Viel zuwenig Protest
Von Helga Baumgarten
Das Flüchtlingslager Dschenin in der von Israel besetzten Westbank ist fast vollständig zerstört. Die Bewohner sind vertrieben und dürfen nicht zurück. Derselbe Zerstörungsprozess ist im Flüchtlingslager Nur Schams bei Tulkarem, in den Flüchtlingslagern rund um Nablus bis hin nach Tubas im Gange. Die Armee nimmt jetzt die Lager in und um Bethlehem und bis nach Hebron ins Visier – zusammen mit Siedlern.
Masafer Yatta südlich von Hebron wird dem Erdboden gleichgemacht. Hamdan Ballal, der Koregisseur von »No Other Land«, dem Film, der gerade erst den Oscar gewonnen hat, wird beim Filmen der Siedlergewalt verhaftet und zusammengeschlagen. Die Armee bzw. die Polizei lässt ihn – ohne ihn medizinisch versorgt zu haben – erst nach einer langen Nacht der Tortur wieder frei.
Im Jordantal begleiten jüdisch-israelische Aktivisten palästinensische Bewohner zum Schutz gegen die Siedler, die den Palästinensern dort immer wieder ganze Schafherden rauben. Diesmal ist ein deutscher Journalist dabei und erlebt die Realität unmittelbar: Er wird, ähnlich wie Ballal, verhaftet, einfach weil er die Verbrechen der Siedler und deren offene Unterstützung durch die Armee dokumentiert. Als Deutscher kommt er aber schneller frei: nach einigen Stunden Haft und energischer Intervention durch deutsche diplomatische Vertreter vor Ort und durch das Auswärtige Amt.
Ostjerusalem wird inzwischen hermetisch abgeriegelt: israelische Vorbereitung auf »Lailat Al-Kader«, das am Tag vor dem letzten Freitag im Ramadan am 28. März gefeiert wird. Palästinenser, die entweder von der Arbeit zurückkommen oder zum Beten in den Haram Al-Scharif wollen, müssen mehrere Kilometer vor den Toren der Altstadt aus den Sammeltaxis steigen und zu Fuß weitergehen. Keiner weiß, was sich Israel für das Fest noch an »Überraschungen« ausgedacht hat.
Derweil brechen die Proteste in Tel Aviv und in Westjerusalem nicht ab. Die jüdisch-israelischen Demonstranten fordern die Rückkehr der Gefangenen aus Gaza und deshalb einen sofortigen Stopp des Krieges. Sie fordern den Rücktritt der Regierung von Benjamin Netanjahu sowie sofortige Neuwahlen und lehnen alle Beschlüsse der Regierung ab: Entlassung des Schin-Bet-Chefs Ronen Bar, die geforderte Entlassung der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara. Sie stemmen sich gegen die rasant fortschreitende »Justizreform«, die in Wirklichkeit eine Diktatur schafft. Aber Netanjahu zieht trotz denkbar knapper Mehrheit in der Knesset einen Beschluss nach dem anderen durch, lässt ein Gesetz nach dem anderen verabschieden.
Die liberale Zeitung Haaretz – sie wird von Ministern seit neuestem als antisemitisch und pro Hamas angegriffen – fordert in ihren Leitartikeln zum landesübergreifenden zivilen Widerstand auf. Einige der Journalisten auf der Meinungsseite schließen sich dem an. Sie gehen davon aus, dass Netanjahu mit den Korruptionsverfahren gegen ihn und den neuen Vorwürfen der Vorteilsnahme gegen enge Mitarbeiter des Premiers das Wasser bis zum Hals steht. Dagegen argumentiert Kommentator Uri Misgav, dass die Opposition machtlos ist. Und auch die Bilder auf den Fernsehschirmen und in den Analysen der Zeitungen zeigen täglich die unumstößliche Tatsache: viel zu wenige Israelis demonstrieren. Die Polizei geht inzwischen mit offener Gewalt gegen jüdisch-israelische Demonstranten vor. Der Völkermord im Gazastreifen aber, die Vertreibungen in der Westbank mit der sie begleitenden ungebremsten Gewalt, die Häuserzerstörungen in Ostjerusalem: alles geht »seinen Gang«.
Der von der Oxford University emeritierte britisch-israelische Historiker Avi Shlaim hält dagegen: Der Zionismus sei dabei, sich selbst zu zerstören. Ein mörderisches System des Siedlerkolonialismus könne nicht für immer bestehen. Allerdings befürchtet er noch eine beträchtliche Periode brutalster Gewalt. Die Palästinenser derweil halten fest an ihrem Ziel: Wir bleiben. Und sie fordern ihr Recht auf Freiheit ein. Die einzige Hoffnung für die Zukunft in diesem seit Herzl geplagten Land ist, wie Shlaim unübertroffen formuliert: Freiheit und Gleichheit für alle Menschen »from the river to the sea«.
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