»Das türkische Rechtssystem wird zusammenbrechen«
Interview: Henning von Stoltzenberg
Mehrere juristische Vereinigungen haben gemeinsam Stellung genommen zur Absetzung des Präsidenten der Rechtsanwaltskammer in der türkischen Metropole İstanbul. Worum geht es?
Dort wurde nicht nur der Präsident der Kammer, Prof. Dr. İbrahim Kaboğlu, per Gerichtsentscheid abgesetzt, sondern der gesamte Vorstand. Außerdem wurden Neuwahlen angeordnet. Neben Strafverteidigervereinigungen beteiligten sich an der Stellungnahme auch verschiedene Organisationen wie der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein, die Vereinigung Demokratischer Jurist:innen, der Deutsche Anwaltverein sowie die Bundesrechtsanwaltskammer und die Rechtsanwaltskammer Berlin. Wir sind uns darin einig, dass das Vorgehen der türkischen Justiz grob in die Unabhängigkeit der Selbstverwaltung unserer Kolleginnen und Kollegen in İstanbul eingreift.
Weshalb ging der Staat gegen Kaboğlu und die Kammer vor?
Anlass war, dass das Gremium eine unabhängige Untersuchung der Tötung zweier kurdischer Journalisten in Nordsyrien forderte. Die Journalisten waren durch einen türkischen Drohnenangriff ums Leben gekommen, und es steht der Verdacht im Raum, dass es sich um einen Verstoß gegen das Völkerrecht beziehungsweise auch um ein Kriegsverbrechen handeln könnte. Wichtig ist: Seitens des Vorstands und des Präsidenten wurde nicht behauptet, dass es ein Völkerrechtsverstoß war. Im Januar wurden Strafverfahren gegen den Präsidenten und die Vorstandsmitglieder der Rechtsanwaltskammer eingeleitet.
War das Vorgehen rechtlich zulässig?
Dies erfolgte in rechtswidriger Weise, da die notwendige Zustimmung des Justizministeriums nicht vorab eingeholt worden war. Außerdem wurde der Grundsatz der Vertraulichkeit verletzt, denn die Beschuldigten wurden nicht vorab über die Ermittlungen informiert, sondern erfuhren davon aus der Presse. Ungeachtet dessen werden diese Verfahren weitergeführt. Parallel dazu wurde gegen den Präsidenten und die Vorstandsmitglieder ein Zivilverfahren eingeleitet, mit dem Ziel, sie von ihren Ämtern abzusetzen und treuhänderisch eine andere Verwaltung einzusetzen. Der Vorwurf hier lautet, dass sie »außerhalb ihres gesetzlichen Auftrages« gehandelt hätten.
Wie haben die Betroffenen reagiert?
Dieses Verfahren erachten unsere Kolleginnen und Kollegen für verfassungswidrig und haben beantragt, die Frage der Zulässigkeit dem türkischen Verfassungsgericht vorzulegen. Das hat das Gericht abgelehnt. Außerdem bestreiten sie, mit der Forderung nach Einsetzung einer Untersuchungskommission außerhalb ihres Auftrages gehandelt zu haben. Vielmehr sehen sie ihren originären Auftrag darin, mit dafür Sorge zu tragen, dass Gesetze eingehalten werden. Hier seien das Recht auf Leben und die besonderen Schutzrechte für Journalistinnen und Journalisten in Krisen- und Kriegsgebieten verletzt worden. Dem ist das Gericht ebenfalls nicht gefolgt. Einzig von der Einsetzung einer treuhänderischen Verwaltung wurde abgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen sind gegen das Urteil in Berufung gegangen.
Kaboğlu wird sogar mit Vorwürfen wie »Terrorpropaganda« und »Verbreitung irreführender Informationen« konfrontiert.
Solche bewusst weit gefassten Tatbestände laden dazu ein, jegliche kritische bis missliebige Äußerungen, jegliche Kritik an staatlichem Handeln, sei sie juristisch auch noch so fundiert, darunter fassen und bestrafen zu können. Wir beobachten, dass in der Türkei in vielen Fällen die Rolle der Anwaltschaft und deren Unabhängigkeit nicht respektiert wird. Dort findet eine Kriminalisierung der freien Advokatur statt. Die Kolleginnen und Kollegen in der Türkei sind sehr alarmiert und sehen voraus, dass ohne unabhängige Anwaltskammern und die freie Berufsausübung der Anwältinnen und Anwälte das türkische Rechtssystem zusammenbrechen wird.
Ursula Groos ist Vorstandsmitglied der Rechtsanwaltskammer Berlin
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