Jenseits der Mülltonnen
Von Kai KöhlerSamuel Becketts »Endspiel« ist düsterer noch als »Warten auf Godot«. Zentralfigur ist Hamm, der im Rollstuhl auf den Tod wartet und seinen Diener Clov tyrannisiert. Außerdem sind da Hamms Eltern Nell und Nagg, die bei einem Unfall ihre Beine verloren haben und seitdem in Mülltonnen vor sich hin vegetieren. Momente von Zuneigung sind so selten wie die Erinnerung an bessere Zeiten. Vielmehr zeigen sich Überdruss und Bosheit. Bei all dem weist das Stück durchaus eine schwarze Komik auf. Sie beruht aber nicht auf dem Zorn auf die Gründe, aus denen die Verhältnisse nicht besser sind. Das Leben ist nur eine Bewegung hin auf den unvermeidlichen Tod, und aus dieser Sicht stellt sich die Frage, wie das auszuhalten ist.
Becketts Erfolg beruht zum einen auf dieser bequemen Dissidenz: nicht mitzumachen bei oberflächlicher Positivität, doch keinen ernsthaften Gegner zu verärgern. Zum anderen ist die literarische Qualität seiner besten Theaterstücke offensichtlich. Die Sätze haben, gerade wo sie knapp sind, ihre eigene Poesie, und beim Zuhören ergeben sich beinahe musikalische Muster. Damit scheinen sie sich gegen eine Vertonung zu sperren, die ja mit ihrer Musik dem Text eine neue Dimension hinzufügen muss.
Um 2010 begann der damals fast 85jährige György Kurtág mit der Vertonung von Becketts Stück seine überhaupt erste Oper und damit sein – bis heute – umfangreichstes Werk zu schreiben; allein dies ist bereits eine bemerkenswerte Manifestation von Zuversicht. Kurtág arbeitet langsam, skrupulös, und sein Gesamtwerk ist überschaubar. Erst 2018 fand die Mailänder Uraufführung der Oper statt. Schnell wurde deutlich, dass die Musik aus dem Stück nicht nur darum etwas Neues macht, weil sie die pantomimischen Passagen und die zahlreichen von Beckett vorgeschriebenen Pausen zwischen den Sätzen auffüllt und damit interpretiert, vielmehr bekommen die Figuren, indem sie singen, eine emotionale Tiefenschicht. Becketts Nihilismus wird humanisiert, und man kann nicht mehr überhören, wie sehr Nell und Nagg aufeinander angewiesen sind, wie sehr Hamm für seine Erzählungen Zuhörer braucht. Man erträgt sich gegenseitig und vor allem die unzählige Male gehörten Geschichten kaum mehr, aber ohne ein Gegenüber geht es auch nicht. Wer sehr alte Eltern besucht hat, dürfte das kennen.
Kurtágs Musik stützt fast stets den Text und macht es den Sängern leicht, weil er das große Orchester meist kammermusikalisch einsetzt. Das Publikum muss die Ohren aufsperren und wird – wenn es hundert Minuten konzentriert zu hören versteht – reich für die Anstrengung belohnt. Es gibt klangmalerische Effekte: Gelächter oder weckerartigen Lärm, mit dem Hamm seinen Vater zwingt, aufzuwachen und seiner Geschichte zuzuhören. Viel wichtiger aber sind die genau ausgehörten harmonischen Verschiebungen und instrumentalen Abmischungen. Kurtág setzt – neben zahlreichen Schlaginstrumenten – die ungewöhnlichen Klänge der Volksmusikinstrumente Bajan und Cimbalon, Versionen von Akkordeon und Hackbrett, ein. Dies aber verselbständigt sich nie zum Effekt. Es wird wirksam als Beimischung, die an genau einer Stelle den Gefühlswert eines Worts, einer szenischen Bewegung verdeutlicht und verstärkt. Dies kommt einem musiktheatralischen Ideal nahe, ist freilich von einer Dichte, die mehrmaliges Hören erfordert. Dirigent Alexander Soddy leistet jedenfalls das hier Mögliche und bringt die Staatskapelle Berlin am Abend der Premiere am 12. Januar zu maximaler Klarheit und Intensität.
Regisseur Johannes Erath bricht die statische Anlage des Stücks behutsam auf, lässt Nell und Nagg außerhalb ihrer Tonnen agieren, Hamm (oder sein Double) gehen. Die Figuren haben eine bessere Vergangenheit, und sogar in der Gegenwart wollen sie noch was. Damit entsteht eine Spannung auf der Bühne, die Becketts Stück möglicherweise verbessert, Kurtágs Musik jedenfalls angemessen ist. Das Schwarzhumorige, Clowneske des Stücks tritt damit ein wenig in den Hintergrund – trotz Glitterkostüm für Clov und auch wenn Bühnenbildner Kaspar Glarner die letzten Abschnitte in einem umgestürzten Riesenrad spielen lässt und damit den Jahrmarktbezug akzentuiert. Dem aber steht ein Gewinn gegenüber: Man sieht Menschen, die weit mehr als Demonstrationsobjekte des Pessimismus sind.
Und man hört sie. Vier Solisten müssen die gut hundert pausenlosen Minuten tragen. Nell hat im Stück keine umfangreiche Erzählung, doch ist die Rolle bei Kurtág durch ein Beckett-Gedicht, das sie einleitend singt, aufgewertet. Dalia Schaechter gestaltet dies ebenso klar wie Stephan Rügamer als Nagg. Szenisch wie stimmlich präsent ist Bo Skovhus als Diener Clov, mit einem breiten Spektrum an Ausdruck, vom Herr-Knecht-Konflikt bis zum Abschied vor Hamms letzter Phase des Sterbens. Im Zentrum aber steht Hamm, dem einerseits die Eltern ebenso untertan sind wie der Bedienstete, der sich aber andererseits stets hilflos die Gefolgschaft herbeimogeln muss. Ihm sind die meisten Erzählpassagen zugeordnet, in ihnen imaginiert er sich als mächtigen Herren. Laurent Naouri weiß all die Schattierungen, die diese Zwischenposition erfordert, zu vermitteln. Auch sängerisch bringt die Staatsoper Berlin dieses zentrale Werk des Musiktheaters im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts überzeugend auf die Bühne.
Nächste Aufführungen: 15., 21., 24. und 31. Januar
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 19.12.2024
Den Schuss hören
- 10.12.2024
Solange man Ungeheuer bekämpft
- 29.11.2024
Unterm Hirschgeweih
Mehr aus: Feuilleton
-
Troegner, Reinecke, Kann, Wessely
vom 15.01.2025 -
Der Böse stinkt
vom 15.01.2025 -
Rotlicht: Isolationismus
vom 15.01.2025 -
Nachschlag: Kampf gegen die Flammen
vom 15.01.2025 -
Vorschlag
vom 15.01.2025 -
Veranstaltungen
vom 15.01.2025 -
Frieden mit Russland
vom 15.01.2025