Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Dein roter Faden in wirren Zeiten Dein roter Faden in wirren Zeiten
Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: 30. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz, Beilage der jW vom 29.01.2025
RLK 2025

Die Saat ist gelegt

Der Krieg ist zurück in Europa. Antimilitarismus ist notwendiger denn je. Ohne Widerstand sehen wir einem endlosen Schlachten entgegen
Von Clare Daly
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Clare Daly während ihres Vortrags auf der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz

Es ist für mich eine große Freude, in dieser Stadt zu sein, in der Stadt, in der Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ihre Warnungen vor dem Krieg aussprachen. Der berühmte irische Gewerkschafter James Connolly sagte angesichts des Ersten Weltkriegs: »Es gibt keinen humanen Krieg, ein zivilisierter Krieg existiert nicht. Jede Kriegführung ist unmenschlich, jede Kriegführung ist barbarisch.« Und dennoch sehen wir uns mit einer neuen Kriegsgefahr konfrontiert. Die Geschichte scheint sich in einem Wiederholungsmodus zu befinden. Ich will nicht sagen, dass ein neuer großer Krieg unvermeidlich wäre. Aber die Saat ist gelegt, der neue Kalte Krieg ist da. Zugleich ist der Bankrott des Kapitalismus offensichtlich. Der Nahe Osten steht in Flammen. Das europäische Establishment tut alles, was möglich ist, um den Krieg in der Ukraine am Laufen zu halten. Mehr als das, sie wollen ebenfalls in Georgien und in Moldau intervenieren, wo immer sie die Fackel des Krieges hintragen können.

Gefährliche Zeiten

Es ist eindeutig: Die unipolare Weltordnung, wie sie seit dem Ende der Sowjetunion existierte, ist vorbei. Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs zu einer multipolaren Welt. Das hat natürlich ein enormes Potential. Viele Menschen sind begeistert angesichts der neuen und hoffnungsvollen Aussichten auf eine verstärkte globale Zusammenarbeit. Aber es gibt auch zusätzliche Gefahren. Diese neue multipolare Welt kann auch eine militaristische und imperialistische Welt werden, eine Welt, in der die Nationen in Konkurrenz zueinander stehen und sich in einem Ausbeutungswettlauf um die existierenden Ressourcen befinden. Hinzu kommt der Klimawandel, der alles überschattet. Es sind sehr gefährliche Zeiten.

Es stellt sich die Frage: Was macht eigentlich Europa angesichts all dessen? Leider ist die Antwort, Europa tut alles, was es nicht tun sollte. Statt sich nicht auf eine Seite zu schlagen, statt sich neutral zu verhalten, statt abzurüsten, statt Diplomatie und internationales Recht zu fördern, ist Europa an jeder Front mit dem Gegenteil beschäftigt. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, »Mrs. Genocide«, ist die erste geopolitische Kommissarin der EU, so hat sie sich selbst genannt. Sie steht einer Kommission im Zeichen der Geopolitik vor. Das ist eine goldene Zeit für die Kriegshetzer, unter ihnen auch die vielen ehemaligen Kolonialmächte Europas. Zugleich hat die EU alle Möglichkeiten aus der Hand gegeben, Einfluss auf den Krieg in der Ukraine zu nehmen, der ja ein europäischer Krieg ist. Europa hat sich in dieser Frage vollständig den US-Interessen unterworfen und tut dies selbst jetzt noch angesichts der erneuten Präsidentschaft von Donald Trump. Die Wahrheit ist, Europa hat sich selbst die Hände gebunden, indem es sich von China abgekoppelt hat. Die USA haben es geschafft, den europäischen Volkswirtschaften ganz enorm zu schaden. Ich spreche von der Energiekrise und dem Anstieg der Lebenshaltungskosten. Das Schlagwort Nord Stream 2 muss in diesem Zusammenhang fallen. Jede einzelne Woche verlassen zwanzig LNG-Tankschiffe die USA in Richtung Europa. Hier wird eine ganze Wirtschaft in die Knie gezwungen, und das bedeutet Riesenprofite für die US-amerikanischen Konzerne. Den Preis dafür zahlen die Bevölkerungen in Europa, insbesondere in Deutschland, wo man heute für eine Kilowattstunde noch immer das Doppelte des Preises von vor dem Krieg bezahlt.

USA im Blick

Es besteht kein Zweifel, dass das beabsichtigt war. Ziel des Stellvertreterkriegs in der Ukraine war seitens der USA auch, Europa als Wettbewerber zu eliminieren, alle Verbindungen zu Russland sollten abgebrochen werden, um so die europäischen Eliten dazu zu zwingen, alles zu schlucken, was die USA ihnen vorgeben. Und jetzt diskutieren wir darüber, ob Grönland nicht den USA gehören sollte, und es gibt kaum Widerstand dagegen. Statt dessen hängen sich viele europäische Länder an die US-Amerikaner und schielen auf eine besondere Partnerschaft.

Wir sind seit Jahren mit einer ganz augenscheinlichen Militarisierung konfrontiert, die durch den Krieg in der Ukraine noch einmal an Fahrt aufgenommen hat. Dabei wird behauptet, der Grund für den Krieg in der Ukraine liege in Europas Schwäche. Erst diese habe Russland in die Position versetzt, einzugreifen. Aber das stimmt nicht, wir waren nicht verwundbar, weil wir zu wenig militarisiert waren. Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Der Krieg ist zurückgekommen nach Europa, weil die Militarisierung bereits so weit vorangeschritten war. In den vergangenen Jahren sind die Kosten für Verteidigungsausgaben in den EU-Staaten beständig gestiegen. Die 2021 beschlossene Europäische Friedensfazilität ist in Wahrheit eine Kriegsfazilität. Sie befeuert den Verkauf europäischer Waffen in afrikanische Länder oder eben in die Ukraine, um die europäische Industrie anzukurbeln.

Die Summen, die für Aufrüstung und für Vernichtungswaffen ausgegeben werden, sind enorm. Entspricht das den Bedürfnissen der Menschen in Europa? Nein. Ihre Bedürfnisse bleiben ungehört. Statt dessen dürfen sie die Kosten der Militarisierung tragen. Die Bürger der EU haben Milliarden Euro für diesen Krieg bezahlt, um die Ukraine kriegsfähig zu halten. Milliarden Euro für Tod und Zerstörung. Und das sind Gelder, die beim Umweltschutz und für andere wichtige Maßnahmen fehlen – ganz zu schweigen von den enormen Profiten des militärisch-industriellen Komplexes in der EU.

Und trotz all der Waffen ist die Ukraine jetzt in einem noch viel schlechteren Zustand als im April 2022, als über einen Waffenstillstand und einen möglichen Friedensvertrag verhandelt wurde. Hunderttausende haben mittlerweile ihr Leben verloren, Millionen von Menschen mussten ihre Heimat verlassen und sind ins Ausland geflohen, große Teile des Landes sind zerstört. Das ist, was die sogenannten Freunde der Ukraine für das Land erreicht haben. Und der Krieg geht immer weiter. Er ist ein gutes Geschäft.

Vor aller Augen

Wer auch immer geglaubt hat, die Europäische Union stehe für Rechtsstaatlichkeit und für Frieden, für Demokratie und für Menschenrechte, ist in den vergangenen Jahren eines besseren belehrt worden. Spätestens seit der Barbarei, die sich in Gaza ereignet. Was in Palästina passiert, ist jenseits alles Tolerierbaren. Das ist natürlich nicht der erste Völkermord in der Geschichte. Aber es ist das erste Mal, dass so etwas mehr oder weniger öffentlich passiert, vor unser aller Augen. Und niemand tut etwas, um diese Art der Kriegführung, bei der schon Tausende gestorben sind, zu stoppen. Dabei wäre es so leicht, denn ohne die aktive Unterstützung der USA und der EU-Staaten könnte Israel den Krieg gegen Gaza nicht führen.

Es ist beinahe unerträglich, über die Verbrechen im Gazastreifen zu sprechen. Ich erinnere mich noch daran, als ich erstmals hörte, dass ein Krankenhaus bombardiert wurde. Ich habe gedacht, okay, das ist jetzt eine rote Linie, die überschritten worden ist. Aber es hatte keine Konsequenzen. Mittlerweile ist das Bombardement von Krankenhäusern normal geworden. Für die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock dient das der Verteidigung Israels. Sie sollte sich schämen angesichts dieser Unmenschlichkeit und der Zerstörung des Völkerrechts, die hier stattfindet. Immer und immer wieder haben israelische Streitkräfte im Gazastreifen Zivilisten bombardiert. Es gibt für sie keinen Ausweg. Es ist unmöglich zu fliehen, die Chancen zu überleben sind gering. Hinzu kommt die Politik des Aushungerns und der Abschottung, denn Israel blockiert den Zugang für Hilfsorganisationen. Israel nutzt den Hunger als Kriegswaffe. Und dann sind da noch die seelischen Wunden. Wir haben gesehen, dass Kindern und Jugendlichen die Haare ausfallen, dass sie weiß werden. Man spricht heute gar nicht mehr über Traumata, es geht um Katatonie, den völligen Stillstand, das Erstarren.

Warum passiert das jetzt? Bei allen früheren kriegerischen Auseinandersetzungen hat sich die Europäische Union stets bemüht, möglichst schnell einen Waffenstillstand zu erreichen. Das war 2008/2009 so bei der Operation »Gegossenes Blei« und 2014, als Israel 50 Tage lang den Gazastreifen bombardierte. 1981, vor dem Libanon-Krieg, gab es zeitweilig sogar ein Waffenembargo Washingtons gegen Israel.

Grüne Kriegstreiber

Nichts davon ist in Sicht. Vielmehr sorgen sogenannte Sozialisten und die grünen Parteien aus der »zivilisierten« Welt dafür, dass dieser Krieg mit immer neuen Waffen befeuert wird. Wie kann das sein, wenn man sich doch zu anderen Gelegenheiten immer für einen Waffenstillstand eingesetzt hat? Ich sage euch den Grund. Es gibt eine Veränderung auf der Weltbühne. Gaza ist ein Sinnbild dessen, was die Zukunft für die Menschheit bereithält. Israel ist nach vorn geschnellt wie ein großer Hammer, der alle rechtlichen Standards, die es seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat, niederhämmert. Vor dem Hintergrund des Gazakriegs werden die Regeln umgeschrieben. Wir blicken auf eine neue Weltordnung, in der der Kolonialismus, der nie ganz von der Bildfläche verschwunden war, wieder sein Haupt erhebt. Fast kommentarlos konnte Israel den Libanon angreifen. Zugleich werden Menschen im Jemen, die sich mit den Palästinensern solidarisieren, von Großbritannien und den USA bombardiert. Das ist die Barbarei unserer Tage.

In Europa gibt es viel zu viele Linke, die im Grunde genommen buckeln vor ihren eigenen herrschenden Klassen und sich nicht offen für den Frieden aussprechen. Wir sehen das hier in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Man hat sogar Angst, offen zu sprechen. Wir wissen, dass es viele Menschen gibt, die gegen den Krieg sind, insbesondere gegen den Krieg in der Ukraine. Aber sind sie auch gegen die Militarisierung? Viele, die sich in der Vergangenheit den Grünen zugewendet haben, müssen jetzt feststellen, dass diese grünen Parteien die größten Militaristen in Europa sind. Sie stehen an der Spitze derjenigen, die immer neue Waffenlieferungen fordern. Wie kann man dem zustimmen? Das alles ist eine riesige Katastrophe, man denke nur an die sinnlose Geld- und Ressourcenverschwendung, die dieser Krieg bedeutet, Geld, das wir für andere Zwecke dringend bräuchten.

Wer also kann uns aus dieser Situation befreien? Wir, nur wir selbst. Die einzigen, die den Lauf der Geschichte ändern können, sind wir. Wir müssen als Bürgerinnen und Bürger, als Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenkommen, uns vereinen und zusammenschließen, um die Geschicke der Welt in die Hand zu nehmen. Die Optionen sind klar: Wenn wir den Widerstand nicht organisieren, werden die herrschenden Eliten einen endlosen Krieg auf unserem sterbenden Planeten führen. Was wir also heute tun müssen, ist uns zu organisieren und Widerstand zu leisten. Die Arbeiterklasse, die Arbeiterinnen und Arbeiter aller Länder, können nicht darauf hoffen, dem Schrecken des Krieges zu entfliehen, wenn sie sich nicht dieser barbarischen herrschenden Elite entgegenstellen und sie vom Thron stürzen.

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, deren Erben wir sind, haben in schwierigen Zeiten gelebt, so wie wir heute in schwierigen Zeiten leben. Aber sie haben sich dieser Herausforderung gestellt, so wie wir uns auch dieser Herausforderung stellen müssen. Niemand anders außer uns wird das tun, niemand wird es für uns tun. Wir müssen zusammenstehen in Solidarität für die Menschheit und das Völkerrecht.

Clare Daly ist eine sozialistische Politikerin aus Irland. Sie saß bis 2024 für die irische Partei ­Independents 4 Change im Europäischen Parlament

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