»Jedes Verbrechen hat einen Kontext«

Eran hat mich gebeten, einen historischen Brief vorzulesen. Die Überschrift lautet »Jüdisch-arabische Demonstrationen gegen die Besatzung«: »Wir Bürger Israels protestieren und verurteilen Sie wegen Ihrer Ignoranz, Ihrer Härte und Ihrer Blindheit. Der Mord in Rafah entlarvt das wahre Gesicht der Knesset, der Regierung und des zionistischen Regimes als Ganzes. Der Mord in Rafah widerlegt die von Ihnen allen akzeptierte Lüge über die vernünftige Besatzung. Eine vernünftige Besatzung kann es nicht geben. Der Mord in Rafah markiert einen weiteren Tiefpunkt der israelischen Politik in den besetzten Gebieten. Die Lage wird sich nicht verbessern, im Gegenteil. Und Sie werden weiter schweigen. Angesichts dieses Schweigens bekunden wir öffentlich: Sie repräsentieren uns nicht. Wir haben nichts mit Ihnen zu tun. 28. Januar 1969. Die Demonstranten.« Was hat es mit diesem Brief auf sich?
Dieser Brief wurde im Januar 1969 geschrieben von unseren jüdischen und palästinensischen Genossen der israelischen revolutionären Bewegung. Das war eine interessante Organisation. Sie wurde 1962 gegründet, hat sich auch gespalten, wie das so ist. Aber man hat viel erreicht. Interessant ist der Brief vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges und des Genozids, den wir in Gaza erleben. Viele Menschen in Israel denken, dass die Geschichte dieses Krieges am 7. Oktober begonnen habe, und dass sich der Krieg dann zu einem schmutzigen Krieg entwickelt habe. Aber es gibt einen Kontext, und es ist sehr wichtig, diesen Kontext zu kennen. Der Kontext ist die Besatzung und der Zionismus. Die Verbrechen der israelischen Besetzer in Gaza, im Westjordanland und auf den Golanhöhen begannen in dem Moment, als die Zionisten einen exklusiven jüdischen Staat wollten. Der Brief, der gerade vorgelesen wurde, bezieht sich auf ein Verbrechen im Januar 1969. Es geht um palästinensische Frauen, die wissen wollten, was mit ihren Männern passiert ist, die in einem Militärgefängnis inhaftiert worden waren. Diese Frauen wurden beschossen und eine der Frauen – ich weiß leider nicht ihren Namen – starb. Um dagegen zu protestieren wurde vier Tage nach diesem Mord eine Demonstration organisiert. Das ist eines der vielen Beispiele dafür, dass die Verbrechen des Zionismus lange vor dem 7. Oktober begannen. Natürlich rechtfertigen diese Verbrechen nicht das schreckliche Massaker, das von der Hamas am 7. Oktober begangen wurde. Aber jedes Verbrechen hat einen historischen Kontext. Die meisten Verbrechen, die unter der Besatzung begangen wurden, fanden in den Medien keine Erwähnung. Darüber wurde nicht berichtet, weder damals noch heute. Die israelischen Medien berichten auch nicht über die Aktivitäten der israelischen Linken gegen die Besetzung. Dieser Brief wurde seinerzeit nur in einer Auflage von 500 Kopien verbreitet. Die Mehrheit der Bevölkerung in Israel hat niemals von dem Mord in Rafah gehört und sie hat niemals von der Reaktion auf diesen Mord erfahren.
Die Linke ist damals sehr selbstbewusst und stark aufgetreten. Was ist der Unterschied zwischen der Linken damals und der heutigen Linken in Israel?
Das ist eine traurige Frage, die schwer zu beantworten ist. Die israelische Linke ist sehr schwach. Wir sind ein paar hundert Leute in ganz Israel, vielleicht insgesamt 1.000. Aber bei den Zionisten gibt es einen rechten und einen linken Flügel, und der linke Flügel war sehr groß, vor allem in der Zeit nach 1967 und in den ersten Jahren der Besatzung. Da gab es unzählige Aktivitäten. Und die Linke, auch die Kommunisten, hatte zu dieser Zeit durchaus Einfluss. Es gab viele öffentliche Debatten auf den Straßen und in den Medien. In den 1980er Jahren gab es das nicht mehr. Zum Glück existiert die Kommunistische Partei noch immer, aber ihre Anhängerschaft ist im Lauf der Zeit noch viel kleiner geworden. Und mit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 ist die zionistische Linke im Grunde genommen völlig verschwunden.
Du widmest dich der Geschichte der Linken und betreust ein Archiv. Was machst du da konkret?
Diese Arbeit gibt mir viel Kraft. Denn die Geschichte der Linken ist ein realer Anknüpfungspunkt. Was die Gegenwart anbelangt, muss man aber sagen, dass es nicht so wahnsinnig viel zu sammeln gibt. Das Archiv umfasst die Geschichte der sozialistischen Linken und der antizionistischen Linken. Sie ist reich an Ideen und Konzepten. Es gab viele wunderbare Frauen und Männer, die gegen jede Form von Ungerechtigkeit gekämpft haben und noch immer kämpfen, etwa gegen das Militärrecht, das erst 1966 aufgehoben wurde, vorher war Israel eigentlich keine Demokratie. Ein Unterschied zu den 1960er und 1970er Jahren ist sicherlich der, dass es heute sehr viele Nichtregierungsorganisationen und Graswurzelorganisationen gibt, auch in der arabischen Gesellschaft. Viele ihrer Mitglieder fühlen sich der Linken verbunden. Im Unterschied zu kommunistischen oder sozialistischen Organisationen arbeiten solche Gruppen aber sehr kleinteilig, da geht es um sehr spezielle Probleme, die zweifelsohne wichtig sind; aber das ist schon ein Unterschied. Viele beschäftigen sich ausschließlich mit Menschenrechten oder mit medizinischer Versorgung. Das Wichtigste heute ist, dass diese verschiedenen Gruppen zusammenfinden, dass wir uns vereinigen. Denn wir befinden uns in einem kritischen Moment in der Geschichte des Landes. Es ist wichtig, dass alle Linken zusammenkommen. Heute gibt es in Israel im wesentlichen zwei linke Bewegungen: Hadash, gegründet 1977 durch die Israelische Kommunistische Partei, und die arabische Partei Balad, die 1995 gegründet wurde. Beide zusammen müssen eine gemeinsame Front aufbauen, um eine kritische Masse zu erreichen.
Ein existentiell bedrohliches Problem, nicht nur für die Linke, ist der Aufstieg des Kahanismus als zionistische Erscheinungsform des Faschismus. Heute hat der Kahanismus eine Macht wie noch nie zuvor in der Geschichte Israels. Man merkt das auch an der Rhetorik der Politiker, des Militärs und der Medien. Die kahanistische Ideologie ist mittlerweile tief in der israelischen Gesellschaft verankert, etwa wenn zur Ausrottung der Palästinenser aufgerufen wird oder Greueltaten an der palästinensischen Zivilbevölkerung nicht nur im Gazastreifen öffentlich gefeiert werden. Wie gefährlich sind die Kahanisten deiner Meinung nach aktuell?
Ich war als Teenager in einer Jugendbewegung, die sich sozialistisch nannte, sozialistisch und zionistisch. Ich war 14 und glaubte, dass so etwas zugleich existieren kann: Sozialismus und Zionismus. Es hat Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass das nicht zusammengeht. Aber ich habe damals in dieser Jugendbewegung durchaus viele gute Sachen gelernt, zum Beispiel, dass man überall hingehen muss, wo es diese rassistische Ideologie des Kahanismus gibt und dass man die Kahanisten mit der Realität konfrontiert. Die kahanistische Bewegung ist gefährlich für die Palästinenser. Heute ist sie tödlich, und das wegen Premierminister Benjamin Netanjahu. Itamar Ben-Gvir, der Minister für nationale Sicherheit in Netanjahus Kabinett, durfte als junger Mann nicht zur Armee. Sie wollten ihn nicht, weil er ihnen zu radikal war. Denn schon als junger Mann war er durch rassistische Gewalt aufgefallen und als Mitglied einer terroristischen Organisation angeklagt worden. Die Kahanisten sind seinerzeit als terroristische Organisation eingestuft worden, das war in der Zeit nach der Ermordung von Jitzchak Rabin 1995. Netanjahu hat Ben-Gvir in sein Kabinett geholt und zum Minister gemacht. Das ist ein Verbrechen. Als für die Gefängnisse zuständiger Minister hat Ben-Gvir eine brutale Politik umgesetzt. Seit dem 7. Oktober sind Dutzende von Palästinensern in den Gefängnissen umgebracht worden. Das geschah nicht einmal in Guantanamo. Hunderte von Palästinensern wurden misshandelt und gefoltert, es gab Vergewaltigungen. Darüber haben auch israelische Zeitungen berichtet. Seit der Herrschaft von Ben-Gvir ist auch die Polizei immer gewalttätiger geworden. Sie war auch vorher nicht vorbildlich, jetzt gibt es aber wirklich überhaupt keine Hemmungen mehr. Es ist eine Höllentruppe. Und Ben-Gvir schwört sie auf sich ein. Wenn man als Polizeioffizier Karriere machen will, muss man sich mit Ben-Gvir gut stellen, muss man seine Ideologie teilen. Natürlich unterdrückt die Polizei auch die freie Meinungsäußerung in Israel und behindert Proteste. Auch der Oberste Gerichtshof hat sich auf die Seite der Polizei geschlagen: Eine gemeinsame Demonstration von jüdischen und arabischen Menschen gegen den Krieg wurde verboten. Nichts erschreckt die Regierung mehr als eine gemeinsame Opposition von Israelis und Arabern gegen den Genozid und gegen die Besatzung.
Was sind denn deine Hoffnungen und Perspektiven für die Zukunft?
Der blutige Krieg muss beendet werden. Der Genozid muss enden. Das kann sehr schnell gehen. Es gibt Verhandlungsvorschläge. Alle Menschen, die entführt worden sind, alle, die verhaftet und gefoltert wurden, egal, ob Juden oder Araber, müssen freigelassen werden. Sie müssen zu ihren Familien und ihren Wohnorten zurückkehren können, und zwar sofort. Nun kann man weder der israelischen Regierung noch der Hamas vertrauen. Wir brauchen die Weltgemeinschaft, die sich einmischt. Wir brauchen unbedingt die Briten und die Deutschen, Katar, Ägypten, Jordanien. Wir brauchen eure Hilfe. Wir brauchen euch, damit ihr unsere Regierung unter Druck setzt, diesen Krieg zu stoppen. Israel will den Krieg nicht beenden. Die Regierung will in Gaza erneut Siedlungen errichten. Die Siedler wollen nach Gaza zurückkehren. Das müssen wir unterbinden. Ganz wichtig ist die Frage des Rückkehrrechts der Palästinenser. Die Menschen, die 1948 vertrieben wurden oder deportiert worden sind, haben das Recht zurückzukehren. Ich hoffe, dass das umgesetzt wird. Dann gibt es natürlich innenpolitische Fragen: Wir müssen die israelische Polizei völlig neu aufbauen. Wir müssen sie sowohl mit Juden als auch mit Arabern besetzen. Wir müssen auch das israelische Kultusministerium neu aufbauen. Wir brauchen eine Versöhnungskommission. Das ist ganz wichtig, dass die Menschen die Geschichte erfahren. Viele wissen ja gar nicht, was vorgefallen ist. Die Juden kennen nicht die palästinensische Geschichte. Die Palästinenser kennen vielfach die Geschichte der Juden nicht. Dann müssen die Israelis Arabisch lernen, das ist ganz wichtig. Die meisten Araber können Hebräisch, aber kaum ein Israeli kann Arabisch. Dass viele Israelis die Palästinenser heute nicht als Menschen ansehen, das ist ja nicht zufällig so geschehen, das ist die Folge der zionistischen Politik, die in Israel zwei Parallelgesellschaften geschaffen hat. Es gibt keine Verbindung, keinen Austausch. Die israelischen Juden kennen die arabische Literatur nicht, sie wissen nichts über die arabische Geschichte. Das sind Aufgaben für die nähere Zukunft. Was aber die fernere Zukunft angeht, so hoffe ich auf einen sozialistischen Nahen Osten.
Interview: Susann Witt-Stahl
Eran Torbiner ist Filmemacher und Koordinator des Archivs der Linken in Israel
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