Schriftsteller als Faustpfand
Von Bernard Schmid
Dem französischen Philosophen François-Marie Arouet, genannt Voltaire, wird – wenn auch historisch unrichtig – der Ausspruch zugeschrieben: »Ich kann Ihre Meinung nicht teilen, werde aber dafür kämpfen, dass Sie sie sagen dürfen.« Ähnlich könnte man an die Sache herangehen, wenn ein Schriftsteller für Worte zu einer Haftstrafe verurteilt wird, die man auch als Freund geistiger Offenheit und freier Diskussion als grob falsch einschätzen darf. Einen konkreten Anschauungsfall dafür lieferte am Donnerstag der algerische Schriftsteller Boualem Sansal. Sein Geburtsdatum hatte er lange selbst als den 15. Oktober 1949 angegeben, damit wäre er 75, doch in den vergangenen Monaten – seit seiner Festnahme am Flughafen von Algier am 16. November – hat sein französischer Verleger Gallimard in vielen Medien durchgesetzt, er sei in Wirklichkeit 80.
Ein Gericht in Dar El Beida, einem Stadtteil am internationalen Flughafen von Algier, verurteilte ihn am Donnerstag wegen »Angriffs auf die Einheit der Nation«, »Gefährung der nationalen Sicherheit und Stabilität« sowie »Beleidigung der Streitkräfte« zu einer fünfjährigen Haftstrafe. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Woche zuvor bei einem überraschend angesetzten Gerichtstermin, nachdem sich während Sansals Untersuchungshaft monatelang nichts bewegt hatte, das Doppelte, also zehnjährige Haft, gefordert.
Hauptgrund für die Verurteilung Sansals war die Publikation eines Interviews mit dem französischen extrem rechten Magazin Frontières im Herbst. Darin behauptete Sansal, Algerien habe historisch keine wirkliche Identität – im Gegensatz zum Nachbarn Marokko, weil dieser Staat über eine stabile Monarchie verfüge. »Kleine Dinger«, so wörtlich, wie Algerien seien deswegen in der Geschichte »leicht zu kolonisieren gewesen«. Außerdem zählten weite Teile des algerischen Westens historisch zu Marokko. Was nachweislich falsch ist, bereits im 13. Jahrhundert existierte dort das Staatswesen von Tlemcen, später eroberte dann das Osmanische Reich das gesamte Land.
Nicht nur die Regierung, auch Teile der Bevölkerung zeigen sich von solchen Behauptungen schockiert. Zumal die bilateralen Beziehungen zwischen Marokko und Algerien notorisch angespannt sind. Dennoch handelt es sich nur um Worte, mit denen Sansal – dessen Bücher in Algerien bis zuletzt legal erhältlich waren, der jedoch kaum noch über Resonanz im Land verfügt, sondern hauptsächlich in Frankreich – den Interessen Algeriens kaum wirklich gefährlich werden kann. Tatsächlich dürfte Sansal vor allem eine Art Verhandlungsmasse zwischen Frankreich, das Sansal vorigen Oktober einbürgerte – obwohl dessen Code civil dies rechtlich bei Personen ohne Hauptwohnsitz im Inland ausdrücklich verbietet – und für postkoloniale Einmischungsversuche missbraucht, und Algerien bilden. In Pariser Regierungskreisen denkt man derzeit, die schnelle Prozedur zeige an, dass die algerische Regierung insbesondere darauf abziele, nun ihr Begnadigungsrecht auszuüben, dieses jedoch unter Bedingungen zu stellen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (28. März 2025 um 09:44 Uhr)»Ich kann Ihre Meinung nicht teilen, werde aber dafür kämpfen, dass Sie sie sagen dürfen.« Ein Satz, der an Oberflächlichkeit kaum nicht zu überbieten ist. Dass Voltaire für fragwürdige Meinungen Verständnis hatte, ist belegt: Für den »Vordenker der Aufklärung« waren die »Juden das abscheulichste Volk der Erde«. Er war auch der Meinung, dass es immer Arme und Reiche geben werde. Als Staatsform favorisierte er die Monarchie. Bernard Schmid spekuliert, ob Sansal nicht 75, sondern schon 80 Jahre alt wäre, so als könne man ab 80 den Staat Algerien beleidigen, ohne dafür bestraft zu werden. »Darin behauptete Sansal, Algerien habe historisch keine wirkliche Identität – im Gegensatz zum Nachbarn Marokko, weil dieser Staat über eine stabile Monarchie verfüge«. Bernard Schmid verharmlost solche Sätze so: »Dennoch handelt es sich nur um Worte, mit denen Sansal (…) den Interessen Algeriens kaum wirklich gefährlich werden kann«. In einer Zeit, in der die Völker in muslimisch geprägten Ländern unter der Aggression der Imperialisten leiden, werden solche Kronzeugen gebraucht und im Westen mit Preisen überhäuft. Sansal warnt unermüdlich vor der »Weltherrschaft des Islamismus«. Sein Buch »2084« (augenfällig der verkaufsfördernde Bezug zu »1984« des Antikommunisten und Totalitarismusexperten Orwell) wurde in Frankreich für acht Literaturpreise nominiert und mit dem Preis der Académie Française ausgezeichnet.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (28. März 2025 um 15:10 Uhr)Wurde nach dem auch eine weltweite judenverteufelnde Christenoligarchie wie die von Martin LUDER getauft? Dem es nicht reichte, dass alles Jüdische ausgemerzt gehört, sondern auch alle, die Katharer, Wiedertäufer, Hussiten etc. sind? Außer Katholiken – war Herrn LUDER damals wohl noch eine zu große Aufgabe. Sein tapfrer Heilsverkünderbruder Melanchthon übernahm und verbrannte »alle diese dummen Bauerntölpel« und die Hexenweiber, »die mit den Kräutern«, die an allem teuflischen Spuk schuld sind. Um mal Martin LUDER und die Botschaft der beiden Unionen zu zitieren. – Aber kehren wir nun zurück zur Partei der Werktätigen: Hier erleben wir Erraschendes …
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