75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Montag, 9. September 2024, Nr. 210
Die junge Welt wird von 2927 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 01.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kunst

Ästhetik des Fragments

Wunden des Kolonialismus: Zwei Installationen des französisch-algerischen Künstlers Kader Attia in der Berlinischen Galerie
Von Sabine Lueken
10online.jpg
Zerschlagene Gesichter: Kader Attias »J’Accuse«

»Gueules cassées« – zerschlagene Fressen – überlebensgroß und roh aus dem Holz gehauen begegnen sie uns im abgedunkelten Saal, montiert auf meterhohe Gestelle aus rostigen Armierungseisen. Als stumme Zeugen sind sie ausgerichtet auf einen vor ihnen laufenden Filmausschnitt. »J’accuse« heißt der Film und die gesamte Installation aus dem Jahr 2016, die der französisch-algerische Künstler Kader Attia (geboren 1970 in Dugny, einem nordöstlichen Vorort von Paris), Kurator der zwölften Berlin Biennale 2022, aktuell noch bis zum 19. August in der Berlinischen Galerie präsentiert. Die Büsten hat er in Kooperation mit Künstlern aus dem Senegal aus altem, afrikanischen Holz schnitzen lassen, nach historischen Fotos von Kriegsversehrten.

»Gueules cassées« nannte man in Frankreich Soldaten, die aus dem Ersten Weltkrieg mit schwersten Gesichtsverletzungen zurückkamen und deren Anblick so schlimm war, dass sie sich nirgends zeigen konnten. Mit ihrem Gesicht war auch ihr Ich, ihre Identität, weggeschossen worden. Etliche von ihnen waren Afrikaner, die seit 1913 im gesamten französischen Kolonialreich hunderttausendfach rekrutiert wurden, v. a. in Algerien und »Französisch-Westafrika«, wie z. B. die Tirailleurs sénégalais, die senegalesischen Scharfschützen. Der Regisseur Abel Gance konnte einige dieser Soldaten überreden, 1938 in der zweiten Version seines Stummfilms »J’accuse« (1919) in der prophetischen Schlussszene aus den Gräbern wiederaufzuerstehen, um als zombie­artige »Monster« die Lebenden vor dem kommenden, noch schlimmeren Krieg zu warnen. Vergeblich!

»J’accuse« Ich klage an! war auch der Titel des berühmten offenen Briefs des Schriftstellers Émile Zola vom 13. Januar 1898 an den französischen Staatspräsidenten, in dem er für den zu Unrecht wegen Spionage verurteilten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus eintrat. Seit damals steht die Formulierung »J’accuse« für die mutige, öffentliche Stellungnahme gegen Machtmissbrauch.

Kader Attias künstlerisches Thema ist das »Reparieren« – für ihn ein Grundprinzip der Natur und der Menschheitsgeschichte, eine Form der Wiederaneignung und des Widerstands gegen Vereinnahmung und Zerstörung in einer zunehmend kaputten Welt. »Reparatur« erschafft etwas Neues, aber die Narben bleiben sichtbar. Die Köpfe mit den Spuren der rohen Axtschläge in den Baumkloben, ergänzt durch hölzerne Prothesen für amputierte Gliedmaßen, die Ähnlichkeit der Büsten mit afrikanischen Masken – das erzeugt einen Assoziationsraum, dem man sich v. a. wegen des düsteren Films nicht entziehen kann.

In »The Object’s Interlacing« (2020), dem zweiten Teil der Installation, der durch einen Vorhang vom ersten Saal abgeteilt ist, werfen afrikanische Artefakte mahnende Schatten auf ein Video mit alten Kupferstichen, die von Gewalt und Raub in Afrika seit über 500 Jahren erzählen. Die Objekte sind täuschend echte Kopien von 22 kolonialen Raubgütern, Masken, Totem- und Kultfiguren aus dem Pariser Musée d’Orsay, aus Holz und als 3-D-Drucke reproduziert. Man braucht viel Geduld, um den Ausführungen der Fachleute im Video zu folgen, unter ihnen die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy sowie Nachfahren der Dahomey. Sie sprechen über Fragen der Restitution von Raubgütern aus historischer, juristischer, kunstgeschichtlicher und psychoanalytischer Sicht und über die Bedeutung der Objekte, die sich verändert habe, ebenso wie ihre Funktion an den Ursprungsorten. »Wenn es heißt: Rückkehr der Objekte«, sagt ein afrikanischer Historiker, »wie werden sie zurückkehren? Als Waren? Oder besitzen sie weiterhin die ursprünglichen immateriellen Qualitäten?« Geraubt wurden sie wegen ihres Marktwertes, die europäischen expressionistischen Künstler bestaunten sie später als exotische Kunstobjekte – aber was wurde aus ihrem rituellen, magischen Wert?

In Arbeiten von Hannah Höch, der einzigen Frau unter den Berliner Dadaisten, fand Attia eine »Ästhetik des Fragmentarischen«, die ihn inspirierte. Er wählte sieben Collagen aus dem Bestand der Berlinischen Galerie und des Kupferstichkabinetts als Prolog zu seinen beiden Installationen aus. Damit spannt er einen Bogen zu den Dadakünstlern und deren Antikriegshaltung. Die Dada­isten zerlegten für ihre Werke, was sie vorfanden, und bauten es sichtbar neu zusammen. Bei George Grosz, auch bei Otto Dix, finden sich in vielen Kunstwerken versehrte Soldaten, sie gehörten zum alltäglichen Straßenbild. Höch montierte in ihrer Serie »Aus einem ethnographischen Museum« (1924–1929) Ausschnitte von Körperteilen weißer Frauen aus Modezeitschriften mit Fragmenten von Abbildungen außereuropäischer Kunst und nahm damit kritisch Stellung zum Frauenbild ihrer Zeit. In der Ausstellung wird darauf hingewiesen, dass aus heutiger Perspektive in diesen Arbeiten »kulturelle Aneignungsprozesse« sichtbar würden, die koloniale Machtverhältnisse reproduzierten. Man könnte sie aber auch genau umgekehrt lesen. Als subversives Plädoyer für die Gleichwertigkeit unterschiedlichster kultureller Erscheinungsformen.

Kader Attia: »J’accuse«. Bis 19. August 2024. Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Die Illustrationen in dieser Beilage stammen von der brasilianis...
    03.07.2024

    Aufbruch ins Unbekannte

    Die westliche Hegemonie in Afrika scheint am Ende. Was darauf folgt, ist noch unklar
  • »Wir müssen die unmenschlichen Wege unserer Vorfahren verlassen,...
    21.02.2024

    Folgen der Gewalt

    Berlinale. Eine filmische Dokumentation der Zeit von Frantz Fanon als Leiter der psychiatrischen Abteilung einer algerischen Klinik
  • Ikone in Bewegung: Josephine Baker 1929, fotografiert von George...
    12.02.2024

    Die Showtänzerin

    Die Berliner Ausstellung »Josephine Baker: Icon in Motion« befasst sich mit den Erfolgsstrategien der Künstlerin

Mehr aus: Feuilleton