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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 26.03.2025
Belletristik

»Wo zum Kuckuck sind die ganzen Frauen?«

Hochplateau der Phantastik: Band zwei der deutschen Werkausgabe von Joanna Russ
Von Marie Hewelt
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Science-Fiction, sagt Joanna Russ, ist Realismus verkleidet als Phantastik.

Der Literaturgattung verkleideter Realismus widmet sich das Programm des 2023 gegründeten Carcosa-Verlags. Das Haus macht hauptsächlich Klassiker der englischsprachigen Science-Fiction, zum Beispiel Romane von Leigh Brackett, Ursula K. Le Guin und Samuel R. Delany in guten Neuübersetzungen, teilweise in deutschen Erstausgaben zugänglich. Das Verlagsprogramm besticht durch ein erfreuliches Übergewicht an Autorinnen, durch klares, schönes Design der Bücher und eine offensichtliche Wertschätzung fortschrittlicher phantastischer Literatur.

Diese Wertschätzung zeigt sich auch darin, dass die Amerikanistin und Übersetzerin Jeanne Cortiel bei Carcosa die erste deutsche Werkausgabe von Joanna Russ herausbringt. Sie besteht aus drei Bänden und verschafft einen Überblick über die Entwicklung von Russ’ Denken und Ästhetik, das den Bänden entsprechend in drei Phasen gegliedert wird. Im ersten Teil, »In fernen Gefilden«, ist die frühe Schaffensphase von Russ vertreten mit einer Auswahl an Essays und Besprechungen (u. a. zu Shulamith Firestones »The Dialectic of Sex«, 1970) und ihren zwischen Fantasy und Science-Fiction wechselnden Geschichten um Alyx, einschließlich des Romans »Picknick auf Paradies«.

Der dritte Band, »Jenseits der Grenzen«, wird eine neue Übersetzung des Romans »We Who Are About To …« enthalten, außerdem verschiedene Erzählungen, Essays und Rezensionen.

Im Zentrum des jetzt erschienenen zweiten Bands der Werkausgabe, »Erwachende Welten«, steht Russ’ bekanntester Roman, das 1975 erschienene Meisterwerk »The Female Man«, auf deutsch »Der weibliche Mann«. Der Titel ist eigentlich nicht übersetzbar, weil der neutrale Artikel und die Mehrdeutigkeit von »Man« nicht ins Deutsche übertragen werden können. Trotzdem ist der Titel der überarbeiteten Übersetzung deutlich näher am Original als die bisherigen Fassungen »Planet der Frauen« (1979) und »Eine Weile entfernt« (2000). Diese beiden Varianten legen den Fokus auf die nur von Frauen bewohnte Welt Whileaway, während das Original und die Neuübersetzung Bezug nehmen auf die Figur Joanna, der titelgebende »weibliche Mann«: »Ich hatte mich gerade in einen Mann verwandelt, ich, Joanna. Ich meine natürlich einen weiblichen Mann; mein Körper und meine Seele waren noch genau die gleichen.«

Ergänzt wird der Roman durch zwei Erzählungen, Rezensionen verschiedener Bücher über die Ehe, Science-Fiction- und Fantasy-Literatur sowie den Essay »Wie sich die Substanz von Genres abnutzt«. Russ beschreibt darin die Entwicklung, den Verschleiß und Niedergang von Genres in drei Stadien: Unschuld, Plausibilität und Dekadenz. Das erste Stadium ist geprägt durch Innovationen, Einfachheit und Naivität, das Hervorzaubern einer Idee. Im zweiten Stadium werden die Geschichten komplizierter und wirklichkeitsgetreuer. Im dritten Stadium werden Geschichten stilisiert bis zur Erstarrung oder Elemente, die zu einem Genre gehört haben, werden in anderen künstlerischen Kontexten verwendet. Wirklich große Werke bringt die zweite Phase hervor, sie haben immer Vorbilder, auf denen sie aufbauen: »Großartige Werke – selbst gute Werke – sind weit davon entfernt, originell oder wirklich revolutionär zu sein; tatsächlich markieren sie in der Regel das Ende einer Traditionslinie, sie nutzen kollektive Schöpfungen als eine Art Sprungbrett.«

So sind auch die Ideen in »Der weibliche Mann« nicht ohne Vorbilder, und doch ist der Roman einzigartig. Er handelt von vier Js, Janet, Jeannine, Joanna und Jael. Sie stammen aus vier möglichen Welten oder vier Möglichkeiten einer Welt, sind vier Personen oder vier Möglichkeiten einer Person. Die Welten, aus denen sie stammen, sind ein nur von Frauen bevölkerter Planet mit Namen Whileaway; eine Version New Yorks des Jahres 1969, in dem die Weltwirtschaftskrise seit 1929 nicht geendet hat und es keinen Zweiten Weltkrieg und keine Frauenbewegung gab; eine naturalistische Version der USA Anfang der 1970er Jahre und eine Welt, in der der Geschlechterkampf buchstäblich als Krieg ausgetragen wird. Die Verhältnisse, in denen sich Frauen in den jeweiligen Welten bewegen, werden zu den anderen Welten in Beziehung gesetzt, indem die Js einander kennenlernen. In wechselnden Erzählperspektiven werden die Brüche deutlich, die bei diesen Begegnungen entstehen. Besonders einprägsam ist es, wenn Janet Evason als Botschafterin von Whileaway die Welt von Joanna – die »realistische« Welt – besucht: »Der erste Satz, den der zweite männliche Besucher auf Whileaway von sich gab. lautete: ›Wo sind die ganzen Männer?‹ Als Janet Evason im Pentagon erschien, breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, sagt sie: ›Wo zum Kuckuck sind die ganzen Frauen?‹« Das Buch hat viel Humor, ist aber gleichzeitig schonungslos realistisch (im Fantasiegewand) und verwirrend. Manchmal ist es nicht klar, aus welcher Perspektive das Geschehen geschildert wird, was eine Verschmelzung der so verschiedenen Sichtweisen der verschiedenen Frauen aus verschiedenen Gesellschaften widerspiegelt. Auch mit der Autorschaft wird gespielt. »Ich bin die Autorin, und ich weiß es«, sagt Joanna. An anderer Stelle heißt es »glauben Sie nicht, ich wüsste das alles nur vom Hörensagen; ich bin der Geist der Autorin und weiß alles«.

Die Werkausgabe enthält auch zwei Erzählungen, die mit Schauplätzen von »Der weibliche Mann« in Zusammenhang stehen, »Ein paar Dinge, die ich über Whileaway weiß« und »Als alles anders wurde«. Letztere Erzählung, 1972 in der, wie Russ schreibt, Sturm-und-Drang-Phase des Feminismus geschrieben, handelt davon, dass das erste Mal nach 600 Jahren Männer den Planeten Whileaway besuchen und die Bewohnerinnen davon überzeugen wollen, sich mit ihnen von der Erde fortzupflanzen, da das Erbgut dort beschädigt ist. Für die nicht perfekte, aber völlig autarke Welt der Frauen ist das Erscheinen der Männer, die wenig überzeugend behaupten, auf der Erde wären die Frauen wieder gleichberechtigt, die Vorahnung einer Katastrophe. »Katy hatte natürlich recht; wir hätten sie auf der Stelle abfackeln sollen. Männer, die nach Whileaway kommen. Wenn eine Kultur über schwere Geschütze verfügt und die andere nicht, ist das Ergebnis einigermaßen vorhersehbar.«

In ihrem Buch »How to Suppress Women’s Writing« analysiert Joanna Russ Anfang der 80er Jahre, wie Autorschaft von Frauen verneint oder eingeschränkt, Doppelstandards unterworfen, in »unbedeutende« Genres abgedrängt und als Einzelfall dargestellt wird, ohne Vorbilder und ohne Einfluss. So entsteht der Eindruck, es gebe keine große Literatur von Frauen, und jede Generation steht wieder vor der Herausforderung, alles zum ersten Mal zu machen. Russ selbst ist zwar nicht gerade unbekannt, jedoch eben hauptsächlich als Feministin, als Science-Fiction-Autorin. »Der weibliche Mann« ist allerdings nicht »nur« herausragende SF-Literatur, sondern herausragende Literatur, Punkt. Russ’ materialistische Sicht auf gesellschaftliche Verhältnisse und ihre bemerkenswerte Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen, machen ihre Essays ungemein lesenswert und bereichernd. Der Carcosa-Verlag sorgt nun dafür, dass eine neue Generation ihr Werk für sich entdecken kann.

Joanna Russ: Erwachende Welten. Werke zwei. Herausgegeben von Jeanne Cortiel. Aus dem Englischen von Werner Fuchs, Hiltrud Bontrop, Charlotte Krafft und Hannes Riffel. Carcosa-Verlag, Berlin 2024, 391 Seiten, 26 Euro

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