriarchale Lebensweise. Die Frauen sind die Oberhäupter ihrer Familien, Besitz wird über die mütterliche Linie vererbt. Großer Besitz ist hier, wie in ganz Tansania, allerdings selten. Ich besuche das Anwesen eines Familenclans am Rande des Mikumi-Parks. Die Frauen sind beim Kochen. Über Holzkohlefeuern hängen große Töpfe. Zubereitet werden meist Gerichte aus Kassava – Süßkartoffeln –, Kochbananen und Fleisch vom Huhn oder Rind. Schnell kommen wir ins Gespräch. In ihrer dominanten Rolle sehen sie keinen Widerspruch zu dem von ihnen praktizierten Islam. Sie seien eben diejenigen, die die Kinder gebären und aufziehen, alles zusammenhalten würden. Und nähme sich ein Ehemann eine zweite Frau, erfahre ich, habe seine erste das Recht, sich ein heimliches Double zu nehmen. Auch an mich haben sie Fragen. Ob es denn stimme, dass bei uns Männer ihre Schwestern heiraten dürften? Wer hält um die Hand des oder der Zukünftigen an? Wie steht es um eine Mitgift? Die auf dem Hof herumlaufenden Kinder haben immer wieder das Bedürfnis, die helle Haut der europäischen Besucher anzufassen und auf ihre Echtheit zu überprüfen. Einer der Väter erzählt lachend, dass er selbst als Kind Weiße in der Nacht für Gespenster hielt, weil deren Gesichter in der Dunkelheit zu sehen waren.

    Meine letzte Station führt mich an den zerklüfteten Südhang des Kilimandscharo. Unterhalb der Baumgrenze gedeiht auf roter Erde inmitten üppiger Vegetation ein hervorragender Kaffee. Nahe der Stadt Moshi besuche ich eine Kooperative, die der Stamm der Chagga betreibt. Neben der Produktion der Bohnen ist man auch am Projekt Kiliman Cultural Tourism beteiligt. An Touristen werden Unterkünfte vermietet und Führungen angeboten. Das schafft für die lokale Bevölkerung mehrerer Gemeinden wichtige zusätzliche Einnahmen. Traditionen werden fortgeführt und kollektiv neue Wege zum Vorteil aller beschritten. Der »Lehrer der Nation« wäre mit seinen Schülern wohl zufrieden.

  • · Hintergrund

    Wettlauf um Afrika

    Bis auf wenige Ausnahmen ist die deutsche Wirtschaft auf dem Kontinent kaum präsent. Die Investitionen sind gering – das könnte sich zukünftig ändern
    Jörg Kronauer
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    Ein »Migrationszentrum« ist schon da und für die Investitionen deutscher Firmen in Ghana soll es bald vorwärts gehen – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 12.12.2017 in der Hauptstadt Accra

    »Bleibt zu Hause!« So fasste die Deutsche Welle durchaus zutreffend den Tenor der öffentlichen Stellungnahmen zusammen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am ersten Tag seines Besuchs vor zwei Wochen in Ghana abgab. Zunächst hatte er in einem Interview mit der ghanaischen Tageszeitung Daily Graphic mit Blick auf die zahlreichen in die EU strebenden Menschen aus Westafrika erklärt, die Reise durch die Wüste und über das Mittelmeer sei viel zu gefährlich: »Sie kann mit Gefangenschaft, Misshandlung oder sogar Tod enden.« Das wolle er eindrücklich »den Leuten bewusst machen und sie warnen«. Anschließend eröffnete der Bundespräsident in Accra ein »Migrationszentrum«. Dessen Zweck: Es soll Menschen, die auf dem Weg nach Europa aufgegriffen werden, mit der Aussicht auf Hilfe bei der Jobsuche zur Rückkehr bewegen – und ausreisewillige Ghanaer über Möglichkeiten zur Auswanderung nach Deutschland informieren, die freilich fast nicht existieren. Bei so viel Migrationsabwehr wäre der Hauptanlass für Steinmeiers Westafrikareise fast untergegangen: die Unterzeichnung einer Vereinbarung für die »Reformpartnerschaft«, die es deutschen Unternehmen künftig erleichtern soll, in Ghana zu investieren und damit ihre Stellung in Afrika punktuell wieder zu stärken.

    Sinkende Absatzzahlen

    Ein Blick auf die wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Firmen auf dem afrikanischen Kontinent zeigt rasch: An dem alten kolonialen Verhältnis – die Bundesrepublik bezieht Bodenschätze und setzt dort weiterverarbeitete Waren ab – hat sich im Kern nichts geändert. »Industrieprodukte für Rohstoffe«: So überschrieb das Statistische Bundesamt im Jahr 2015 eine trockene Analyse dieser Handelsströme. In der Tat bestanden die deutschen Afrika-Exporte damals zu mehr als 90 Prozent aus Industrieprodukten, während gut die Hälfte der Importe auf Erdgas und vor allem Erdöl entfiel, weitere fünf Prozent auf Bergbauprodukte. Elf Prozent setzten sich aus unterschiedlichen Agrargütern zusammen, ein Drittel davon Kakao, ein Sechstel Tee und Kaffee. Dabei ist es bis heute – abgesehen von geringeren Verschiebungen, die sich aus Schwankungen der Rohstoffpreise und gelegentlichen Wechseln bei den Erdöllieferanten ergeben – geblieben. Im Süden nichts Neues, könnte man meinen.

    Allerdings muss man, um die Bedeutung etwas genauer einzuschätzen, die Afrika heute für die deutsche Industrie besitzt – als Rohstofflieferant und als Absatzmarkt –, ein paar weitere Aspekte hinzufügen. Nummer eins: Der Kontinent hat für hiesige Firmen relativ an Gewicht verloren. Es gab eine Zeit – das war 1954 –, als Afrika sechs Prozent der BRD-Exporte kaufte. 1970 waren es immerhin noch 4,3 Prozent; 1990 war der Anteil auf 2,4 Prozent gesunken, um bis 2000 weiter auf 1,8 Prozent zu schrumpfen. Seitdem hat er sich bei zwei Prozent konsolidiert. Damit habe der Kontinent »für die deutsche Exportwirtschaft nur eine marginale (…) Bedeutung«, konstatierte das Münchener Ifo-Institut im Dezember 2015 kühl in einer Studie, die es im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) angefertigt hat. Gegenüber der internationalen Konkurrenz hat die deutsche Wirtschaft in Afrika dabei nicht nur stagniert, sie ist sogar zurückgefallen: Hielt sie mit ihren Ausfuhren 1992 noch einen Anteil von 14 Prozent am dortigen Absatzmarkt, so kam sie 2013 nur mehr auf fünf Prozent.

    Aspekt Nummer zwei: Die Bedeutung afrikanischer Bodenschätze für die Rohstoffversorgung der Bundesrepublik darf man im großen und ganzen nicht überbewerten. Die Öl- und Gaslieferungen, die vor allem aus Nigeria, Algerien und Ägypten kommen, inzwischen auch aus Angola und, sofern die Milizen vor Ort es zulassen, noch aus Libyen – machen nur ein Zehntel der entsprechenden deutschen Einfuhren aus. Der größte Teil kommt aus Russland (40 Prozent des Öls, 31 Prozent des Gases), aus Europa (Norwegen, Niederlande, Großbritannien), aus Kasachstan und aus Aserbaidschan. Nicht viel anders sieht es etwa bei den Metallerzen aus. Von den deutschen Einfuhren des Jahres 2014, die sich auf 7,3 Milliarden Euro beliefen, stammten nur 14,7 Prozent (1,1 Milliarden Euro) aus Afrika. Die größten Mengen kommen aus anderen Weltregionen, weshalb die Bundesregierung beispielsweise sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit der Mongolei, mit Kasachstan und mit Peru abgeschlossen hat, aber mit keinem afrikanischen Land. Und als der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kürzlich Alarm schlug, die Ressourcen, die man für Zukunftstechnologien benötige, würden knapp, da ging es zum großen Teil um Bodenschätze, die vor allem außerhalb Afrikas zu holen sind: Um Lithium für Elektroautobatterien, das zu rund 75 Prozent in Australien und Chile gefördert wird und in großen Mengen in Bolivien zu finden ist; daneben um Graphit, bei dem ein einziges Land 70 Prozent des Weltmarkts beherrscht – China.

    Freilich sind die Bodenschätze einiger afrikanischer Länder aus unterschiedlichen Gründen immer noch extrem begehrt. Südafrika beispielsweise spielt eine Sonderrolle. Von dort stammten im Jahr 2014 fast 70 Prozent der gesamten deutschen Erzeinfuhren von dem Kontinent; sie hatten einen Wert von 740 Millionen Euro. Hinzu kamen Metallimporte im Wert von einer weiteren dreiviertel Milliarde Euro. Südafrika besitzt unter anderem 42 Prozent der globalen Chrom- und mehr als 90 Prozent der weltweiten Platinreserven; entsprechend bezieht die Bundesrepublik gut zwei Fünftel ihres Platins und zwei Drittel ihres Chroms von dort. Zu den Platinkäufern gehört unter anderem der BASF-Konzern, der einen Teil des erworbenen Rohstoffs direkt in Südafrika weiterverarbeitet. BASF ist Hauptkunde von Lonmin, einem Platinminenbetreiber, dessen Arbeiter vor fünf Jahren in Marikana gegen miserable Arbeits- und Lebensbedingungen protestierten – bis 34 von ihnen am 16. August 2012 erschossen wurden. Eine Untersuchungskommission gab Lonmin eine Mitschuld daran. Eine Entschädigung haben die Familien der Opfer bis heute nicht erhalten – auch nicht von BASF; das schmälerte schließlich den Profit.

    Auch das Bauxit aus Guinea ist in Deutschland sehr begehrt. Das westafrikanische Land, das mit seinen mehr als zwölf Millionen Einwohnern auf Platz 183 von 188 des Human Development Index (eines »Wohlstandsindikators«) liegt, verfügt über die größten Reserven der Welt. Auch in Guineas Bergbauregionen herrschen miserable Verhältnisse: Bergarbeiter klagen über niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und dadurch verursachte Gesundheitsschäden; Anwohner leiden unter drastischer Verschmutzung von Luft und Wasser. Häufig kommt es zu Protesten, zuletzt im April und im September dieses Jahres; beide Male wurde mindestens ein Demonstrant erschossen. Deutsche Unternehmen beziehen mehr als 95 Prozent des Rohstoffs, den sie zur Herstellung von Aluminium benötigen, von dort. Kobalt wiederum, das zur Produktion von Handys oder Autobatterien benutzt wird, kommt zu einem erheblichen Teil aus der Demokratischen Republik Kongo, die über fast die Hälfte der weltweiten Reserven verfügt. Die Arbeitsbedingungen in den kongolesischen Abbaugebieten sind ebenfalls katastrophal. Laut Angaben von Amnesty International schufteten dort im vergangenen Jahr 40.000 Kinder unter miserabelsten Umständen. Laut Amnesty zählen Volkswagen und Daimler zu den Konzernen, die bislang nur völlig unzureichende Bemühungen unternommen haben, wenigstens Kinderarbeit aus ihren Lieferketten fernzuhalten.

    Sonderrolle Südafrika

    Zurück zu Südafrika. Das Land hat für die Bundesrepublik nicht nur mit seinen Rohstoffen eine Sonderrolle inne. Es ist ihr mit Abstand größter Handelspartner auf dem gesamten Kontinent und ihr wichtigster dortiger Investitionsstandort. Rund ein Drittel des deutschen Afrika-Handels wird mit dem Land abgewickelt, das zudem laut Angaben der Bundesbank zwei Drittel der unmittelbaren und mittelbaren deutschen Direktinvestitionen in Afrika absorbiert hat. Zu den Investoren zählen die großen Autokonzerne VW, Daimler und BMW, die alle schon zu Zeiten der Apartheid beste Geschäfte mit dem Land machten, Daimler übrigens auch mit der Lieferung von mindestens 2.500 Unimogs an die südafrikanische Armee – trotz des UN-Waffenembargos. Damals wurden in den deutschen Werken nicht nur die rassistischen Apartheidpraktiken penibel befolgt; schwarze Gewerkschafter mussten auch damit rechnen, bei Streiks festgenommen und auf den Polizeiwachen gefoltert zu werden. Rheinmetall lieferte neben Munition gleich auch noch eine ganze Munitionsabfüllanlage. Entschädigung für Apartheidopfer haben die deutschen Konzerne natürlich nie gezahlt. Dafür hat Rheinmetall im Jahr 2008 die Mehrheit an der südafrikanischen Rüstungsfirma Denel übernommen. Seitdem beliefert »Rheinmetall Denel Munition« (mit Sitz in Cape Town) Staaten, bei denen die deutschen Rüstungsexportvorschriften zu Komplikationen führen könnten. So hat der südafrikanische Rheinmetall-Ableger den Bau einer Munitionsfabrik im saudischen Al-Khardsch organisiert; er betreut das Werk weiterhin.

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    Neben dem Export setzt die deutsche Wirtschaft in Afrika vor allem auf maximale Ausbeutung – Protestveranstaltung im südafrikanischen Marikana, wo 2012 während eines Streiks bei dem vor allem an BASF liefernden Platinminenbetreiber Lomnin 34 Arbeiter erschossen wurden (Aufnahme vom 16.4.2014)

    Deutsche Unternehmen produzieren in Südafrika, dem am stärksten industrialisierten Land des Kontinents, das sich zudem im Rahmen des BRICS-Staatenbundes an einer eigenständigen Politik versucht, zum einen unmittelbar für den dortigen Markt, zum anderen für den Export in weitere afrikanische Länder. Das bringt viel Geld: Im Jahr 2012 konnten die über 350 deutschen Firmen in Südafrika einen Umsatz von knapp 18 Milliarden Euro erzielen. Ableger deutscher Firmen gibt es in nennenswerter Anzahl sonst nur in Nordafrika – in Ägypten sowie im Maghreb. Dort haben die Investitionen allerdings zumeist einen anderen Charakter: Es geht darum, die niedrigen Löhne zur Produktion für den europäischen Markt auszunutzen. Klassisches Beispiel dafür ist Tunesien. Dort beträgt der Mindestlohn aktuell mit 140 Euro im Monat weniger als die Hälfte desjenigen in Rumänien (320 Euro); zugleich ist der Warentransport per Schiff über das Mittelmeer genauso problemlos möglich wie der Landtransport aus Südosteuropa. In Tunesien gehören – so beschreibt es das Auswärtige Amt unverändert bereits seit vielen Jahren – »Textilien (Vorerzeugnisse)« zu den Hauptimporten aus Deutschland; »Textilien (Enderzeugnisse)« zählen zu den wichtigsten tunesischen Exporten in die Bundesrepublik. Der deutsche Kabelhersteller Leoni, der Kfz-Konzernen zuliefert, ist nach eigenen Angaben größter Arbeitgeber in Tunesien, produziert inzwischen aber auch in Marokko und Ägypten, ebenfalls zu niedrigsten Löhnen. Rund 250 deutsche Firmen lassen zur Zeit etwa 55.000 Menschen in Tunesien schuften. Die bekannteste von ihnen ist Steiff, die in Sidi Bouzid Kuscheltiere produziert. Nur einige hundert Meter vom Firmengelände entfernt steckte sich am 17. Dezember 2010 aus Protest gegen die unerträglichen Lebensbedingungen im Land der 26jährige Gemüsehändler Mohammed Bouazizi in Brand – und löste damit die Revolten zunächst in Tunesien, dann auch in weiteren Staaten aus, die als »Arabischer Frühling« bezeichnet werden.

    Waren die Lebensverhältnisse in den Ländern Afrikas, die Rohstoffe liefern und billige Arbeitskraft stellen, ansonsten höchstens noch deutsche Autos und Maschinen kaufen sollen, dem deutschen Establishment eigentlich immer herzlich egal, so hat sich das in den letzten Jahren etwas verändert: Die Massenflucht nicht nur aus dem Maghreb, sondern vor allem auch aus den Staaten südlich der Sahara macht der Bundesregierung zunehmend Sorgen. Die Zeiten, in denen man Reichtum anhäufen konnte, ohne damit rechnen zu müssen, dass die Opfer der neokolonialen Verhältnisse nicht nur für den deutschen Wohlstand schuften, sondern sich auch über Grenzen hinwegsetzen, um in bescheidenstem Maß an ihm teilzuhaben, sind vorbei. Entsprechend hat die deutsche Migrationsabwehr Hochkonjunktur. Nicht nur das Mittelmeer wird abgeriegelt. Schon seit Jahren werden die Polizeien insbesondere der Sahelstaaten hochgerüstet und trainiert – unter anderem mit einem »Polizeiprogramm Afrika« der bundeseigenen Entwicklungsorganisation GIZ –, werden Länder wie Äthiopien, Eritrea und Sudan über die EU mit Grenztechnologie und mit Mitteln zum Bau von Lagern versorgt, um Flüchtlinge schon möglichst weit im Süden zu stoppen. Doch wird das ausreichen, um Europa abzuschotten? Laut aktuellen Schätzungen wird sich die Bevölkerung Afrikas von derzeit 1,2 Milliarden Einwohnern bis zum Jahr 2050 auf 2,5 Milliarden mehr als verdoppelt haben. »Weit über eine Milliarde Menschen werden künftig einen rationalen Migrationsgrund haben«, erklärte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, am 13. November auf einer Veranstaltung der Hanns-Seidel-Stiftung (CSU): »Der Migrationsdruck auf Europa wird zunehmen.« Reicht nun aber bloße Repression auf Dauer wirklich zur gewünschten Abwehr aus?

    Zukunftsstrategien

    Hier kommen Überlegungen ins Spiel, die im Dezember 2015 das Münchener Ifo-Institut geäußert hat. Sie müssen vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums südlich der Sahara sowie der geringen Präsenz deutscher Unternehmen in den Ländern zwischen den nordafrikanischen Küstenstaaten und Südafrika verstanden werden. Der Anteil West- und Ostafrikas am deutschen Export ist seit 1990 recht deutlich geschrumpft, derjenige Zentralafrikas ist genauso vernachlässigbar geblieben, wie er es bereits damals war. Der Grund: Die Mittel- und Oberschichten in den dortigen Ländern, die das Geld haben, um teure deutsche Waren zu kaufen, sind zu schmal, als dass sich der Ausbau breiterer Handelsbeziehungen lohnen würde. Doch wenn die Gesamtbevölkerung sich vergrößert, dann wachsen voraussichtlich auch die Mittelschichten; um künftig von ihren Käufen zu profitieren, sollten die deutschen Exporte »von heute circa zwei Prozent des Gesamtvolumens auf drei Prozent im Jahr 2025 und auf fünf Prozent im Jahr 2050« erhöht werden, rät das ifo Institut. Hinzu komme noch ein weiterer Faktor: Mit dem Bevölkerungswachstum nehme auch die Zahl der Erwerbsfähigen zu; bis 2050 könne sie von heute mehr als 400 Millionen Menschen auf gut eine Milliarde steigen. Gleichzeitig sei damit zu rechnen, dass die Lohnkosten »in allen anderen Weltregionen« deutlich stärker stiegen als südlich der Sahara: »Daher ist mit einer deutlichen Zunahme der relativen preislichen Wettbewerbsfähigkeit Afrikas zu rechnen.« Soll heißen: Wer in den 2020er, vor allem aber in den 2030er und den 2040er Jahren weiterhin Niedriglohnproduktion betreiben will, muss sich rechtzeitig in den zuletzt von der deutschen Wirtschaft vernachlässigten Gebieten des Kontinents festsetzen.

    Dazu sollte zuletzt die Reise von Bundespräsident Steinmeier nach Ghana beitragen. Die »Reformpartnerschaft«, die die Bundesrepublik – in Umsetzung der Beschlüsse des G-20-Afrika-Gipfels vom Juli 2017 in Berlin – mit dem Land eingegangen ist, soll vor allem Investitionen erleichtern und damit deutschen Unternehmen den Weg bahnen. Ghana ist keines der wirtschaftlichen Schwergewichte, von denen es südlich der Sahara nur zwei gibt – Südafrika und Nigeria. Es wird allerdings in Wirtschaftskreisen neben etwa der Côte d'Ivoire, Kenia, Äthiopien und Angola zur »zweiten Reihe« afrikanischer Staaten gezählt, in denen sich trotz begrenzter Märkte immer noch attraktive Geschäfte machen lassen. Aber auf der Rangliste der deutschen Handelspartner taucht es erst auf Platz 89 auf – nach Jordanien und knapp vor Honduras, mit Ein- und Ausfuhren in Höhe von jeweils dürftigen 300 Millionen Euro. Das zeigt, wie sehr hiesige Unternehmen afrikanische Staaten südlich der Sahara in ihren Planungen vernachlässigt haben. Dabei hat Ghana – abgesehen von einer kurzen, heftigen Finanzkrise in den Jahren 2014 und 2015 – seit 2006 ein erstaunliches Wachstum erzielt und wird zu den »African Lions« gezählt, einer Gruppe von Staaten wie Äthiopien und Ruanda, deren Wirtschaft rasch wächst. Ghana böte dem deutschen Kapital neben dem viel größeren, aber als eher schwierig geltenden Nigeria wohl gute Chancen.

    Konkurrenten: Frankreich und China

    Ghana ist nicht das einzige Land, in dem Berlin sich bemüht, die deutsche Wirtschaftspräsenz mit Blick auf den künftig wohl wachsenden Markt zu stärken. Einen Vertrag über eine »Reformpartnerschaft« hat die Bundesrepublik nicht nur mit ihm und mit ihrem traditionellen Niedriglohnstandort Tunesien, sondern auch mit der Côte d’Ivoire geschlossen. Das Land, im Westen an Ghana grenzend, gilt als Wirtschaftszentrum des frankophonen Westafrika. Deutschland bezieht zwar Produkte in einem Wert von fast einer Milliarde Euro aus dem Land – überwiegend Rohkakao –, kann aber nur wenig exportieren, so dass die Côte d’Ivoire in der deutschen Außenhandelsstatistik nicht über Platz 75 hinauskommt, ganz knapp vor Liechtenstein. Der Grund? Frankreich verfügt in der Françafrique, seinen ehemaligen Kolonien, trotz aller PR-Behauptungen von Präsident Emmanuel Macron noch immer über enormen Einfluss (siehe junge Welt vom 18.12.2017, S. 12 f.). Berlin kämpft dagegen an, hat den erhofften Durchbruch aber noch nicht erzielt. Das soll nun mit Hilfe der »Reformpartnerschaft« gelingen. Steht das anglophone Ghana im meist französischsprachigen Westafrika ein wenig isoliert für sich, ist – so formuliert es die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest – die ivorische Hauptstadt Abidjan mit ihrem wichtigen Hafen »gerade dabei, ihre alte Rolle als industrieller Hub für das frankophone Westafrika wiederzuerlangen«: »Von Abidjan aus lassen sich die Länder Burkina Faso, Mali, Niger, Togo und Benin versorgen«. Das passt – in Mali und Niger ist Berlin ja auch anderweitig präsent: mit der Bundeswehr.

    Ob es der Bundesrepublik gelingt, in die Franç­afrique einzubrechen, wird man sehen. Viel Zeit lassen kann sie sich wohl nicht. Im vergangenen Jahrzehnt, in dem die deutsche Wirtschaft allen Appellen zum Trotz nicht so recht in die Gänge kam, ist China zur Nummer eins auf dem Kontinent aufgestiegen. Es ist heute der mit Abstand bedeutendste Handelspartner Afrikas und sein aktuell wichtigster Investor – und es intensiviert seinen Handel und seine Kapitalanlagen weiter. So liefert die Volksrepublik inzwischen etwa 17,3 Prozent der ghanaischen Importe; Deutschland liegt bei 3,9 Prozent. Chinas Investitionen in Ghana wurden zuletzt mit 1,3 Milliarden US-Dollar beziffert, während die deutschen laut Angaben der Bundesbank im mittleren zweistelligen Millionenbereich verharrten. Beijing will im nächsten Schritt den Bau einer 1.400 Kilometer langen Eisenbahnstrecke quer durch Ghana finanzieren, die erstens gewaltige Bauxitvorkommen infrastrukturell erschließen und zweitens das nördliche Nachbarland Burkina Faso anbinden soll. Geplant ist zudem die Errichtung von Wasser- und Solarkraftwerken. Tut China sich mit gewaltigen Infrastrukturprojekten hervor, so haben deutsche Unternehmen in Ghana zuletzt von sich reden gemacht, als sie – eine vom IWF erzwungene Schutzzollsenkung ausnutzend – in großem Stil Hühnerfleisch zu Dumpingpreisen nach Ghana verkauften. Viele einheimische Geflügelzüchter konnten mit den deutschen Fleischkonzernen nicht mithalten und mussten letztlich ihre Betriebe schließen. Dem deutschen Export hat’s genutzt.

  • · Hintergrund

    Welthandelsmacht

    Chinas milliardenschweres Megaprojekt einer »maritimen Seidenstraße« zwischen Ostasien und Europa ist weit vorangeschritten. Diesem Netzwerk von Schiffahrtslinien und Häfen hat die EU wenig entgegenzusetzen
    Burkhard Ilschner
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    Chinesische Waren, chinesische Schiffe, chinesische Häfen. Der Welthandel ist ohne Beteiligung der Volksrepublik undenkbar geworden (Riesenfrachter am Hafen von Qingdao, am Gelben Meer im Nordosten Chinas)

    Die Volksrepublik investiert viele Milliarden, die Bundesrepublik ist in Sorge. Die chinesische »Belt and Road«-Initiative (BRI) veranlasst den deutschen Chefdiplomaten in Beijing, Michael Clauss, zu scharfen Tönen: Das Konzept sei »sinozentrisch«, kritisierte der Botschafter und verlangte im Namen Deutschlands und Europas mehr Mitsprache. Das wirft die Frage auf: Mit welchem Recht?

    Mit der Initiative strebt die Volksrepublik China seit 2013 die Schaffung eines wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerks von der eigenen Pazifikküste über Zentralasien, Arabien, Ostafrika und Nahost bis Westeuropa an, dessen Namensgebung eine bewusste Referenz an die alte »Seidenstraße« darstellt: Auch damals schon waren chinesische Waren – darunter eben auch die in Europa begehrte Seide – nicht nur über Land (auf der eigentlichen »Seidenstraße«) durch die Mongolei und Iran bis nach Syrien, sondern auch auf verschiedenen Seewegsrouten über den Indischen Ozean gen Westen bis nach Arabien und Ägypten gelangt. Einzig die bis 1869, dem Jahr der Eröffnung des Suezkanals, ja noch nicht durchgängig bestehende Verbindung zwischen dem Roten und dem Mittelmeer verhinderte eine durchgehenden Transport der Waren per Schiff.

    Im Sommer dieses Jahres hat das »Internationale Maritime Museum Hamburg« in einer eindrucksvollen Sonderausstellung an die kommerziellen und kulturellen Beziehungen zwischen China und Europa entlang der »Maritimen Seidenstraße« zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert erinnert. Die Schau ist eine Leihgabe des chinesischen Guangdong-Museums aus Guangzhou, der Metropole am Perlflussdelta: Es heißt, die vorangegangene Forschungsarbeit habe maßgeblich zur Entwicklung der BRI und zur Wiederbelebung der frühneuzeitlichen Idee eines überseeischen Netzwerks beigetragen.

    In der Volksrepublik erwuchs daraus 2015 ein offizielles Konzept der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission. Es trägt den Titel »Vision und Aktionen zum gemeinsamen Aufbau des Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtels und der Maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts« und prägt damit auch die aktuellen Begriffe: Der »Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtel« soll das neue Netzwerk transkontinentaler Landverbindungen sein, der Begriff »Maritime Seidenstraße« meint ein Netzwerk von Schiffahrtslinien und Häfen, an denen chinesische Unternehmen beteiligt sind. Hinter diesem Terminus steht auch, wie es in dem von der Kommission erarbeiteten Papier heißt, die Absicht, »strategische Triebkräfte für die Hinterlandentwicklung« zu fördern, also Kooperationen mit anderen Ländern zum Aufbau einer an den Anforderungen der Hafenwirtschaft orientierten Infrastruktur anzustreben.

    Beide Netze zusammen bilden die besagte »Belt an Road«-Initiative, die in den aktuellen Fünfjahresplan der Volksrepublik integriert wurde. Folgerichtig gilt sie damit als strategische Zielsetzung eigenen politischen Handelns, auch in der Absicht, andere Staaten in ein solches Netzwerk zu integrieren. Sie beschwört den »Geist der Seidenstraße« als historisches und kulturelles Erbe: »Frieden und Zusammenarbeit, Offenheit und Inklusivität, gegenseitiges Lernen und gegenseitiger Nutzen.« Daran wird sich China messen lassen müssen.

    Von der Realität eingeholt

    Der Umstand, dass Züge Container aus China bis nach Duisburg, Hamburg und Rotterdam transportieren, überrascht schon lange niemanden mehr. »China kommt schneller, als manch einer es wahrhaben will« – das formulierte ein Bremerhavener Logistikexperte in den späten 1980er Jahren: An der dortigen Hochschule wurde damals – die Sowjetunion befand sich in der Ära Gorbatschow im Umbruch – aus der Sicht westeuropäischer Hafenbetreiber über die Wiederbelebung der »Transsib«-Eisenbahn zwischen Moskau und Wladiwostok diskutiert. Dabei wurden auch die Möglichkeiten einer Verlängerung der Schienentrasse bis nach China oder eine Beschleunigung der Transporte über den Seeweg geprüft: von Fernost per Großschiff bis ins Mittelmeer und von dort entweder via »Short Sea Shipping« über Gibraltar oder über transalpine Trassen auf dem Landweg nach Nordwesteuropa.

    Etliche dieser 30 Jahre alten Ideen sind heute – zu Lande wie zu Wasser – längst verwirklicht, andere von der Realität längst überholt worden, und das nicht immer zum gesellschaftlichen Nutzen: Erinnert sei hier beispielhaft an den oft beschriebenen, steuerlich hoch subventionierten Gigantismus westeuropäischer und nicht zuletzt deutscher Reeder, den China- bzw. Fernosthandel mit immer größeren Schiffen bis Nordwesteuropa zu organisieren und dabei hiesige Hafenstädte unter Druck zu setzen, ihre Terminals und Wasserwege diesem Vorhaben anzupassen. »Short Sea Shipping« zwischen mediterranen und hiesigen Häfen dagegen ist heute inzwischen meist dem intrakontinentalen Warenaustausch vorbehalten.

    Im Frühjahr dieses Jahres prophezeite der Chef des halbstaatlichen norddeutschen Hafenlogistikers Eurogate, Thomas Eckelmann, der interkontinentale Warenverkehr von Ostasien nach Europa werde sich zunehmend auf den Mittelmeerraum konzentrieren. Daraus sprachen sehr wohl eigene Interessen. Denn für das »Transshipment« genannte Umladen vom Riesenfrachter mit 22.000 Standardcontainern (TEU) auf kleinere »Feeder« im Zuge von »Short Sea Shipping«-Konzepten – verfügt Eurogate über sieben ideale mediterrane Standorte zwischen Zypern und Gibraltar.

    Schon während des Suezkanal-Ausbaus wurden Ausweichoptionen um die Südspitze Afrikas geprüft. Heute, im Zuge des Klimawandels, wird über Routen durch die nicht mehr ganzjährig vereiste Arktis geredet. Nur eines fand nicht statt: eine breite Debatte über neue Konzepte zur Vernetzung einzelner Abschnitte der Ostasien-Europa-Verbindung – zur gegenseitigen Entlastung, zum gegenseitigen Nutzen. Dafür mussten erst die Chinesen ihre Initiative präsentieren.

    Seither wird über die neue »Maritime Seidenstraße« zwar gesprochen, aber noch immer wird das Projekt der Volksrepublik überwiegend nur partikular, aus dem Blickwinkel der eigenen Interessen wahrgenommen, statt es als das zu sehen, was es ist: der Entwurf eines globalen Netzwerks. Und längst geht es dabei nicht mehr nur um Visionen. Das Konzept befindet sich bereits in Umsetzung. »Sinozentrik«-Kritik ist da ebenso fehl am Platze wie der Ruf nach »Mitsprache«. China begreift das Netzwerk der »Maritimen Seidenstraße« als ein Angebot zur Partizipation. Nur die Praxis kann daher zeigen, wie ernst Beijing seinen Hinweis auf die vermeintlichen historischen Werte friedlicher Zusammenarbeit meint.

    Zaudern bei EU und BRD

    Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hatte bereits 1998 die (historische) Seidenstraße ein Beispiel für die gelungene Verbindung »grenzüberschreitender Verkehrssysteme mit kultureller Eigenständigkeit und regionalem Selbstbewusstsein« genannt. Daraufhin ging kein Ruck durch die Unternehmer, erfolgte keine eigenständige Initiative von deutscher (oder europäischer) Seite. Die musste erst 15 Jahre später von China ergriffen werden, um die Europäer zu einer Reaktion zu veranlassen.

    Im Juni 2015 beschlossen die EU und China auf ihrem Gipfel in Brüssel, die Kooperation mit der Gründung einer »Konnektivitätsplattform« zu festigen. Damit sollten die »Investitionsoffensive der EU« und die chinesische Seidenstraßen-Initiative verbunden werden. Während allerdings die Volksrepublik die Infrastruktur Zentralasiens und jene für die Schiffahrtslinien auf dem Indischen Ozean für Transporte bis nach Europa im Blick hat, und diese Investitionen in Asien, Mittel- und Osteuropa begehrt sind, beschränkt die EU ihre »Offensive« auf den eigenen Wirtschaftsraum. Offen bleibe, heißt es in einem Papier des in Hamburg ansässigen Deutschen Asien-Instituts vom Dezember 2015, »wie divergierende Interessen zusammengeführt werden können«.

    Brüssel hat sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass China bereits vor Ausrufung der BRI mit der sogenannten 16-plus-1-Initiative einen regionalen Kooperationsansatz gestartet hat, der elf EU-Mitgliedsländer und fünf Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa einschließt. Ein Problem wird darin offiziell nicht gesehen.

    Die EU hat zwar den Charakter der BRI als »Entwicklungsstrategie und Rahmenaufgabe«, die auf Zusammenarbeit fokussiert sei, erkannt – aber über die erwähnte »Konnektivitätsplattform« hinaus bleibt es bislang bei floskelhaften Appellen, eine »blaue Partnerschaft« zwischen China und der Europäischen Union zu etablieren. Aktive Partizipation am längst wachsenden Netzwerk ist nicht wahrnehmbar.

    Auch die Bundesrepublik übt sich in Zurückhaltung. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping am 5. Juli in Berlin führte Bundeskanzlerin Angela Merkel lediglich aus, Deutschland habe »positiv die Anstrengungen zu der sogenannten Seidenstraßen-Initiative begleitet«, und äußerte die vage Hoffnung, dass bei einer Beteiligung eine »transparente Ausschreibung« gewährleistet sei. Auf der vom Bundeswirtschaftsministerium ausgerichteten 10. Nationalen Maritimen Konferenz im April dieses Jahres in Hamburg war von Chinas Plan keine Rede, und das, obwohl dort die maritime Wirtschaft versammelt war, um sich über globale Aktivitäten ihrer Branche zu verständigen.

    Derweil pumpt China längst Geld entlang der »Maritimen Seidenstraße« in Häfen, Infrastruktur und punktuell auch in die militärische Absicherung in den Küstenstaaten. Es gibt unterschiedliche Schätzungen über die finanziellen Größenordnungen, letztlich dürfte der Betrag deutlich über der Marke von umgerechnet einer Billion US-Dollar liegen. Finanziert wird dies unter anderem über die 2015 gegründete »Asian Infrastructure Investment Bank« (AIIB), die ihren Sitz in Beijing hat. Der chinesische Staat hält an der Entwicklungsbank, die in Konkurrenz zu den von den USA dominierten Institutionen Weltbank, IWF und Asiatische Entwicklungsbank gegründet wurde, einen Anteil von 26,1 Prozent und besitzt damit ein Vetorecht. Auch die Bundesrepublik und andere EU-Staaten sind daran beteiligt.

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    Die Hauptroute für Frachter auf der »maritimen Seidenstraße«

    China investiert nicht nur über die AIIB, sondern stellt Mittel für ausländische Infrastrukturprojekte auch auf direktem Wege bereit. So hat Beijing etwa den staatlichen »Seidenstraßen-Fonds« mit umgerechnet 20 Milliarden US-Dollar ausgestattet, staatliche Banken sagten weitere 55 Milliarden US-Dollar zu. Im Zentrum von Hongkong, im »China Overseas Building«, residiert mit der »Maritime Silk Road Society« eine Art PR-Agentur mit Vereinsstruktur, in der im Prinzip jeder Mitglied werden kann. Deren besonderes Augenmerk gilt vor allem jungen Berufstätigen und Studenten aus den ASEAN-Staaten, die ermutigt werden sollen, die entwicklungspolitischen Chancen der BRI zu unterstützen. Bislang scheint Beijing sehr genau darauf zu achten, die Kontrolle zu behalten – nicht nur in der AIIB.

    Große Fortschritte

    So oder so, das Projekt der »Maritimen Seidenstraße« zwischen Ostasien und Europa ist inzwischen weit gediehen, wie ein Blick auf die bisherigen Aktivitäten entlang der Route verrät.

    Die Straße von Malakka, eine Meerenge zwischen Sumatra und Malaysia, ist nautisch und wirtschaftlich eine unverzichtbare Verbindung zwischen Südchinesischem Meer und Indischem Ozean, aber auch ein Nadelöhr, das es strategisch abzusichern gilt. Rund um Singapur – der Stadtstaat an der Südspitze der Malaiischen Halbinsel verfügt über den zweitgrößten Hafen der Welt, an dem Chinas Staatsreederei Cosco bereits Anteile besitzt – bauen chinesische Investoren im südostmalaysischen Johor Baru eine riesige Trabantenstadt für wohlhabende Chinesen, Dienstleister und Händler einschließlich einer Bahnverbindung bis Beijing.

    Weil zu einer effektiven Absicherung auch Alternativen gehören, hat China einerseits Indonesien vorgeschlagen, den Bau von knapp 30 modernen Häfen entlang seiner diversen Küsten zu finanzieren. Andererseits soll in Kuantan im Osten Malaysias sowie in Malakka im Westen des Landes und zusätzlich in Kyaukpyu, an der Küste von Myanmar, in weitere Häfen investiert werden. Im benachbarten Bangladesch baut die Volksrepublik den Hafen von Chittagong aus sowie einen neuen Tiefwasserhafen in Sonadia.

    Im Süden Sri Lankas hat China im Juli 2017 den Hafen von Hambantota zu 70 Prozent übernommen, er soll zum Knotenpunkt des künftigen Warenverkehrs zwischen Südostasien und Afrika werden. Indien verfolgt die Aktivitäten mit Skepsis – wegen Sicherheitsbedenken und aus Sorge, ein Aufschwung in Hambantota könne eigene Häfen ins Abseits drängen. Prompt war Indiens Regierungschef Narendra Modi dem erwähnten BRI-Gipfel im Mai ferngeblieben.

    Im Südwesten Pakistans hat die Volksrepu­blik in Gwadar einen Tiefwasserhafen errichtet, der zwar abseits der »Maritimen Seidenstraße«, aber nahe der strategisch wichtigen Zufahrt zum Persischen Golf liegt. Er wird über eine Eisenbahnlinie an Chinas Südwestprovinz Xinjiang angebunden – Gesamtkosten beider Projekte umgerechnet 54 Milliarden US-Dollar – und soll Drehkreuz zwischen Ostasien, Arabien, Afrika und Europa werden. Via Bahnlinie können zudem chinesische Ölimporte transportiert werden, die derzeit noch per Schiff durch die Straße von Malakka müssen. Zur Deckung des eigenen Energiebedarfs investiert China übrigens in Pakistan in die Kohleverstromung.

    Einen kleinen Brückenkopf leistet sich Beijing auf den Malediven, obwohl die Inselgruppe in der globalen Schiffahrtspolitik eher keine Rolle spielt: Der Ausbau des Flughafens und seine Anbindung an die Hauptstadtinsel Malé mittels einer riesigen Brücke wird von China sowohl finanziert als auch technisch realisiert.

    Im tansanischen Bagamoyo, dem die Insel Sansibar vorgelagert ist, entstehen ein supermoderner Tiefwasserhafen, eine Satellitenstadt, ein Flugplatz und ein Industriegebiet. Das Zehn-Milliarden-Dollar-Projekt wird von China und Oman finanziert. Bagamoyo, etwa 60 Kilometer nördlich von Dar-essalam gelegen, soll nach Fertigstellung dieser Projekte mit dem Landesinneren vernetzt sein, von Mosambik bis Kenia sowie bis zur DR Kongo.

    Mit chinesischem Kapital wurde auch ein Schienen- und Straßennetz vom Hafen im kenianischen Mombasa ins Binnenland und zur Hauptstadt Nairobi finanziert. China hat sich im Gegenzug das Recht einräumen lassen, für geschätzte 25,5 Milliarden Dollar nordöstlich von Mombasa den sogenannten Lamu-Komplex zu bauen – einen Megaport mit 32 Liegeplätzen samt angrenzender Industrieareale und neuen Verkehrskorridoren bis in den Südsudan und nach Äthiopien. Auch hier wird die Energieversorgung durch ein Zwei-Milliarden-Dollar-Kohlekraftwerk gesichert.

    Auf dem Weg zum Mittelmeer hat China seit Sommer 2017 auch einen militärischen Stützpunkt – in Dschibuti am Golf von Aden, direkt neben den Marinehäfen anderer Großmächte. Offiziell soll die Militärbasis nur der Pirateriebekämpfung sowie der Unterstützung von UN-Missionen in Afrika dienen.

    Im Mittelmeer selbst hatte China vor einiger Zeit vergeblich versucht, auf Kreta Fuß zu fassen und in Timbaki einen großen Containerhafen zu bauen. Das dürfte sich erledigt haben, seit die Troika die Griechen unter Alexis Tsipras gezwungen hatte, der chinesischen Reederei Cosco den Hafen von Piräus zu überlassen, sozusagen als Brückenkopf im Mittelmeer. Die Chinesen investieren, der Umschlag nimmt zu – aber die Hafenarbeiter sehen sich gezwungen, »grundlegende Rechte« sowie »Arbeitsrechte und Tarifverträge gegen den Investor« zu verteidigen, wie es im Juni dieses Jahres auf einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hamburg organisierten Diskussionsveranstaltung unter Hafenarbeitern hieß.

    Anfang November hat Portugals Ministerin für Meeresangelegenheiten, Ana Paula Vitorino, in Begleitung von drei Dutzend ­Schiffahrtsmanagern in China über eine Beteiligung Portugals an der »Maritimen Seidenstraße« verhandelt. Umgerechnet etwa 2,5 Milliarden US-Dollar soll Beijing unter anderem in den Ausbau der Containerhäfen von Sines, Lissabon und Leixoes investieren: Portugal wolle sich »als globales logistisches Drehkreuz im Atlantik« aufstellen, sagt Vitorino – für China wäre das ein weiterer Brückenkopf auf der Route nach Nordwesteuropa.

    Dort haben chinesische Firmen heute bereits etliche Beteiligungen, so etwa Cosco neben der in Piräus auch in Rotterdam, die SIPG als Hafenbetreiber von Shanghai im belgischen Zeebrügge; und CK Hutchison – ein privater in Hongkong ansässiger Konzern mit engen Bindungen an die KP-Führung in Beijing – sitzt in Rotterdam, Venlo, Duisburg, Felixstowe, Gdynia und Barcelona. Der Versuch eines chinesischen Konsortiums, in Hamburg Fuß zu fassen und einen fünften Containerterminal zu bauen und zu betreiben, ist zwar spontan auf breite Ablehnung gestoßen – erledigt ist die Sache damit aber längst nicht.

    Laut einer Studie der Londoner Investmentbank Grisons Peak stellt China aktuell vier der zehn größten Hafenbetreiber der Welt sowie vier der 20 größten Schiffahrtslinien. Zudem sind fast zwei Drittel der 50 größten Häfen der Welt entweder in chinesischem Besitz oder abhängig von chinesischen Investitionen; 2010 habe das nur für ein Fünftel von ihnen gegolten.

    »China kommt schneller, als manch einer es wahrhaben will.« Wer heute die chinesische BRI als Bedrohung thematisiert, hat eine Entwicklung verschlafen und frühzeitige Prognosen hiesiger Experten nicht ernst genommen. Wenn gegenwärtig über den chinesischen Plan einer »Maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts« geredet werden muss, dann nur, weil Beijing die Chancen einer derartigen Strategie schneller und klarer erkannt und angepackt hat als hiesige Politiker und Logistiker.

  • · Hintergrund

    Afrika im Fokus

    Die Bundesregierung will im Rahmen ihrer G-20-Präsidentschaft die Geschäftsbeziehungen zum südlichen Kontinent verbessern. Die Europäische Union drängt auf neue Freihandelsabkommen. Aber die lokalen Regierungen verhalten sich längst nicht mehr so willfährig, wie Diplomaten das bisher gewohnt waren
    Wolfgang Pomrehn
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    Nicht nur von seiten der Bevölkerungen sieht sich die EU mittlerweile mit Widerstand gegen die sogenannten Ökonomischen Partnerschaftsabkommen (EPA) konfrontiert. Auch die Regierungen vieler afrikanischer Ländern sind mittlerweile selbstbewusster geworden (Proteste vor dem Büro der Europäischen Union in Nairobi, Kenia, 24.1.2007)

    Die Bundesregierung hat sich während ihrer G-20-Präsidentschaft einiges vorgenommen. »Compact with Africa« (Partnerschaft mit Afrika) nennt sie eine Initiative, mit der die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Kontinent ausgebaut werden sollen. Die Erwartungen sind groß. »Der Afrika-Fokus der deutschen G-20-Präsidentschaft bietet eine historische Chance, die Rahmenbedingungen auf dem afrikanischen Kontinent Schritt für Schritt zu verbessern und so die Entwicklung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln voranzutreiben«, meinte Mitte Juni in Berlin Stefan Liebing, seines Zeichens Vorsitzender des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft.

    Den Mann treibt offenbar eine gewisse Torschlusspanik um: »Im September wird in Deutschland gewählt, und im nächsten Jahr gibt Deutschland die G-20-Präsidentschaft an Argentinien ab. Wenn es bis dahin nicht gelungen ist, die Rahmenbedingungen für Geschäfte in und mit Afrika signifikant zu verbessern, dann wäre die Chance für erfolgreiches Wachstum in Afrika mit deutscher Beteiligung eindeutig vertan.« Hört sich ganz so an, als fürchtet da jemand, beim Rennen um die Logenplätze zu kurz zu kommen.

    Konkurrent China

    Einer der Gründe für diese Eile ist sicherlich die Angst vor der chinesischen Konkurrenz. Westeuropa und die USA hatten in den 1980er und 1990er Jahren die afrikanischen Länder mit Hilfe des Schuldenregimes des Internationalen Währungsfonds solange ausgeblutet, bis der Kontinent im Welthandel vollkommen marginalisiert war. Im Gegensatz dazu baut die chinesische Regierung seit knapp zwei Jahrzehnten ihre Beziehungen mit den »Parias« nach und nach auf. Gemeinsame Erfahrungen im Kampf gegen die einstigen Kolonialmächte waren dabei sicherlich hilfreich. China hat zum Beispiel der Afrikanischen Union 2012 in Addis Abeba ein neues Hauptquartier gebaut und seinen Handel mit der Region von rund zwei Milliarden US-Dollar im Jahre 2000 auf 220 Milliarden Dollar im Jahre 2014 verzwanzigfacht.

    Seit 2009 ist die Volksrepublik für die meisten afrikanischen Länder noch vor der EU und den USA der wichtigste Handelspartner. Chinesische Unternehmen werden mit der tatkräftigen Unterstützung ihrer Regierung auf dem Kontinent immer aktiver. Rund eine Million chinesische Geschäftsleute leben derzeit zwischen Mittelmeer und Kap der Guten Hoffnung. Chinesische Unternehmen bauen Eisenbahnen in Äthiopien, Nigeria und Kenia, rüsten nordafrikanische Staaten mit Mobilfunknetzen aus und errichten Windkraftanlagen in Nigeria, Südafrika und Äthiopien.

    Noch liegen die kumulierten Investitionen der EU und der USA weit vor den chinesischen, aber der Abstand verkleinert sich zunehmend. Im Jahre 2000 machte Chinas in Afrika angelegtes Kapital nur zwei Prozent des dortigen US-Kapitalstocks aus. Im Jahre 2014 waren es bereits 55 Prozent. Laut des Anfang Juni veröffentlichten »World Investment Reports« der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) stieg das Inventar der US-amerikanischen Investitionen in Afrika von 55 Milliarden US-Dollar im Jahre 2010 moderat auf 64 Milliarden US-Dollar im Jahre 2015. Im gleichen Zeitraum legte der Bestand chinesischer Investitionen um 170 Prozent von 13 auf 35 Milliarden US-Dollar zu. Damit ist die Volksrepublik zur Zeit noch die Nummer vier hinter den USA, Großbritannien und Frankreich, dürfte sich aber bei diesem Tempo schon bald an die Spitze der Investoren auf dem Kontinent gesetzt haben.

    Offenbar hat ein regelrechtes Wettrennen um die Gunst der afrikanischen Länder eingesetzt. In vielen von ihnen ist die Wirtschaft in den letzten Jahren kräftig gewachsen. Zum Teil war dies das Ergebnis eines Rohstoffbooms, der inzwischen abgeebbt ist. Unter anderem aufgrund der seinerzeit stark ansteigenden Nachfrage Chinas war der seit den 1970er Jahren anhaltende Preisverfall für Kupfer- und Eisenerz, Bauxit und viele andere Mineralien aufgehalten worden und hatte zeitweise deren Exporteuren seit Mitte des letzten Jahrzehnts reichlich die Kassen gefüllt. Insbesondere hatten auch die Erdölexporteure wie Angola und Nigeria profitiert, wobei der plötzliche Reichtum allerdings der nachhaltigen Entwicklung der heimischen Wirtschaft eher geschadet hat.

    Auch andere, weniger mit natürlichen Ressourcen gesegnete Länder haben ein beachtliches Wachstum hingelegt. Allen voran das an mineralischen Rohstoffen eher arme Äthiopien, eines der bevorzugten Zielländer chinesischer Investitionen. Das Land erlebt seit 2003 einen anhaltenden Boom mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von etwas mehr als zehn Prozent. Zwischen 2000 und 2015 hat sich dort das Bruttonationaleinkommen annähernd verzehnfacht. Umgerechnet auf die Einwohner, ist es in dieser Zeit von 100 auf 590 US-Dollar pro Kopf und Jahr gestiegen. Deutlich aufwärts geht es auch in einigen anderen ostafrikanischen Ländern wie Kenia und Tansania. Allerdings betrug das Wachstum dort meist nur um die sechs Prozent und brach öfter ein.

    In den letzten beiden Jahren war die Entwicklung auf dem Kontinent durchwachsen. Besondere Probleme haben derzeit hingegen die Rohstoffländer, die mit den niedrigen Preisen für ihre Ausfuhren zu kämpfen haben. Deutlich besser ergeht es hingegen Ländern wie Äthiopien (plus 8,3 Prozent), Tansania (7,2 Prozent), Côte d’Ivoire (6,8 Prozent) und Senegal (6,7 Prozent), die allesamt nicht auf den Export mineralischer Rohstoffe fixiert sind. In Klammern jeweils die Wachstumserwartungen der Weltbank für 2017.

    Insgesamt erwartet die Weltbank für die Staaten südlich der Sahara in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent und für 2018 von 3,2 Prozent. Angesichts des weiter hohen Geburtenüberschusses in der Region genügt das kaum, um das – bescheidene – Wohlstandsniveau zu halten. Die momentanen Wachstumsraten, so die Bank in einem Anfang Juni veröffentlichten Ausblick, reichen nicht aus, um die Armut zu verringern.

    Bleibt außerdem die Frage, wer in den besser dastehenden Ländern im einzelnen vom wirtschaftlichen Segen profitiert. Die seit dem Ende des letzten Jahres anhaltenden Unruhen in Äthiopien zum Beispiel deuten eher auf wachsende Ungleichheit, zumindest aber auf Streit um die Verteilung hin. Entzündet hatten sie sich an Plänen, die Landeshauptstadt Addis Abeba auszudehnen. Einwohner, die dafür weichen müssten, beschweren sich über aus ihrer Sicht mangelhafte Entschädigung. Alte ethnische Rivalitäten und ein äußerst autoritärer Regierungsstil trugen ein übriges zur Eskalation bei.

    Großes wirtschaftliches Potential

    Wie dem auch sei, ganz anders als in den beiden verlorenen Jahrzehnten Ende des 20. Jahrhunderts zeigt Afrika heute ein enormes Potential. Zur ökonomischen Dynamik kommt dabei noch das Bevölkerungswachstum hinzu, was zusammengenommen den Kontinent – sollten endlich seine zahlreichen Konflikte eingedämmt werden – nach China und Indien zur übernächsten Lokomotive der kapitalistischen Entwicklung machen könnte. 2014 lebte jeder sechste Erdbewohner in Afrika, 2050 wird es nach den Prognosen der Vereinten Nationen vermutlich jeder vierte sein.

    Diesen vielversprechende Markt hat auch die deutsche Wirtschaft fest ins Visier genommen. Insbesondere erhoffen sich hiesige Hersteller aktuell den Einstieg in die Energieversorgung. Auch hier haben derzeit chinesische Unternehmen die Nase vorn. Im vergangenen Jahr berichtete die Internationale Energieagentur IEA, dass die Volksrepublik gegenwärtig für ein Drittel aller Kraftwerksneubauten südlich der Sahara verantwortlich sei.

    Dort ist noch immer mehr als eine halbe Milliarde Menschen ohne Zugang zum Stromnetz, und in vielen Dörfern wird es sicherlich noch lange so bleiben. Denn aufgrund der überwiegend dünnen Besiedlung vieler Länder ist eine zentralisierte Versorgung meist besonders aufwendig. Abhilfe versprechen jedoch Insellösungen mit Solaranlagen. Die sind inzwischen selbst mit Akkuspeicher so billig, dass sie die günstigste Lösung darstellen. Kostspielige Importe für den Treibstoff von Dieselgeneratoren werden dadurch überflüssig, und viele Menschen, die bisher einen erheblichen Teil ihres Einkommens für Lampenkerosin ausgegeben haben, können dieses nun anders verwenden.

    Derlei Solaranlagen sind allerdings eher kleinteilige Geschäfte, an denen weder deutsche noch chinesische Konzerne ein Interesse haben. Großunternehmen bauen lieber Staudämme wie verschiedene chinesische Firmen am Blauen Nil in Äthiopien oder Gaskraftwerke wie die deutsche Siemens AG in Ghana. Doch noch ist man nicht mit dem Marktzugang zufrieden. »Für den Aus- und Umbau des afrikanischen Energiesektors muss allerdings die Beteiligung privater Investoren am Energiemarkt leichter, sicherer und finanziell attraktiver werden. (…) Die Bundesregierung ist zwar sicher guten Willens – aber immer noch viel zu defensiv«, tadelte Ende April der Afrika-Vereinsvorsitzende Liebing.

    Ihm schwebt analog zu den Hermesbürgschaften für Exporte in Entwicklungsländer unter anderem eine Risikoabsicherung für Entwickler von Energieprojekten vor. Außerdem brauche es »neue Finanzierungs- und Garantieinstrumente«, damit deutsche Unternehmer »den Schritt nach Afrika wagen«, um »die Energiewende zu exportieren«.

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    China ist schon seit langem der wichtigste Wirtschaftspartner vieler afrikanischer Länder und schickt sich an, die USA, Großbritannien und Frankreich bald auch hinsichtlich der Direktinvestitionen zu überholen (Neubau der Eisenbahnstrecke Nairobi­­–Mombasa in Kenia, die kürzlich fertiggestellt wurde, Aufnahme vom 15.10.2015)

    Dabei ist die Bundesregierung durchaus willig. Seit Jahren ist sie wie ihre Vorgängerinnen im Rahmen der Europäischen Union eine der treibenden Kräfte hinter den Verhandlungen über die sogenannten Ökonomischen Partnerschaftsabkommen (EPA). Seit 2007 diskutiert die EU mit zahlreichen Entwicklungsländern über diese Abkommen, die das alte System der Wirtschaftsbeziehungen mit den AKP-Staaten ablösen sollten.

    Bei den AKP-Staaten handelt es sich um 79 überwiegend afrikanische und karibische Staaten sowie die meisten pazifischen Inselstaaten. In der Regel geht es um ehemalige französische und britische Kolonien. Bis 2000 waren sie mit der EU durch die sogenannten Lomé-Verträge verbunden. Seit 2000 bildet das Cotonou-Abkommen den neuen Rahmen. Unter anderem hat der neue Vertrag die bisherigen Privilegien für Agrarexporte aus den AKP-Staaten in die EU 2007 auslaufen lassen. Die Handelsbeziehungen sollen künftig durch die EPAs geregelt werden, die die EU mit den Ländern einzeln bzw. mit regionalen Gruppen aushandelt.

    Sehr weit ist sie damit aber noch nicht gekommen. Zum Teil schleppen sich die Gespräche schon seit zehn Jahren hin. Wie es aussieht, haben die Europäer mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein vieler afrikanischer Regierungen zu kämpfen, die sich inzwischen regelrecht umworben fühlen können. China bringt derzeit mit seiner Initiative »One Belt, One Road« (auf deutsch oft »neue Seidenstraße«) ein umfassendes Programm auf den Weg, um in Zentral-, Süd- und Westasien sowie in Ostafrika die Infrastruktur zu erneuern und die Voraussetzungen für einen intensivierten Warenaustausch zu schaffen. Beijing hat dafür bereits einen 100 Milliarden US-Dollar umfassenden Fonds geschaffen, insgesamt ist von einer Billion US-Dollar die Rede, die für zahllose Projekte mobilisiert werden soll.

    Da wollen andere nicht zurückstehen. In­dien, das sich aus alter Rivalität nicht an Chinas Plänen beteiligen mag, versucht gemeinsam mit Japan ein eigenes Investitionsprogramm für die Region rund um den Indischen Ozean auf die Beine zu stellen. Ende Mai hatte Indiens Premierminister Narendra Modi das Jahrestreffen der Afrikanischen Entwicklungsbank genutzt, um seine Initiative, den »Asia Africa Grow th Corridor« (Asiatisch-afrikanischer Wachstumskorridor), zu verkünden. Unter anderem versprach er als ersten Schritt, afrikanischen Ländern Kreditlinien im Umfang von zehn Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu stellen.

    Teile und herrsche

    Bei soviel Interesse am Ausbau der jeweiligen Handelsbeziehungen, günstigen Krediten und am Ausbau von Häfen, Eisenbahnen und Flughäfen haben es die afrikanischen Staaten inzwischen leichter, wählerisch zu sein. Deshalb mussten die EU-Handelsdiplomaten etwas konsterniert zur Kenntnis nehmen, dass Tansania Nachverhandlungen im EPA der Ostafrikanischen Gemeinschaft mit der EU fordert. Gemeinsam mit Uganda und Burundi verweigert Tansania die Ratifizierung des Vertrags.

    Die anderen beiden Mitglieder der Gemeinschaft, Ruanda und Kenia, haben diesen Schritt hingegen getan. Kenia war dazu vor knapp drei Jahren regelrecht erpresst worden. Weil Nairobi sich zunächst weigerte, seine Unterschrift unter den Vertrag zu setzen, hatte die EU zum 1. Oktober 2014 Einfuhrzölle auf kenianische Schnittblumen und andere Produkte erlassen. Daraufhin kam es in dem ostafrikanischen Land zu Massenentlassungen. 160.000 Jobs sollen betroffen gewesen sein. Kenias Exporteure hätten bis zu gut drei Millionen Euro an Einfuhrzöllen im Monat auf ihre Waren entrichten müssen, berichtete seinerzeit das Afrika-Programm des US-Senders CNBC. Nairobi knickte nach nur zwei Wochen ein und unterschrieb.

    Doch die tansanische Regierung ist sturer. Die unterschiedlichen Haltungen zur Frage des Abkommens sorgen inzwischen für reichlich Spannungen innerhalb der Ostafrikanischen Gemeinschaft, zumal die Europäer weiter mit Zöllen auf Kenias Agrarprodukte drohen. Der letzte Gipfel der Gemeinschaft, der schließlich im Mai stattfand, war wegen dieser Frage mehrfach verschoben worden. Trotz aller Behauptungen, die Entwicklung Afrikas zu unterstützen, hintertreibt die EU mit ihrer Politik offensichtlich die dortige regionale Integration. Zu erkennen ist das schon an der Tatsache, dass nicht mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft als Ganzer verhandelt wird, sondern einzelne Länder unter Druck gesetzt werden.

    Seit 2007 gilt zwischen den sehr ungleichen Wirtschaftsblöcken ein Übergangsabkommen, das die zoll- und quotenfreie Einfuhr von Agrarprodukten aus Ostafrika in die EU ermöglicht, im Prinzip eine Fortschreibung der Lomé-Abkommen. Das EPA sieht die weitere Fortschreibung dieser Regelung vor. Im Gegenzug sollen die ostafrikanischen Staaten ihre Märkte für knapp 83 Prozent der Einfuhren aus der EU öffnen und alle Zölle und Gebühren für diese Waren schrittweise abschaffen. Die Ostafrikanische Gemeinschaft, die eine Zollunion bildet und gemeinsame Außenzölle eingeführt hat, könnte ernsthaft gefährdet werden, sollte Kenia EU-Importe zollfrei ins Land lassen, während andere Mitglieder weiter Zölle erheben.

    Den tansanischen Präsidenten John Pombe Magufuli treiben daher ähnliche Sorgen wie viele Ökonomen Afrikas um. Günstige Industriewaren aus hochentwickelten Staaten könnten eine eigenständige Industrialisierung verunmöglichen. Das Internetportal euractive.de zitierte im Oktober 2014 anlässlich der Verhandlungen zwischen der EU und Kenia entsprechend den zuständigen UN-Wirtschaftsexperten für Ostafrika, Andrew Mold: »Die afrikanischen Länder können mit einer Wirtschaft wie der deutschen nicht konkurrieren. Das führt dazu, dass durch den Freihandel und die EU-Importe bestehende Industrien gefährdet werden und zukünftige Industrien gar nicht erst entstehen, weil sie dem Wettbewerb mit der EU ausgesetzt sind.«

    Auch in Westafrika geht es mit den EPA-Verhandlungen nicht recht voran. Dort stellt sich vor allem Nigeria quer. Dessen Regierung weigert sich standhaft, das sogenannte Partnerschaftsabkommen zwischen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und der EU zu unterzeichnen. Das Abkommen liegt damit für unbestimmte Zeit auf Eis. Die ECOWAS umfasst die westafrikanischen Küstenländer zwischen Nigeria und Senegal sowie Mali, Niger und Burkina Faso.

    Verhandlungen auf Augenhöhe?

    Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht inzwischen einzulenken, vermutlich weil sie befürchtet, dass die Wirtschaftsbeziehungen darunter leiden könnten und deutsche Unternehmen im Rennen um die Infrastrukturprojekte den Kürzeren ziehen. Das Cotonou-Abkommen, das den Rahmen für die EPAs bildet, läuft ohnehin zum Ende des Jahrzehnts aus. Im Februar 2020 ist Schluss, und die EU bereitet sich bereits auf Verhandlungen für ein Nachfolgeabkommen vor.

    Vor diesem Hintergrund versprach die Bundeskanzlerin Mitte Juni, dass einige Verträge nachverhandelt werden müssten. Einige von ihnen seien »nicht in Ordnung«, wurde sie von Nachrichtenagenturen zitiert. Die Äußerungen fielen bei einem Treffen mit europäischen und afrikanischen Nichtregierungsorganisationen im Vorfeld des Hamburger G-20-Gipfels. Sowohl hiesige Entwicklungsorganisationen als auch zahlreiche Gruppen aus diversen afrikanischen Ländern hatten seit 2007 die EPAs wegen der einseitigen Vorteile für Exporteure aus der EU massiv kritisiert. Merkel versprach nun, die Nachverhandlungen im Herbst zum Thema auf dem geplanten Gipfel von EU und Afrikanischer Union zu machen.

    Auch danach werden die Gespräche sicherlich weitergehen, und vielleicht gar nicht mehr so sehr über die alten EPAs, die in einem selbstbewussteren Afrika ohnehin kaum noch durchzusetzen sein werden. Vermutlich müssen sich die EU-Unterhändler, geschwächt durch den anstehenden Austritt Großbritanniens, auf afrikanische Diplomaten einstellen, die über die Zeit nach dem Cotonou-Abkommen auf Augenhöhe sprechen wollen.

    Ob die EU darauf gut vorbereitet ist, erscheint allerdings eher fraglich. Davon zeugt auch die Wahl ihres Chefunterhändlers Pascal Lamy für diese neuen Verhandlungsrunden. Dem französischen Diplomaten und Mitglied der dortigen Sozialdemokraten kann man manches nachsagen, aber sicherlich nicht, dass er für die afrikanischen NGOs ein Sympathieträger wäre. Von 2005 bis 2013 war er Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO und davor EU-Handelskommissar. Als solcher hatte er Ende der 1990er Jahre vergeblich versucht, die EU-Interessen in puncto Ausdehnung der WTO-Befugnisse und Verträge sowie Schutzprivilegien für europäische Konzerne bei deren Operationen in den Ländern des Südens durchzusetzen. Schon möglich, dass sich noch der eine oder andere afrikanische Diplomat daran erinnern wird, dass Lamy ein Mann mit der Brechstange ist. Gleichberechtigung unter den Staaten war ihm in den multilateralen Verhandlungen ziemlich lästig, Verabredungen traf er lieber in kleiner Runde, um diese dann dem Rest der Länder als vollendete Tatsachen vorzusetzen. Im US-amerikanischen Seattle biss er sich damit 1999 auf dem legendären WTO-Gipfel an der unnachgiebigen Haltung der afrikanischen Länder die Zähne aus.