75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Montag, 9. September 2024, Nr. 210
Die junge Welt wird von 2927 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 31.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

»Wer wäre nicht gern Wagner?!«

Zum Tod des Komponisten Wolfgang Rihm
Von Florian Neuner
10.jpg
Gab dem Affen Zucker: Wolfgang Rihm (1952–2024)

Wer in den letzten 50 Jahren in Deutschland mit zeitgenössischer Musik zu tun hatte, kann unmöglich an Wolfgang Rihm vorbeigekommen sein. Nicht nur war der 1952 geborene Komponist rekordverdächtig produktiv und allgegenwärtig auf den Festivals für Neue Musik. Er zählte zu den wenigen Komponisten, deren Werke nicht nur von den Spezialisten für Zeitgenössisches aufgeführt werden, sondern auch von der Starviolinistin Anne-Sophie Mutter und von Dirigenten wie dem hierzulande mittlerweile verpönten Russen Waleri Gergijew in München oder seinem reaktionären deutschen Kollegen Christian Thielemann in Dresden. Für die kommende Saison war er als »Composer in Residence« der Berliner Philharmoniker vorgesehen. Daneben war Rihm einer der mächtigsten Strippenzieher im deutschen Musikleben. Für seine zahlreichen Schülerinnen und Schüler – darunter Rebecca Saunders und Márton Illés – konnte er einiges tun und tat es auch. Im wenig unter Beobachtung stehenden Neue-Musik-Betrieb konnte er lange Jahre dem Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung angehören und den Preis der Stiftung dennoch selbst entgegennehmen.

Zu Rihms Kompositionslehrern zählten Eugen Werner Velte und Karlheinz Stockhausen, Musikwissenschaft belegte er bei Hans Heinrich Eggebrecht in Freiburg. Als er in den 1970er Jahren hervortrat, wurde Rihm neben Peter Michael Hamel oder Manfred Trojahn als wichtigster Vertreter einer »neuen Sensibilität« bzw. »neuen Einfachheit« wahrgenommen, die sich gegen die strenge Nachkriegsavantgarde und ihren Kanon des Verbotenen richtete. Der Musikwissenschaftler Hermann Danuser sieht in ihm den »Hauptrepräsentanten eines neuen musikalischen Expressionismus«, der sich »im Vertrauen auf die Authentizität seines kompositorischen Ichs« »aller Fesseln einer systematischen Kompositionstechnik« entledigt habe; der Komponist Dieter Schnebel sprach von »Individualexpressionismus«. Wortgewaltiger und überzeugender als andere vermochte Rihm diese Richtung auch in seinen Schriften zu vertreten. »Um zu sehen, wer ich bin, muss ich mir ins eigene Fleisch schneiden, mich öffnen und einen Spiegel fragen, was er sieht«, notierte Rihm 1979. »Ich will bewegen und bewegt sein. Alles an Musik ist pathetisch.« Und: »Wer wäre nicht gern Wagner?!«

Pathos, Dringlichkeit und eine niemals nachlassende Energetik sind die Kennzeichen dieser Musik, die gleichwohl immer spiel- und singbar blieb, kompatibel auch für ein philharmonisches Publikum. Wolfgang Rihm trat immer mit großer Geste auf und gab dem bildungsbürgerlichen Affen Zucker. Er zitierte und vertonte Hölderlin, Nietzsche, Rimbaud, Celan oder gleich die Bibel. Dass er wieder Symphonien komponierte, musste in den 70er Jahren als Provokation empfunden werden. Rihm war aber trotzdem kein Vatermörder, sondern mit einer großen Begabung für Freundschaft gesegnet, die ihn u. a. mit Komponisten wie Morton Feldman und Luigi Nono verband.

Rihms Werkverzeichnis ist von staunenswertem Umfang und umfasst Stücke aller Gattungen vom Soloklavierstück bis zum großen Musiktheater. Dem Komponisten der Kammeroper »Jakob Lenz« (Hamburg 1979) attestierte ein Kritiker: »Er geniert sich nicht vor beinahe bittersüßen Klangbildern.« Rihm wagte sich aber auch an Heiner Müllers »Hamletmaschine« (Mannheim 1987) und vertonte 2006 für die Bayerische Staatsoper Botho Strauß. In Werkreihen wie »Vers une symphonie fleuve« oder »Jagden und Formen« ließ ihn die Polarität Fluss und Stillstand nicht los. Morton Feldman berichtete einmal in einer seiner Lectures über den Freund: »Er schreibt unterbrochen! Ich weiß nicht, ob Ihnen in Darmstadt aufgefallen ist, dass er während jedes Konzerts komponiert hat, auch während meines Quartetts.«

In einem Alter, in dem viele ihr Studium noch gar nicht abgeschlossen haben, war Wolfgang Rihm bereits Professor in seiner Heimatstadt Karlsruhe. Dort ist man mächtig stolz darauf, dass der große Sohn seinen Lebensmittelpunkt auch immer dort behielt. Bereits zu seinem 60. Geburtstag wurde ihm in Karlsruhe ein Festival unter dem Motto »Musik baut Europa – Wolfgang Rihm« ausgerichtet; der neue Konzertsaal der Hochschule für Musik, in dessen Foyer die Besucher von einer kitschigen Skulptur des Meisters begrüßt werden, erhielt den Namen »Wolfgang Rihm Forum«. Am Sonnabend ist der einflussreichste deutsche Komponist der Gegenwart in Ettlingen bei Karlsruhe verstorben.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

Regio:

Mehr aus: Feuilleton