Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 26.03.2025
Belletristik

Trotzdem tut’s weh

Brillant-banal: Christian Krachts neuer Roman »Air«
Von Stefan Gärtner
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Die Abbildungen dieser Beilage stammen aus Ulli Lusts Graphic Novel »Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte« (Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 256 Seiten, 29 Euro). Sie erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Lesen Sie auch eine Rezension des Bandes unter dem Titel »Wir sind viele« auf Seite 16.

Eine womöglich kleinbürgerliche Antwort auf die Frage, was einen Roman zu einem guten Roman macht, wäre, dass er gut geschrieben ist. Bloß, was heißt das, »gut geschrieben«? Fesselnd? Originell? Oder zunächst nur: in gutem Deutsch?

Die erste Hälfte des ersten Satzes von Christian Krachts 2016 erschienenem Roman »Die Toten« lautet: »Es war der nasseste Mai seit Jahrzehnten in Tokio; das schlierige Grau des bewegten Himmels hatte sich seit Tagen in ein tiefes, tiefes Indigo verfärbt, kaum jemand vermochte sich jemals an derartig katastrophale Wassermengen zu erinnern.« Der Satz ist schief und müsste lauten: Kaum jemand vermochte sich daran zu erinnern, dass es jemals so geregnet hätte. Was der Satz statt dessen sagt, ist: Kaum jemand hat sich jemals an einen so schlimmen Regen erinnert, und das ist nicht dasselbe.

Bei Krachts Romanen war es häufiger der Fall, dass sie sich lasen, als hätte das Lektorat nicht aufgepasst; in »Imperium« (2012) etwa hakte es schon bei den Konjunktiven der indirekten Rede, und der Kollege Gerhard Henschel sah in seiner Titanic-Rezension »zahnweherzeugende Deutschfehler«, gar »Pidgin«. Die unsauberen Bezüge in »Air« mag man mit Flaubert noch überlesen, aber Tempusfehler, Redundanzen und Agrammatisches wie »sich erschrecken« stehen so unberührt da, dass es wie Programm wirkt: Wer auf der Eigengesetzlichkeit der Poesie besteht, kann schließlich finden, dass es ein Widerspruch sei, dann auf den Gesetzen der »sogenannten Wirklichkeit« (Benjamin Schiffner) zu beharren. Und wenn der Innendekorateur Paul, Spezialgebiet: Hochpreisminimalismus, bei der Besichtigung einer norwegischen Großserveranlage, die »Trillionen mit Mobiltelefonen aufgenommene ­Erinnerungen« ­gespeichert hält und in einem vielsagenden Weiß gestrichen werden soll, von einem solaren Plasmasturm aus dieser Welt hinaus- und in eine Sagenwelt hineingeweht wird, geht die Sonne dort schließlich im Westen auf. Und gelten die Regeln ohnehin nicht mehr.

Gelten sie natürlich doch, jedenfalls die des Genres, und Kracht weiß es. Die Welt, in der Paul »der Fremde« ist, ist eine, die man aus »Game of Thrones« oder »Die Brüder Löwenherz« kennt, und auf Astrid Lindgrens Klassiker bezieht sich der Roman ausdrücklich, wenn Paul in einer Straßenbibliothek »eine schöne englische Erstausgabe« entdeckt und sein Auftraggeber Cohen nach der Überdosis Schlaftabletten da erwacht, wo Paul schon ist. Der hat, gemeinsam mit der neunjährigen Ildr, bereits eine abenteuerliche Flucht vorm dunklen Herzog Tviot hinter sich, einem Bösewicht wie aus dem Märchenbuch (oder eben den »Brüdern Löwenherz«), und ist dabei in die eisig-polare »Steinstadt« geraten, die Tviot ­Widerstand leistet. Die von Paul ­bemerkte »Zweidimensionalität« der asketisch urkommunistisch verfassten Gesellschaft ist vielleicht politischer Kommentar und sicher ein Verweis darauf, dass Paul sich in einer Fiktion bewegt, und zwar, wie in der Erstwelt auch, bei vollem Bewusstsein; vor allem aber ist die kalte »Flachheit« aus »Stein und Wasser« der vom Kopf auf die Füße – oder andersherum? – gestellte Minimalismus des »Echten« und »Authentischen«, festes Lebensstilmittel auch des »Anywheres« Paul, der sich auf die schottischen Orkneys zurückgezogen hat, einen »weit im Norden an einem grauen Meer gelegenen Ort, kalt und steinern und sauber«: »Dennoch schmierte er sich etwas ­Sauer­rahmbutter auf die Brotfläche und holte aus dem Schrank das Blackthorn Salt, aus der Salzplantage im westschottischen Ayrshire.« Wer der böse Herzog in dieser Welt ist, vor der die Wohlstandsmenschen in den »Urzeittraum« (Lindgren) der Fantasy flüchten – ihrerseits eine Apotheose des Originären –, lässt sich denken.

Dass Poesie zugleich das Echte im Falschen und das Falsche im Echten ist, ist keine schlechte Voraussetzung für einen Roman, der den Denkfehler der Kitschparole, nicht sein Leben zu träumen, sondern den Traum zu leben, zum Thema hat, wie der Kalendersatz des alten weisen Steinstädters erst im poetischen Nebenraum, markiert durchs falsche Komma und das große Du, zur reinen Wahrheit wird: »Weißt Du, wer alle Dinge in seinem eigenen Selbst sieht, und sein eigenes Selbst in allen Dingen, der verliert alle Furcht.« Man muss gar nicht wissen, dass Kracht als Erfinder der deutschen Popliteratur gilt, um die Rückbindung dieser Romantik ans totale Produktversprechen des »Postkapitalismus« (wohl eher: Spätkapitalismus) zu erkennen, der alles zerstört, »um das Versunkene erneut als Ware anbieten zu können, allerdings zum hundertfachen Preis. Am besten, man brachte sich einfach um.« Und landet wieder im Dekor. Dass der Autor seinerseits das Versunkene als Ware anbietet, wird eine berechnete Metaironie sein.

»Ich war eigentlich nicht wirklich da«, erklärt Paul dem Mädchen, das ihn mit Pfeil und Bogen verwundet hat, und trotzdem tut’s weh und ist »alles echt« – der romantische Ironiker Kracht will, dass wir seine Fährten finden. Und also heißen Boote gälisch »Hoffnung«, kommt Paul schon im Taxi »alles wie in der Erinnerung oder wie im Film oder wie in einem Traum« vor und lernt man auch, was »in effigie« heißt, wenn die post-postmodernen Ausgaben der Löwenherzbrüder in die übernächste Welt unterwegs sind und dabei die Szene eines Gemäldes inkarnieren, das bei Paul an der Wand hängt. »Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich«, lautet der erste Satz des Romans, und schon hier darf entschieden werden, ob man derlei Doppelsinn für brillant oder banal hält, so wie »Air« vielleicht beides ist, brillant und banal, konstruiert und selbstverständlich. Und während hinter Lindgrens postmortalem Nangijala ein noch einmal schöneres (und geradewegs himmlisches) Paradies aus Licht, Wärme und Liebe wartet, erfüllt sich Pauls ästhetizistisch-romantisches Steinstadtneurotikertum in der Vision vom verlassenen, nachmodernen, den Verfall freundlich einladenden Haus hinterm Ende der Welt, »schon achtzig Jahre lang keinen Strom mehr. Das Fenster, es steht offen, die nebelleichten Gaze­vorhänge wehen sanft hin und her, da draußen die Wiese. Die Pferde, verwildert, im Regen. Blühende Heidefelder in Rosa und Violett, so weit das Auge reicht. Drüben auf der anderen Seite der Meerenge das Festland.«

In Krachts Debüt »Faserland« (1995) ruderte der Held am Ende aufs Wasser, hier ist er, in der finalen Überblendung von erster und letzter Ebene, schon die entscheidenden Ruderschläge weiter, und wer vielleicht nicht der Ansicht ist, er müsse sich »Die unendliche Geschichte« noch einmal erzählen lassen, will vielleicht trotzdem Krachts Meditation über Kunst, Tod und Leben folgen, die den einfachen (darin hohen) Ton einer einfachen (darin strengen) Welt schon darum gern anschlägt, weil die Kunst eben doch nicht heiterer als das Leben ist. Schon das Leben, welches nicht lebt, hat ja sein Unwirkliches, und was dann als Kunst nicht wirklich ist, hebt die realen Limitationen lediglich im Hegelschen Dreifachsinn auf. Es ist ein schöner Kniff, dass in Krachts Nangijala ein von Paul importiertes Antibiotikum die Hauptrolle spielt, und »Hoffnung« läge also nicht in universalpoetisch-märchenhafter, darin regressiver Erfüllung – die Welt, in der Paul (oder sein Avatar, wer kann das wissen) erwacht, ist eine aus Gewalt und Ausgeliefertsein –, sondern in der Dialektik von Hüben und Drüben, von Diesseits und Möglichkeit: Der Traum vom Leben enthalte bitte Penicillin.

Dem Roman ist W. B. Yeats’ »Song of Wandering Aengus« vorangestellt, der das Mädchen, das ihm in einer Forelle erschienen ist, suchen wird, »till time and times are done«, und dass es, zwischen Trump und Klimaschock, nun bald soweit ist, ist ein weiterer Spiegel in Krachts Kabinett. Bald leben wir im Traum derer, die mit ihren Visionen nicht zum Arzt gehen wollen, und ihr Traum, unser Alptraum, ist das Falsche im Falschen. Dass »Air« mit dem Haus hinterm Festland endet, leuchtet auch in dieser Hinsicht ein.

Christian Kracht: Air. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 224 Seiten, 25 Euro

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