Genug vom Krieg
Von Gerrit Hoekman
Im Gazastreifen sind in der Nacht auf Donnerstag mindestens 20 Menschen bei israelischen Luftangriffen ums Leben gekommen. Darunter befand sich auch der Hamas-Sprecher Abdul Latif Al-Kanua. Er starb in Dschabalija im Norden der Enklave, als Israel das Zelt angriff, in dem er inzwischen lebte, teilte die Organisation auf Telegram mit.
Unterdessen hat das Medienbüro der Hamas in Gaza die Proteste bestätigt, bei denen am Dienstag mehrere hundert Menschen im Norden des Küstenstreifens ein Ende des Krieges gefordert und auch Parolen gegen die Organisation skandiert hatten. Die Slogans seien spontan gewesen und hätten nicht den »Willen des palästinensischen Volkes als Ganzes zum Ausdruck« gebracht, zitierte die Tageszeitung Al-Kuds Al-Arabi am Donnerstag eine entsprechende Erklärung. Der Protest sei »das Ergebnis des enormen Drucks, dem unser Volk ausgesetzt ist, zusätzlich zu den Versuchen der Besatzungsmacht, inneren Konflikt zu schüren und von ihren anhaltenden Verbrechen abzulenken«. Angesichts der gezielten israelischen Angriffe auf Zivilisten sei die Wut eine natürliche Reaktion. Wer unzufrieden sei, habe das Recht, seinen Unmut zu äußern. Das Medienbüro rief trotzdem zur nationalen Einheit auf.
Videos der Proteste waren in sozialen Netzwerken verbreitet worden. Reuters konnte den Ort des Geschehens anhand von Gebäuden, Strommasten und dem Straßenverlauf mit Hilfe von Satellitenaufnahmen identifizieren. Das Datum konnte die Agentur allerdings nicht verifizieren. »Es war eine spontane Kundgebung gegen den Krieg, weil die Menschen müde sind und nirgendwohin können«, sagte ein Augenzeuge gegenüber Reuters. »Viele skandierten Parolen gegen die Hamas, nicht alle, aber viele, und riefen: ›Raus mit der Hamas!‹« Der Mann habe aus Furcht vor den Einsatzkräften der Hamas anonym bleiben wollen.
Vor dem Gazakrieg waren Demonstrationen gegen die Hamas äußerst selten. Inzwischen stellt sich allerdings die Frage, inwieweit sie überhaupt noch in der Lage ist, die Situation zu kontrollieren. Nach Ansicht des palästinensischen Analysten Akram Atallah ist ihre Macht nicht mehr allzu groß: »Die Gruppe sieht sich einer verheerenden israelischen Militäroffensive gegenüber, die sie schwächt. Selbst wenn sie gewollt hätte, konnte sie nicht gegen die Demonstranten vorgehen«, sagte er laut Reuters.
Am Mittwoch verbreiteten sich im Internet erneut Videos, auf denen zu sehen sein soll, wie einige hundert Menschen in Gaza gegen die Hamas protestieren. Reuters konnte die Echtheit bislang nicht bestätigen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Kreise in den USA und vor allem in Israel durch Verbreitung solcher Aufnahmen die Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas aufbringen wollen. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu zog den Protest bereits zur Bestätigung für die Wiederaufnahme der mitleidlosen israelischen Offensive am 18. März heran. Seitdem sind mindestens 700 Menschen durch israelische Luftangriffe getötet worden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder.
Aber nicht nur Israel, sondern auch die Fatah des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas dürfte sich freuen, wenn die Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas aufbegehrt. Bis jetzt dominiert die Fatah zwar die Palästinensische Nationalbehörde in Ramallah, im Gazastreifen hat sie jedoch kaum Einfluss. Sie verlangt jetzt von der Hamas, »auf den Ruf des palästinensischen Volkes zu reagieren«. Die Fatah hofft, nach einer Niederlage der Hamas im Gazakrieg ihre Macht auf den Küstenstreifen auszuweiten – falls die USA und Israel ihr das erlauben, wonach es aber im Moment ganz und gar nicht aussieht.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (28. März 2025 um 12:29 Uhr)Dass die Menschen in Gaza schlicht und ergreifend die Schnauze voll haben vom israelischen Vernichtungsfeldzug gegen sie bedarf wirklich keiner weiteren Erklärung. Tagtägliche Bombenangriffe, das Sprengen ganzer Häuserblocks, das zynisch-sadistische Zurschaustellen von »Siegerposen« durch israelische Soldaten in »sozialen« Medien, das Aushungern von Flüchtlingen – all das und mehr ist nicht zu ertragen. Ich bin ohnehin sprachlos darüber, wie sich die Weltgemeinschaft diesen offen auf dem Markt der TV-Medien ausgetragenen Völkermord gefallen lässt. Über 50.000 Tote und doppelt so viele Verletzte und Verstümmelte hat Netanyahus Gazakrieg die palästinensische Bevölkerung bislang gekostet – die überwiegende Mehrheit davon Frauen und Kinder. Und Israel macht keineswegs einen Hehl aus seinen Absichten: Ein weitgehend palästinenserfreies Territorium in Gaza und im Westjordanland. Oder: ethnische Säuberung mit dem Ziel Groß-Israel – »from the river to the sea«. Dieses Ziel verfolgt Israel, ob Menschen in Gaza jetzt auch Parolen gegen Hamas skandieren oder nicht. Und: Quasi im Windschatten der Vernichtung Gazas verstärkt Israel zudem seine ethnische Säuberungskampagne im Westjordanland, wo die Hamas kaum Einfluss hat. Ich frage mich, wie lange wollen Staaten der westlichen Welt diesen Genozid an den Palästinensern noch als »berechtigten Verteidigungskampf« verkaufen? Oder andersherum: Wie lange lässt sich ein Großteil der Weltgemeinschaft noch für dumm verkaufen?
- Antworten
Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:
Ähnliche:
- Middle East Images/IMAGO04.12.2024
Israel bleibt bei seiner Version
- Misam Amed/Newscom World/imago16.09.2024
Alles bleibt so
- Pedro Pardo/Pool AFP via AP/dpa24.07.2024
Reich der Mittler
Mehr aus: Ausland
-
Sieg mit Symbolwirkung
vom 28.03.2025 -
EU-Hilfe für Kiew reduziert
vom 28.03.2025 -
Netanjahu spaltet weiter
vom 28.03.2025 -
»Wir finden uns nicht ab!«
vom 28.03.2025 -
Schriftsteller als Faustpfand
vom 28.03.2025