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Aus: Ausgabe vom 30.10.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theater

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Am Berliner Gorki-Theater adaptiert Sebastian Baumgarten Brigitte Reimanns Roman »Franziska Linkerhand«
Von Sabine Lueken
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»Zu Hause, zwischen halb ausgepackten Koffern, widmete ich mich einer tröstlichen Flasche Wodka und hörte alle meine traurigsten Blues …« – Brigitte Reimann

Linkerhand: Unter heftigem Baustellenlärm treten in der Adaption des Gorki-Theaters von Sebastian Baumgarten (Premiere war am 18. Oktober 2024) gleich drei Franziskas auf die Bühne und deklamieren in barschem, vorwurfsvoll-kämpferischem Ton den Schluss von Brigitte Reimanns zum Klassiker gewordenen, berühmten Roman. Der handelt vom Ringen einer jungen Architektin, Reimanns Alter Ego, mit der Liebe, mit der Arbeit und dem Sozialismus in der DDR. Zehn Jahre schrieb die Autorin daran, zehn Jahre, in denen sie vom geförderten Star der DDR-Literatur zu einer eher skeptischen Beobachterin wurde. »Es muss, es muss sie geben, die kluge Synthese zwischen Heute und Morgen, zwischen tristem Blockbau und heiter lebendiger Straße, zwischen dem Notwendigen und dem Schönen, und ich bin ihr auf der Spur, hochmütig und ach, wie oft, zaghaft, und eines Tages werde ich sie finden.«

Nicht zaghaft, sondern mit erhobenem Zeigefinger demonstrieren die drei Franziskas (Katja Riemann, Alexandra Sinelnikova, Maria Simon) emanzipierte, taffe Durchsetzungsfähigkeit. Alle drei tragen die gleiche blonde Kurzhaarfrisurperücke, gestreiftes Shirt und blaue Hose, manchmal auch einen knallroten Trenchcoat, schmettern ihre Texte ins Publikum. Sie zeigen den ganzen Abend sehr viel mit dem Zeigefinger, auf Dinge und Menschen, als ob sie immer recht hätten. Dabei ist Reimanns Romanfigur eher eine Zweiflerin, mindestens eine Person mit vielen Widersprüchen. Von der Poesie der Romanvorlage bleibt kaum etwas übrig. Neben klischeehaften Figuren gibt es sehr laute Geräusche (Musik und Sounddesign von Hans Könnecke) und wilde Videos, zum Teil KI-animiert (Chris Kondek). Da sprechen Leute übers Wohnen, macht der brasilianische Architekt ­Oscar Niemeyer das Bauhaus schlecht und begeistert sich für seine Planstadt Brasilia. Das von Le Corbusier beeinflusste Konzept der funktionalistisch getrennten Lebensbereiche rational zu planender neuer Städte, die »Charta von Athen« (1933), prägte später den Nachkriegsstädtebau in Ost und West. Baumgarten dokumentiert die Stadtentwicklungsdebatte der 1960er/1970er Jahre mit kaum lesbar über die Leinwand rasenden Texten.

Auch der Roman wird mit Versatzstücken der Vorlage im Schnelldurchlauf abgespult. Zu Beginn erlebt die Heldin das Kriegende als kleines Mädchen. Aleksandar Radenković, Falilou Seck und Till Wonka teilen sich die männlichen Rollen: Vater, Brüder, Professor Reger, Chef Schafheutlin, der »alte Shanghaier« Landauer. Ben, Franziskas große Liebe, ist ein cooler Lederjackentyp, von Liebe nichts zu spüren. Totenstille und Angst vor dem Einmarsch der Russen, Ehemann Nummer eins (»Dieser Strohkopf … ich muss verrückt gewesen sein. Aber er war wahnsinnig schön, wirklich und er wäre vollkommen gewesen, wenn Gott ihn mit Stummheit geschlagen hätte.«) Franziska entscheidet sich für die Provinz, um beim Aufbau einer sozialistischen Musterstadt mitzuwirken. Neustadt, das ist Hoyerswerda, wo Reimann selbst von 1960 bis 1968 lebte. Einmal in der Woche arbeitete sie mit in Brigaden des Kombinats »Schwarze Pumpe« (auch im Video) und leitete, dem »Bitterfelder Weg« folgend, zusammen mit ihrem zweiten Ehemann einen Zirkel schreibender Arbeiter. »Und die Träne ist auch gequollen, gleich am ersten Tag, als ich in diese architektonische Unsäglichkeit einfuhr: Standard, wohin du siehst, Typenhäuser, die schnurgerade Mainstreet … Zu Hause, zwischen halb ausgepackten Koffern, widmete ich mich einer tröstlichen Flasche Wodka und hörte alle meine traurigsten Blues …«, schrieb sie am 3. März 1963, weiß der Programmzettel.

Häuser und Quartiere, nicht »Komplexe«, will sie bauen, »eine Stadt, die mehr zu bieten hat, als einen umbauten Raum, in dem man Tisch und Bett aufstellen kann, keine Fickzellen …«, sondern »Häuser (…), die ihren Bewohnern das Gefühl von Freiheit und Würde geben, die sie zu heiteren und noblen Gedanken bewegen«. Statt dessen bringen sie Alkoholismus, Tristesse, Suizide, Mord und die höchste Geburtenrate der Republik hervor. Kollegin Gertrud, besoffen berlinernd gespielt von Katja Riemann, in Leopardenhose und engem Pulli, hat der Alkohol schon dahingerafft, bevor sie sich umbringt. Franziska scheitert an der Ökonomie. »Wir haben keine Zeit für Spielereien. Wir haben nur eine Aufgabe: Wohnungen für unsere Werktätigen zu bauen, so viele, so schnell, so billig wie möglich«, sagt ihr Chef. Es war der Beginn des industriellen Wohnungsbaus in Plattenbauweise. Das Bühnenbild besteht denn auch aus Fertigteilen künftiger Häuser, die sich wahlweise hoch und runter senken (Architekturbüro Sam Chermayeff Office).

Der Aufbau einer Stadt als Großmetapher für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Der scheitert hier gründlich. So wird aus dem Roman der überzeugten DDR-Bürgerin ein antisozialistisches Pamphlet. Den Schluss des Abends bildet ein Rekurs auf jene Ereignisse in Hoyerswerda im September 1991, bei denen ein rassistischer Mob Jagd machte auf vietnamesische und mosambikanische Vertragsarbeiter. Hatte das seine Wurzeln in der »Unwirtlichkeit« der Stadt? »Der Mensch wird so, wie die Stadt ihn macht, und umgekehrt«, schrieb Alexander Mitscherlich 1965. Und wie geht es weiter? Wie wollen wir wohnen und leben? Das wäre mal ein interessantes Thema.

Nächste Vorstellung: 25. November

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