Netanjahu spaltet weiter
Von Knut Mellenthin
Mitten in einem »Mehrfrontenkrieg«, den es angeblich zur Verteidigung seiner Existenz führen muss, leistet sich Israel eine eskalierende innenpolitische Konfrontation, in der beide Seiten angeblich für die Rettung der Demokratie kämpfen. Am Donnerstag in den ganz frühen Morgenstunden holte sich die Regierungskoalition aus Rechten und Ultrarechten einen leichten Sieg: Mit 67 gegen nur eine Stimme verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das die Zusammensetzung der Kommission regelt, die über die Ernennung aller Richter des Landes einschließlich des Obersten Gerichtshofs entscheidet. Die Abgeordneten der Oppositionsparteien hatten während der Abstimmung den Sitzungssaal verlassen. Einige nahmen in dieser Zeit Kontakt zur Menge der Protestierenden auf, die während der nächtlichen Debatte in der Umgebung des Parlamentsgebäudes ausgeharrt hatten.
In einer gemeinsamen Stellungnahme kündigten die jüdischen Oppositionsparteien an, dass sie das Gesetz »in der nächsten Regierung« widerrufen würden. Bis dahin werden aber vermutlich noch über 20 Monate vergehen, denn reguläre Wahlen sind erst wieder am 27. Oktober 2026 fällig. Die Chancen für eine vorzeitige Auflösung der Knesset und Neuwahlen stehen schlecht.
Eher ist wahrscheinlich, dass das Oberste Gericht mindestens eine der drei oder mehr Petitionen aus Oppositionskreisen akzeptiert und das Gesetz für unrechtmäßig erklärt. Die Einschränkung der Möglichkeiten der höchsten Instanz ist eines der Hauptziele der von der Regierung angestrebten »Generalüberholung der Justiz«. Die von Benjamin Netanjahu geführte Koalition betreibt diese Kampagne schon seit ihrer Formierung im Dezember 2022, verlangsamte ihr Vorgehen aufgrund der massenhaften Gegenbewegung und unterbrach es nach der palästinensischen Militäroperation aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023. Seit einigen Wochen treibt die Regierungskoalition die »Generalüberholung« wieder voran. In diesen Zusammenhang gehören auch die Absetzung von Ronen Bar, Chef des Inlandsnachrichtendienstes Schin Bet, der der Oberste Gerichtshof widersprochen hat, und die Bemühungen der Regierung, Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara zu entlassen.
»Heute Nacht haben wir Geschichte gemacht«, triumphierte Justizminister Jariv Levin nach der Verabschiedung des Gesetzes. Der Oberste Gerichtshof habe »durch einen sich über Jahrzehnte beschleunigenden Prozess die Knesset effektiv ausgeschaltet«. Mit vereinnahmendem populistischem Pathos wandte Levin sich an die israelische Bevölkerung: »Ich stehe hier in eurem Auftrag, nach Jahrzehnten, in denen eure Stimme nicht gehört wurde und eure Stimmen an den Wahlurnen mit Füßen getreten wurden. Wir eröffnen ein neues Kapitel. Die Tage der Kapitulation und des Schweigens sind vorbei, um nie wiederzukehren.«
In einer gemeinsamen Stellungnahme warfen die jüdischen Oppositionsparteien der Regierung ihrerseits vor, dass sie das Gesetz mit dem Ziel durchgebracht habe, »sicherzustellen, dass die Richter dem Willen von Politikern unterworfen werfen«. Statt alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, die noch im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln einschließlich der Körper der Toten »heimzuholen« und »die Spaltungen in der Nation zu heilen«, treibe die Regierung wieder die Gesetzgebung voran, die »die Öffentlichkeit« vor dem 7. Oktober getrennt habe.
Am Wochenende demonstrierten nach Angaben der Organisatoren landesweit mehr als 100.000 Menschen gegen Netanjahu und seine Regierung, davon 40.000 in Tel Aviv. Damit hat die Protestbewegung noch nicht die gleiche Stärke erreicht wie im Frühjahr und Sommer 2023, befindet sich aber erkennbar im Wiederaufschwung. Die stärkste Gewerkschaft des Landes, Histadrut, hat am Mittwoch Gespräche mit »Industrieführern« über die Ausrufung eines Generalstreiks geführt. Ob daraus diesmal mehr wird als ein lautes Nachdenken wie 2023 ist allerdings ungewiss.
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Leserbrief von Andi Stasina (27. März 2025 um 21:00 Uhr)Dieser Artikel spricht viele Dinge richtig an, trotzdem gefällt mir hier die Benutzung mancher Wörter wie »angeblich« u. ä. nicht so sehr. Diese Art – von mir als solchen verstandenen – Sarkasmus kann man sich wirklich sparen, auch wenn es natürlich stimmt, dass auch demokratisch gewählte Regierungen leider Fehler begehen.
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