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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 26.03.2025
Lyrik

»Wer hat gesagt, daß so was Leben ist?«

Schreibend lässt es sich aushalten: Eine erweiterte Neuausgabe von Rolf Dieter Brinkmanns großem Gedichtband »Westwärts 1 & 2«
Von Frank Schäfer
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Die »Vorbemerkung« zu »Westwärts 1 & 2« (1975), Brinkmanns letztem Buch zu Lebzeiten, ist mindestens so berühmt wie einige der Gedichte aus diesem Band. »Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter …« Eine Inventur des medialen Lebens, das auf ihn eindringt, durch ihn hindurchfließt, seinen Wahrnehmungsapparat kaum mehr tangiert, bis doch noch einmal – und immer noch einmal – ein Alltagsdetail, eine Assoziation, Reminiszenz oder auch nur ein Gefühl seine Aufmerksamkeit weckt und seine poetische Energie bündelt. Es ist natürlich ein poetologischer Text, aber einer, der ganz konkret vorführen möchte, was poetisch auf dem Spiel steht, so als würde man Brinkmann beim Schreiben der »Vorbemerkung« in den Kopf schauen können.

Genau das wollen seine Texte. »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs«, heißt es dort weiter. »Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.«

Die Sprache zu überwinden mit der Sprache – das ist das paradoxe, sprachkritische, von Leuten wie William S. Burroughs adaptierte Credo, das sich in »Westwärts 1 & 2« immer wieder auf suggestive Weise manifestiert. Nicht zuletzt in seinem Single-Hit, dem wahrscheinlich bekanntesten deutschen Gedicht der 70er Jahre:

Einen jener klassischen

*

schwarzen Tangos in Köln, Ende des

Monats August, da der Sommer schon

*

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden

Schluß aus der offenen Tür einer

*

dunklen Wirtschaft, die einem

Griechen gehört, hören, ist beinahe

*

ein Wunder: für einen Moment eine

Überraschung, für einen Moment

*

Aufatmen, für einen Moment

eine Pause in dieser Straße,

*

die niemand liebt und atemlos

macht, beim Hindurchgehen. Ich

*

schrieb das schnell auf, bevor

der Moment in der verfluchten

*

dunstigen Abgestorbenheit Kölns

wieder erlosch.

*

Die Texte aus »Westwärts 1 & 2« werden eingerahmt von jeweils zwölf Seiten mit Schwarzweißfotografien am Anfang und Ende des Buches. Was Brinkmann auf seinen Reisen nach Austin, Rom, Longkamp, bei Familienbesuchen in Vechta oder auf seinen regelmäßigen Gängen durch die Straßen Köln in Form von Schnappschüssen mit der Kodak Instamatic festhält, sollen die Gedichte mindestens so authentisch mit den Worten einfangen. Hier gelingt es ihm auf beeindruckende Weise. Es ist eine lyrische Momentaufnahme, die eine Stimmung so suggestiv und eingängig in Sprache überführt, dass sie tatsächlich wie ein guter Song funktioniert.

Brinkmann erlebt eine profane Epiphanie inmitten zivilisatorischen Zerfalls, die für ihn, aufgehoben im Gedicht, eine tröstende Funktion übernimmt. Dem alten romantischen Motiv, wonach die Poesie das Leiden an der Moderne für einen Moment heilen oder zumindest vergessen machen kann, begegnet man immer wieder in diesem Buch. »Zerstörte Landschaft mit / Konservendosen, die Hauseingänge / leer, was ist darin?«, fragt sich das lyrische Ich in »Gedicht«. Ein paar Verse später ist es »einen Tag älter, tiefer und tot«, aber das ist noch lange kein Grund zum Verzweifeln. »Wer hat gesagt, daß so was Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau.«

Die Gedichte aus »Westwärts 1 & 2« stammen aus einer Zeit, in der Brinkmann viel unterwegs ist. Schon der Titel spielt ja darauf an und so sind auch diverse Reisegedichte darunter. Doch wo er auch hinfährt, allenthalben begegnen ihm abendländische Untergangsszenarios, er beschreibt die Ruinen und Trümmer mit dem gewohnten Ressentiment, aber schon der Akt des Abkonterfeiens dieser quasidystopischen Landschaften kann den Schrecken bannen. Schreibend lässt es sich in der Welt trotz allem aushalten, zumal wenn es ihm gelingt, ihr noch einmal ein bisschen Schönheit abzuringen.

Nicht immer gelingt das auf so leichte Weise. Seine fließenden, um ­totale Wirklichkeitserfassung bemühten Langgedichte geben sich viel stärker dem produktiven Moment hin und stenographieren, teilweise mehrspaltig, plane Prosa und rhythmisierte Sprache vermischend, die ganze unordentliche Bewusstseinsspreu mit. Je nach Tagesform entstehen dabei soghafte Meditationen, in denen man sich mit großem Vergnügen verlieren kann, oder Geduldsproben, die einen durch ihren egozentrischen Mutwillen kalkuliert überfordern.

»Stadtszenen und Landschaften, autobiographische Bruchstücke und fiktive Biographien, vermischt mit Briefstellen, Zeilen aus Rock’n’Roll-Liedern und Fragmente aus Unterhaltungen, Erinnerungen und Lektüre machen die Gedichte, die oft lange ausschweifende und abschweifende, rauschhafte Texte sind, zu einem intensiven Erlebniswirbel«, dichtet Brinkmann für die Verlagsankündigung. Diese »Flächengedichte« (Harald Weinrich) hat man durchaus als innovative Befreiungsversuche und als Erweiterung des lyrischen Formenrepertoires zu ästimieren gewusst, wirklich bekannt geworden sind allerdings die eher liedhaften Gedichte. Sie demonstrieren deutlich genug, wieviel Kunstfertigkeit und Intuition eben doch nötig sind, um solche makellosen Abbilder des poetischen Augenblicks schreiben zu können. »Ein Skunk / am Morgen, tot, überfahren / auf dem schon aufgeweichten / Asphalt, macht den Eindruck / als ob der Morgen selbst / überfahren worden ist, / den Atem angehalten / und das Autofenster hochgekurbelt, / wo das Land zu beiden Seiten / weit ist, Texas, eingezäumt, / das flache Versteck.«

»Westwärts 1 & 2«, einer der wichtigsten deutschen Lyrikpublikationen der 70er, ­wäre fast nicht erschienen, wenn Brinkmann starrköpfig wie ehedem auf seinen ästhetischen Standpunkt beharrt hätte. Er gibt nämlich ein viel zu umfangreiches Manuskript ab. Mit Jürgen Manthey, seinem Sonderbewacher bei Rowohlt, sind 180 Seiten vertraglich vereinbart. Brinkmanns Manuskript ist beinahe doppelt so lang, das zeigt die nun schon zum zweiten Mal mit Gedichten aus dem Nachlass erweiterte Neuausgabe von 2005. Und Manthey, vielleicht vorgewarnt von Nicolas Born oder Hermann Peter Piwitt, setzt ihm gleich die Pistole auf die Brust. Es werde den Band kürzen müssen, schreibt er ihm am 19. Dezember 1974, andernfalls könne der nicht bei Rowohlt erscheinen. Brinkmann ist schon dabei, einen gepfefferten Antwortbrief zu entwerfen, beruhigt sich dann aber wieder, vermutlich im Bewusstsein des Umstands, dass er gar so viele Patronen nicht mehr im Lauf hat, wenn er noch einmal als Autor reüssieren will. Er willigt also zähneknirschend ein und sortiert immerhin 26 Gedichte, einen Teil der Fotos und nicht zuletzt das allein über 60seitige »Unkontrollierte Nachwort zu meinen Gedichten« aus.

Tatsächlich gewinnt der immer noch recht umfangreiche, eng gesetzte Band dadurch.

Dass »Westwärts 1 & 2« nach dem Unfalltod seines Autors am 23. April 1975 keine herkömmliche Rezeption erfährt, ist kein Wunder. Hier lässt sich ähnliches beobachten wie bei Jimi Hendrix, Jim ­Morrison oder Janis Joplin. Diese Gedichte hat nun nicht mehr bloß ein Autor geschrieben, sondern ein Frühvollendeter, der für sein solitäres Werk in den Tod gegangen ist. Für eine erfolgreiche Rezeptionsgeschichte gibt es nichts Besseres.

Man kann sich über die »Nachwelt von Nekrophilen« lustig machen wie sein Kollege Piwitt: »kaum war der unzumutbar gewordene Löwe tot, sang alles, was ihm vorher lieber nicht begegnete, das Lob seiner Größe und Wildheit.« Und doch ist es müßig. Dem Kollektivbewusstsein kommt man mit Argumenten nicht bei, es braucht solche tragischen Figuren viel zu sehr, um dem eigenen Mittelmaß, der Konformität, dem Juste Milieu seinen Schrecken zu nehmen. Die wahre Tragik liegt ohnehin woanders, nämlich darin, dass Brinkmanns Werk seine postume Auratisierung gar nicht nötig gehabt hätte.

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025, 448 Seiten, 52 Euro

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