Prozess gegen Ankara
Von Tim Krüger![7.jpg](/img/450/205179.jpg)
In Brüssel ist am Mittwoch das Permanent People’s Tribunal on Rojava vs. Turkey eröffnet worden. Die symbolische Gerichtsverhandlung wurde auf Verlangen verschiedener Menschenrechtsorganisationen aus Europa sowie Nord- und Ostsyrien einberufen und soll die türkischen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Norden Syriens beleuchten. Das Permanent People’s Tribunal (PPT) steht in der Tradition der sogenannten Russell-Tribunale, deren erstes 1966 auf Initiative des britischen Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell und des sozialistischen Politikers Ken Coates abgehalten wurde. Das Tribunal sollte damals Menschenrechtsverletzungen sowie Verstöße gegen das Völkerrecht seitens der US-Armee in Vietnam dokumentieren und untersuchen.
Das beim letzten der »Russell-Tribunale« 1979 in der italienischen Stadt Bologna gegründete Permanent People’s Tribunal hat seitdem in mehr als 50 Sitzungen ungeahndete und unbeachtete Menschenrechtsverletzungen angeprangert und symbolisch verurteilt. Das an der Freien Universität Brüssel stattfindende Tribunal soll nun die Folgen und Auswirkungen der türkischen Kriegführung und Besatzungspolitik im Norden Syriens thematisieren und anhand der Schilderungen von Augenzeugen, Betroffenen und Menschenrechtsaktivisten die Verbrechen der türkischen Armee und der mit ihr verbündeten dschihadistischen Milizen belegen. Die Türkei hat seit 2016 vier völkerrechtswidrige Militäroperationen im Norden Syriens durchgeführt und hält weiterhin einen großen Teil syrischen Territoriums besetzt. Giacinto Bisogni erklärte in seiner Rede im Namen des PPT, dass das »Schweigen« das »schlimmste Verbrechen der internationalen Gemeinschaft« sei, und erklärte, es sei das Ziel der Veranstaltung, »die Stimmen der Menschen aus Rojava zu Gehör zu bringen«.
Im Rahmen des weiterhin laufenden Krieges kam es nicht nur zu Hunderten nachgewiesenen gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung. Vielmehr hat die türkische Armee seit November 2022 in mehreren Angriffswellen auch die zivile Infrastruktur, die Energie- und Nahrungsmittelversorgung, Krankenhäuser und Schulen in Schutt und Asche gelegt. Die beiden Juristen Ceren Uysal und Jan Fermon, die im Rahmen des Tribunals Anklage gegen die türkische Regierung erhoben, betonten, dass es sich dabei keineswegs um Kollateralschäden, sondern um »vorsätzliche Kriegsverbrechen« handele. Ziel sei es, so Fermon, durch diese »kalkulierte Strategie« die »lokale Bevölkerung zum Verlassen« der Region zu zwingen, um sie »demographisch umzugestalten«.
Schon 2018 hatten internationale Experten Vorwürfe erhoben, die Türkei führe im Rahmen ihres Besatzungskrieges in der im Nordwesten Syriens gelegenen kurdischen Enklave Afrin ethnische Säuberungen durch. Nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker wurden seit Januar 2018 über 300.000 kurdische Einwohner der Region durch die türkische Armee und ihre islamistischen Hilfstruppen vertrieben und durch arabische und turkmenische Siedler ersetzt. Ibrahim Şexo von der Menschenrechtsorganisation Afrin machte am ersten Tag des Tribunals per Liveschaltung auf die willkürlichen Massenverhaftungen durch die Besatzungsmacht aufmerksam. Auch die organisierte Plünderung der Olivenölindustrie, die Zwangsumbenennung kurdischer Orts- und Straßennamen sowie außerrechtliche Hinrichtungen von Zivilisten wurden zum Gegenstand unterschiedlicher Beiträge. Der zypriotische Anwalt Efstathios C. Efstathiou beschuldigte den türkischen Geheimdienst, mit dieser Strategie auf die Vernichtung der kurdischen Identität der Region abzuzielen.
In Anbetracht des systematischen und planvollen Vorgehens der Besatzungsmacht resümierte Ankläger Fermon, dass »alle Voraussetzungen eines Völkermordes (…) wie Rassismus und der offensichtliche Wille, ethnisches Engineering zu betreiben«, vorhanden seien. Da die türkische Regierung trotz Einladung, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen und sich zu verteidigen, dem Tribunal fernblieb, wird auch am zweiten Tag weiter in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt werden.
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