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Aus: Ausgabe vom 29.03.2025, Seite 8 / Inland
Antiziganismus

»Der Richter macht uns gegen solche Hetze schutzlos«

Trotz antiziganistischem Post: Landgericht hebt Urteil gegen rechte Bloggerin auf. Ein Gespräch mit Romani Rose
Interview: Gitta Düperthal
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Denkmal für die im Hitlerfaschismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin

Das Amtsgericht Goslar hatte eine rechte Bloggerin aufgrund einer Aussage gegen Sinti und Roma auf der Plattform X wegen Volksverhetzung verurteilt. Das Landgericht Braunschweig hob das Urteil am 17. März auf. Wie werten Sie das?

Die Bloggerin Anabel Schunke postete im April 2022: »Ein großer Teil der Sinti und Roma in Deutschland und anderen Ländern schließt sich selbst aus der zivilisierten Gesellschaft aus, indem sie den Sozialstaat und damit den Steuerzahler betrügen, der Schulpflicht für ihre Kinder nicht nachkommen, nur unter sich bleiben, klauen, Müll einfach auf die Straße werfen und als Mietnomaden von Wohnung zu Wohnung ziehen.« Mit den Äußerungen erreichte sie 200.000 Follower, was es gefährlich macht. Dass der Vorsitzende Richter des Landgerichts darin keine Volksverhetzung, sondern allenfalls eine Beleidigung sieht, macht uns fassungslos. Es zeigt, dass er über kein Geschichtsbewusstsein verfügt und die NS-Geschichte Deutschlands verharmlost. Denn aufgrund angeblicher ähnlicher »Rassemerkmale« betrieben Deutsche im Faschismus Hetzpropaganda gegenüber Juden und auch Sinti und Roma. Die Folgen – gezielte Ausgrenzung bis Völkermord – sind bekannt. Der Richter ignoriert diese Gefahr.

Wie kommt es, dass die Justiz antiziganistische Hetze relativiert?

Eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen hat in der Justiz kaum stattgefunden. Die Täter hatten in der Nachkriegszeit weiterhin Deutungsmacht über die Opfer. Rassenideologisches Denken wurde von Behörden paraphrasiert und angewendet. Nach der Befreiung des KZ Auschwitz und der deutschen Kapitulation 1945 sorgten sich die Urheber des Grundgesetzes, dass die Grundrechte der Verfassung auch auf »Zigeuner« Anwendung finden könnten. So steht es in damaligen Protokollen des Bundesinnenministeriums. Die ehemaligen NS-Täter setzten ihre Karrieren fort und blieben wirkmächtig. Das Feindbild gegenüber Sinti und Roma wurde weiter tradiert. Bei Polizeikontrollen mussten sie etwa ihre von den Nazis in Auschwitz eintätowierten Nummern vorzeigen. Um das Verbot der Diskriminierung zu umgehen, verwendete man statt des Begriffs »Zigeuner« Synonyme wie »Landfahrer«. Urteile wie dieses liefern Munition für Rechtsextreme, die heute wieder Gewalt gegen unsere Minderheit verüben, wie in München, Hanau, Solingen und Saarbrücken.

Registrieren Sie eine Zunahme rassistischer Hetze?

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Der Bundesvorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma Romani Rose (Saarbrücken, 24.12.2024)

Die meisten rassistisch motivierten Gewalttaten, Anfeindungen und Übergriffe wurden bislang nicht erfasst. 2021 gründete sich die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus, MIA, die regionale Meldestellen aufbaute. Ab 2022 dokumentierte die MIA erstmals antiziganistische Vorfälle bundesweit einheitlich, der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler, trat sein Amt an. Die registrierte Zahl der Vorfälle gegen Sinti und Roma listete die im Aufbau befindliche MIA mit 621. Für das Jahr 2023 verdoppelte sich die Zahl auf 1.233 Vorfälle.

Wie ist das in den deutschen Umgang mit der Nazivergangenheit einzuordnen?

Die BRD weiß, dass die ganze Welt auf ihren Umgang mit Antisemitismus schaut. Dem Rassenwahn der Nazis fielen aber auch bis zu 500.000 Sinti und Roma zum Opfer. Eine rechte Szene will bewusst die Gesellschaft spalten, Minderheiten ausgrenzen, diffamieren, Gewalt gegen sie fördern. Es ist besorgniserregend, wenn zehn Millionen Menschen bei der Bundestagswahl die AfD wählen. Das Beispiel der rechten Bloggerin zeigt: Rassistischer geht es nicht. Der Vorsitzende Richter des Landgerichts Braunschweig, Stamer, hat mit seiner Entscheidung einen Freibrief dafür ausgestellt und macht unsere Minderheit gegen solche Hetze schutzlos. Wir begrüßen, dass die Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet der Staatsanwaltschaft Göttingen dagegen Revision eingelegt hat.

Wer steht in der Verantwortung, den Trend zunehmender Diffamierung zu stoppen?

Vor dem Hintergrund unserer Geschichte muss der jahrhundertealte Antiziganismus genauso geächtet werden wie der Antisemitismus. Die Justiz muss die Geschichtsaufarbeitung in den Vordergrund rücken, damit Richter solche Urteile nicht mehr fällen.

Romani Rose ist Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

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  • Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (28. März 2025 um 21:59 Uhr)
    So ist das, leider. Kurz nach Gründung der BRD wurde ja das sogenannte »Richterprivileg« eingeführt. Offiziell, um angeblich die »Unabhängigkeit des Richteramtes zu gewährleisten«, tatsächlich damit Richter, die an den Volksgerichtshöfen Nazideutschlands nicht zögerlich mit Todesurteilen gegen Antifaschisten, gegen Kriegsdienstverweigerer und natürlich gegen dem faschistischen System nicht genehmen Minderheiten waren, an bundesdeutschen Gerichtshöfen weiter eingesetzt werden konnten. Sie mussten jetzt nur noch behaupten, sie hätten nicht gewusst, dass sie Unrecht sprachen und schon war alles gut. »Unwissenheit schützt vor Strafe nicht« gilt für alle in diesem deutschen Staat, diesem Unrechtsregime, außer für dessen Richter. Das macht es auch nach wie vor schwer, gegen offensichtliche Rassisten wie in diesem Landgericht vorzugehen. Sie können wie zu Hitlerdeutschlands Zeiten nach wie vor Unrecht sprechen und niemensch kann sie dafür auf juristischem Wege belangen. It’s not a bug, it’s a feature …

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