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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 26.03.2025
Comic

Wir sind viele

Klischees beseitigen: Ulli Lusts kluger Sachcomic »Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte«
Von Marc Hieronimus
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In der Steinzeit waren die Geschlechterverhältnisse noch klar definiert. Der Säbelzahntiger interessierte sich ebensowenig dafür, ob der Speerträger hinter ihm eigentlich eine Frau im falschen Körper war, wie es das wütende Mammut scherte, in wie viele Geschlechter sich die Menschen beim Stuhlgang aufteilen: Die Männchen mussten sie fürchten, die Weibchen pflückten ihnen allenfalls die Beeren und Pilze weg. So weit die Vorstellung. Und wenn – falls! – Männer bis heute nicht zuhören und Frauen nicht einparken können, wie der einschlägige Weltbestseller von Allan und Barbara Pease von 1998 (dt. 2000) behauptet, dann muss das aufs Paläolithikum mit seinen spezifischen Herausforderungen zurückgehen.

Auch Rob Beckers Broadway-Erfolgsstück und -buch »Caveman« (»du sammeln, ich jagen«) baut komplett auf der Beschreibung typischer Mann-Frau-Konflikte und ihrer vermeintlich historisch-psychologischen Erklärung auf. »Erfolgreichstes Solo­stück in der Geschichte des Broadways, in 15 Sprachen übersetzt, in über 30 Ländern aufgeführt, weltweit über acht Millionen Zuschauer«, sagt der Klappentext von 2010. Forscher dieser Denkrichtung erklären wie alles andere so z. B. auch das unterschiedliche Einkaufsverhalten von Männern und Frauen mit altsteinzeitlicher Prägung: Der Mann schleicht sich wortlos und sehr effizient an seine Beute heran und kauft eine Bohrmaschine oder die exakte Zusammenstellung der Artikel auf der Einkaufsliste, die Sammlerin schlendert und schaut, was die Regale heute zu bieten haben. Für Jäger ist Orientierung wichtig, darum finden sich Männer ohne Karte zurecht, Frauen, also Sammlerinnen, müssen, während die Männer das Wollnashorn jagen, mittels Kommunikation und Umgänglichkeit den Klan zusammenhalten, darum reden sie mehr. Vorausgesetzt, die Urzeit war so steinzeitlich, wie wir sie uns heute denken. Ändert sich die Vorstellung, ändert sich auch die Steinzeit.

Ulli Lust beginnt ihren Comic »Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte« mit ihrer Sozialisierung als Frau. Schon als Kind fällt ihr auf, dass Frauen in der Kunst unterrepräsentiert sind: Wie viele Jesusse kommen auf eine Maria, wie viele nackte Helden- und Götterstatuen auf eine verschämte Aphrodite? Das war nicht immer so. Mindestens 30.000 Jahre lang wurden von Sibirien bis Südfrankreich Frauenstatuetten hergestellt. Lust gibt einen Vortrag des Kulturphilosophen Constantin Rauer von 2014 wieder, in dem er die übliche Lesart vom Mann als natürlichem Vorgesetzten der Frau vorträgt, schließlich hätten Frauen ja gar nicht jagen können. Das kontrastiert sie mit Erkenntnissen, nach denen die Frauen damals durchaus muskulös und athletisch waren; vor den Möglichkeiten der gentechnischen Analyse wurden weibliche Skelette darum oft für männliche gehalten. Die Häufigkeit der femininen Figuren aus Elfenbein – hundertmal häufiger als männliche, die darüber hinaus oft Mischwesen zeigen – kratzt nicht am über viele Jahrhunderte gefestigten Weltbild. Rauer, stellvertretend für so viele seiner Zunft: »Das erklärt sich aus der Tatsache, dass Männer wichtiger waren als Frauen.«

Das Bild des Mannes von seiner Begleiterin hat sich über einen langen Zeitraum gewandelt, was Theodor Lessing in seiner wenig bekannten Schrift »Weib – Frau – Dame« nachzeichnet. Man lasse nur die Bezeichnungen einmal auf sich wirken und sehe, welche Assoziationen sich einstellen: Weib, das ist Natur, Frische, Herrlichkeit, Ebenbürtigkeit neben dem Mann. Frau, das ist kulturelle Verfeinerung, das soziale Wesen. Bei Schiller: »Ehrt die Frauen, sie flechten und weben / himmlische Rosen ins irdische Leben«, aber beim Aufruhr »… werden Weiber zu Hyänen / und treiben mit Entsetzen Scherz.« Das Wesen mit der Bezeichnung Dame ist noch edler und steht für Hochkultur, Haltung, Keuschheit und künstliche Schönheit. Allerdings, so Lessing, sei dieses edle Wort »berlinisiert« worden, gleich so vielen anderen aus der gleichen Kategorie. Dirne war einmal ein Kosename, bevor er Prostituierte bezeichnete, die Magd war eine reine junge Frau (Maria, Johanna von Orleans), bevor sie zum Mädchen für niedere Küchenarbeiten wurde, selbst Mädchen, Fräulein, Jungfrau und Frauenzimmer waren einmal sehr respek­tvolle Benennungen. Schwer vorstellbar, dass sich mit dem Ansehensverlust der Anrede nicht auch das Ansehen der Bezeichneten gewandelt haben soll. An Minderwertigkeit lag es nicht. Lessing: »Auf dem Gebiet der eigentlichen, strengen Erkenntnis, der Logik und Mathematik, ist ihre durchschnittliche Begabung von früh auf der des Mannes überlegen.«

Wann wurde die Frau zu dem, was ihr zugeschrieben wird, zu jenem unzuverlässigen Nervenbündel, wo nicht »Gefäß des Teufels« (Giordano Bruno)? Es bleibt spannend zu erfahren, was die Autorin in den nächsten Bänden zutage fördert. Auf den gut 250 Seiten des ersten breitet sie aus, was wir durch Ausgrabungen und die Beobachtungen indigener Völker heutiger Zeit über das Klima, die Tierwelt und vor allem die Menschen der Altsteinzeit wissen können, verliert darüber aber die Frau leider etwas aus den Augen. Es geht um Botanik, Initiation, Schamanismus, Astronomie, Kosmologie und nicht zuletzt Archäologie. Zu deren erstaunlichen Erkenntnissen gehört etwa, dass man deformierte oder anders auffällige Menschen nicht etwa den wilden Tieren zum Fraß überließ, sondern ihnen besondere Hochachtung entgegenbrachte.

Soweit die letzten Naturvölker unserer Tage Rückschlüsse auf die Jägerinnen und Sammler des damaligen Eurasiens erlauben, gehörten neben temporären Trancezuständen und Tierverwandlungen auch dauerhafte Transidentitäten durchaus zum Alltag. Ob die Vielfalt sich mit der heutigen von Genderfluid, Maverique, Trans*gender, Bigender, Genderfuck, Genderflux, Polygender, Trigender, Graygender, Demigender, Agender, gender-neutral etc. messen konnte, um nur einige der heute laut Louie Läugers Sachcomic »Gender-Kram« (Unrast 2021) gängigen sexuellen Selbstverwirklichungen zu nennen, sei dahingestellt.

Lust zwingt ihre Geschichte – d. h. die der Menschheit – nicht in das Korsett eines schematischen Seitenaufbaus voller gerahmter Rechtecke. Weil es so viel zu erzählen gibt, kommen manche Passagen etwas textlastig und sachbuchartig daher, machen den Comic zusammen mit den 20 Seiten Quellenanhang andererseits durchaus unterrichtstauglich. Andere Seiten zeugen wortlos von der Freude der Autorin und Zeichnerin an der Vor- und Darstellung der Urzeit mit ihren heute meist ausgerotteten Tieren, der magisch-mystischen Weltsicht und nicht zuletzt dem »menschlicheren« Zusammenleben in überschaubaren Gemeinschaften. Leitmotiv bleibt durchweg die Kunst: Warum werden manche Tierarten ungleich häufiger gezeichnet als andere, ihre Knochen viel öfter als Schmuck verwendet? Warum gibt es überhaupt Menschen- und Tierdarstellungen? Was sagen die zahllosen Frauenbilder mit ihrer durchgehend schamlosen Abbildung der »Scham«, also der Vulva, über die Menschen damals aus – und was über die von heute?

Ulli Lust: Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte. Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 256 Seiten, 29 Euro

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