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Aus: Ausgabe vom 09.04.2025, Seite 7 / Ausland
Ukraine-Krieg

Symbolischer Angriff

Ukraine bestätigt Kämpfe in russischem Grenzbezirk Belgorod. Rückeroberungen in Kursk und russische Offensive im Süden
Von Reinhard Lauterbach
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Nach Kiew bitte abbiegen: Bei dem angeblichen Vorstoß auf Belgorod handelt es sich eher um psychologische Kriegführung (Charkiw, 24.2.2025)

Seit etwa einer Woche kursiert die Meldung, dass ukrainische Truppen nach Kursk nun auch in der Region Belgorod auf russischem Boden kämpfen. Am Montag bestätigte Präsident Wolodimir Selenskij in seiner abendlichen Ansprache, dass derzeit um zwei grenznahe Dörfer gekämpft werde. Ziel der Operation sei es, Russland von Angriffen auf die auf ukrainischer Seite angrenzende Region Charkiw abzuhalten.

Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist der wirkliche Zweck ein psychologischer: Die eigene Bevölkerung und die westlichen Sponsoren sollen von der anhaltenden Kampfkraft der ukrainischen Armee überzeugt werden. Diese Vermutung liegt um so näher, als die Offensive auf das Kursker Gebiet zum Schluss auch damit begründet worden war, Russland an Angriffen auf den Bezirk Sumi im Nordosten der Ukraine zu hindern. In Wahrheit ist das Gegenteil eingetreten: Sumi ist im Verlaufe der Kursker Operation intensiver von Russland beschossen worden als in vielen Monaten zuvor. Und die Kämpfe am Boden haben sich inzwischen offenbar zu einem erheblichen Teil auf das angrenzende ukrainische Gebiet verlagert. Am Dienstag gab Moskau bekannt, mit der Ortschaft Gujewo eines der letzten grenznahen Dörfer zurückerobert zu haben.

Ukrainische Truppen kämpfen allerdings nach wie vor jenseits der Grenze. Deutlich wird das aus den Operationen der russischen Armee in diesem Abschnitt. Ihre Truppen sind vor einigen Wochen, noch vor der Rückeroberung der Grenzstadt Sudscha, nordwestlich von dieser auf ukrainisches Gebiet vorgestoßen und kämpfen sich jetzt parallel zur Grenze in südlicher Richtung vor bis zu der Straße, die von der Ukraine aus nach Sudscha führt. Zuletzt wurde die Eroberung des Dorfes Basiwka (russisch: Basowka) in etwa zwei Kilometern Entfernung von der Straße gemeldet. Gleichzeitig stoßen Einheiten nach Westen vor, um die Tiefe des Einbruchs zu vergrößern.

Unterdessen versucht Russland offenbar, in der seit Monaten umkämpften Bergbaustadt Torezk eine erfolgreiche Operation aus den Kämpfen um Sudscha zu wiederholen: So wie dort ein unbemerkter Vorstoß russischer Spezialkräfte durch die stillliegende Gasexportpipeline die ukrainische Front im Kursker Gebiet zum Zusammenbruch brachte, so meldete am Wochenende das ukrainische Militär, dass russische Soldaten auch in Torezk versuchten, durch »unterirdische Gänge« in den Rücken der gegnerischen Positionen zu gelangen. Parallel dazu versucht Russland offenbar, Torezk mit seinen befestigten Verteidigungsstellungen zu umgehen, um verlustreiche Häuserkämpfe zu vermeiden: Mehrere Dörfer im näheren Umfeld der Stadt sind in den vergangenen Tagen erobert worden. Geländegewinne meldete Russland auch aus dem Umland von Tschassiw Jar und Pokrowsk.

Die größte Sorge bereitet Kiew offenbar, dass die russischen Truppen auch im Südabschnitt der Front, im Oblast Saporischschja, wieder zum Angriff übergegangen sind. Seit etwa zwei Wochen wird um mehrere dort gelegene frontnahe Dörfer gekämpft. Von der aktuellen Frontlinie aus sind es noch etwa 30 Kilometer bis in die Gebietshauptstadt Saporischschja. Ukrainische Quellen schreiben von der Ansammlung mehrerer zehntausend russischer Soldaten mit schwerer Technik im Hinterland der dortigen Front. Ein Vormarsch an diesem Abschnitt würde nicht nur die vor dem Krieg 700.000 Einwohner zählende Regionalhauptstadt in Gefahr bringen, sondern auch eine von zwei wichtigen Versorgungsrouten für die ukrainischen Truppen im Oblast Donezk.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (8. April 2025 um 21:34 Uhr)
    Die jüngsten Vorstöße der Ukraine auf russisches Territorium – zunächst in der Region Kursk, nun offenbar auch in Belgorod – werfen grundlegende Fragen zur strategischen Ausrichtung der ukrainischen Militärführung auf. Historisch betrachtet haben selbst Großmächte unter Napoleon und Hitler daran versagt, dauerhaft russisches Kernland zu besetzen oder zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund wirkt der Versuch Kiews, mit begrenzten Mitteln symbolische Geländegewinne in Russland zu erzielen, nicht nur militärisch riskant, sondern auch historisch naiv. Offiziell wird betont, dass diese Operationen dazu dienen sollen, russische Angriffe auf Grenzregionen wie Charkiw oder Sumi zu erschweren. Doch die Realität zeigt eher das Gegenteil: Der Beschuss auf ukrainischem Gebiet hat sich zum Teil sogar intensiviert, und viele der Kämpfe haben sich erneut auf ukrainisches Territorium verlagert. Dies lässt vermuten, dass es sich eher um eine symbolische Aktion handelt, möglicherweise mit dem Ziel, die Moral der eigenen Bevölkerung zu stärken und das Vertrauen westlicher Unterstützer aufrechtzuerhalten. Präsident Selenskij scheint in diesen Aktionen weiterhin eine Art »Inszenierung« zu verfolgen – ein Verhalten, das seiner früheren Rolle als Schauspieler näher steht als einer nüchternen militärstrategischen Kalkulation. Doch dieser Kurs hat einen hohen Preis: Die ukrainische Bevölkerung zahlt mit ihrem Leben und ihrer Zukunft für Vorstöße, deren Erfolgschancen fraglich erscheinen. Anstatt auf riskante Offensivaktionen zu setzen, wäre möglicherweise eine Konzentration auf die Verteidigung sinnvoller – nicht zuletzt, um weitere Verluste zu vermeiden und diplomatische Spielräume offen zu halten. Die Frage muss erlaubt sein: Worum geht es hier wirklich? Um die Rückgewinnung verlorener Gebiete, um Verteidigung – oder doch um ein politisches Signal, das mehr Show ist als Substanz?
    • Leserbrief von B.S.. aus Ammerland (9. April 2025 um 17:55 Uhr)
      Es geht um die Inszenierung. Selenskij habe noch etwas zu sagen und für das ukrainische Volk, es würde noch gehört werden. Dabei sollte jedem/jeder klar sein, im Moment verhandeln die Faschisten um den Ausverkauft ihres Landes, ihrer Ressourcen und ihres Volkes. Ablenkung tut also Not! Und dazu sind solche militärisch unsinnigen Spiele notwendig. Dennoch werden sie durch die Anglo-Amerikaner und NATO propagandistisch aufgebläht und sollen das muntere Abschlachten kaschieren. Ob Selenskij das Ende noch erleben wird, kann freilich bezweifelt werden.

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