Demut vor den Fakten
Von Ina Sembdner
Der in Ueckermünde geborene Professor Ulrich van der Heyden lässt in seiner »Streitschrift« kein gutes Haar an vorgeblich antikolonialen aktivistischen Kampagnen, bei denen »viel Selbstüberschätzung im Spiel« sei. So verbreite »eine vermeintliche Kulturelite« sogenannte postkoloniale Theorien, »die angeblich auf Antikolonialismus und Antirassismus fußen«, urteilt der Afrika-, Missions- und Kolonialhistoriker sowie Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Afrika gleich zu Beginn seines Buches »Mohren, Missionare und Moralisten. Eine Streitschrift zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands«. Es ist kein in einem Guss geschriebenes Werk, sondern eine Zusammenstellung verschiedener sowohl bereits veröffentlichter als auch unveröffentlichter Artikel mit einem Gastbeitrag des früheren Kapitäns P. Werner Lange, der in der Folge über Ostafrika zu schreiben und zu veröffentlichen begann. Hier widmet er sich der Frage nach der Sinnhaftigkeit einer »Rückgabe« des in Berlin befindlichen Pergamonaltars.
Grundsätzlich kann van der Heyden, der sein Wissen auf mehr als 60 Publikationen und etwa 200 wissenschaftliche Studien und Artikel stützt, zwar attestieren, dass es ein zunehmendes Interesse an der Kolonialgeschichte hierzulande gibt – vor allem unter jungen Menschen –, dass aber »bei den Debatten oftmals nur geringe oder gar keine historischen Kenntnisse vorhanden sind«. Viele wollten bei dem Thema mitreden, »obgleich ihnen meist die geringsten kognitiven Fähigkeiten fehlen«, lautet das harsche Urteil. Das aber erscheint gerechtfertigt, wenn historische Quellenarbeit zugrunde gelegt und die Stimmen jener, um die es eigentlich ja gehen sollte – die ehemals Kolonisierten – miteinbezogen werden.
Explizit wendet sich der Historiker gegen Forderungen nach Umbenennung, etwa von Straßennamen. Die seiner wissenschaftlichen Erkenntnis folgend zutage tretenden »Verdrehungen, Negierungen und Leugnungen von historischen Tatsachen, die aus Unkenntnis oder bewusster Missachtung der jeweiligen historischen Kontexte, aus der Nichtbeachtung von historisch bedingten Zwängen, Triebkräften, Entwicklungen etc. herrühren, bedürfen dringend der Zurückweisung und/oder der Korrektur«. Als Untermauerung dieser Einschätzung werden die historischen Umstände der Benennung der Berliner Mohrenstraße und des allgemeinhin als Kolonialverbrecher geltenden Gustav Nachtigal genauer nachgezeichnet. Zitiert werden etwa afrikanische Kollegen von der Universität in Lomé, die 2004 in der früheren Kolonie Togo eine Konferenz zu Nachtigal veranstalteten, dessen Persönlichkeit sie »am Beginn der deutsch-togoischen Beziehungen« verorten. Eine »seriöse Biographie« zu Nachtigal und eine vollständige Auswertung seiner Schriftstücke gibt es bislang nicht.
In dem Kapitel »Zwei Bücher desavouieren die kritische deutsche Kolonialgeschichtsschreibung« arbeitet sich van der Heyden ab an der Ende der 2010er Jahre maßgeblich von der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy losgetretenen Debatte um die Restitution geraubter Kulturgüter in hiesigen Museen und Sammlungen. Der von Präsident Emmanuel Macron eingesetzten Wissenschaftlerin spricht van der Heyden ihre spezifische Qualifikation ab und konstatiert, dass Savoy »originäre Erkenntnisse der jüngsten afrikanischen Geschichte« vermissen lässt. Nicht nur dieser, wie der Historiker süffisant anmerkt: »(In diesem Zusammenhang ein Hinweis an Bénédicte Savoy: Die DDR wurde 1990 ›aufgelöst‹ und nicht, wie behauptet, im Jahre 1989).« Van der Heyden weist zu Recht darauf hin, dass solche »Ablenkungsmanöver«, die lediglich einen »Nebenkriegsschauplatz« aufmachen, weder an einer unfairen Visa- oder Handelspolitik etwas ändern noch etwas an der neokolonialen »Durchherrschung der Welt«, von der Frankreich »unverändert profitiert«. Auch der als renommiert geltende Historiker Götz Aly und seine Abhandlung zum mutmaßlichen Raub des sogenannten Luf-Bootes von der gleichnamigen zur Kolonie Deutsch-Neuguinea gehörenden Südseeinsel bekommen ihr Fett weg. Unter Hinzuziehung verschiedener kritischer Rezensenten und indigener Stimmen führt van der Heyden Alys inhaltliche Argumentation eines kolonialen Raubvorgangs vor.
Die DDR und deren Kolonialhistoriographie nehmen in der Streitschrift weiten Raum ein, wird doch beispielsweise in der westdeutsch dominierten Wissenschaft und Publizistik das Thema Vertragsarbeiter ebenso »unzutreffend, verkürzt, verlogen, politisch konnotiert oder unwissend« behandelt bzw. »aufgearbeitet« wie andere Kapitel der DDR-Geschichte. Van der Heyden, der sich intensiv auch mit diesem Thema befasst hat, rollt etwa den »Mord« am Mosambikaner Manuel Diego auf und hält fest, dass es natürlich »auch in der DDR rassistische Ressentiments« gegeben habe, »aber keinen Rassismus, schon gar nicht einen von Staats wegen«. Der marxistische Ansatz in der Kolonialforschung sorgte hingegen dafür, dass ostdeutsche Afrikawissenschaftler »auch noch nach dem Untergang des Landes auf Wunsch afrikanischer Staaten an dortigen Universitäten als Dozenten und Forscher tätig« waren und vor Ort zur kolonialen Vergangenheit und deren Folgen arbeiteten. Zuvor war die DDR-Kolonialhistoriographie der westdeutschen lange Zeit weit voraus gewesen.
Doch letztlich landete das Anschlussgebiet ebenfalls in einem »kolonialen Prozess«, etwa durch die Besetzung der geisteswissenschaftlichen Lehrstühle. Van der Heyden zitiert aktuelle Studien, laut deren 95 Prozent dieser Positionen – einschließlich der im Osten – von »nicht-ostdeutsch sozialisierten Professoren besetzt sind«. Daher gilt: »Eine Aufarbeitung der ›Aufarbeitung‹ der DDR-Geschichte, wie auch des verzerrten Bildes über die koloniale Vergangenheit Deutschlands ist notwendig und wird die nächste Generation von Historikern beschäftigen müssen.«
Ulrich van der Heyden und P. Werner Lange (Koautor): Mohren, Missionare und Moralisten. Eine Streitschrift zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands. Verlag am Park, Berlin 2025, 290 Seiten, 22 Euro
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