Welt am Apparat
Von Gert HechtMatteo Pasquinelli: Das Auge des Meisters. Eine Sozialgeschichte künstlicher Intelligenz. Aus dem Englischen von Karina Hermes. Unrast-Verlag, Münster 2024, 288 Seiten, 22 Euro
Was Dath in zwei Sätzen verdichtet, führt Matteo Pasquinelli auf fast 300 Seiten detailliert aus. »Das Auge des Meisters« ist eine sensationelle Sozialgeschichte der künstlichen Intelligenz, die in keiner marxistischen Diskussion über KI künftig fehlen darf. Zumal es bis auf beispielsweise den von Sabine Nuss und Florian Butollo herausgegebenen Sammelband »Marx und die Roboter« nicht so viel an Marx geschulte Literatur zum Thema gibt. Und auch bei Pasquinelli, der an der Universität von Venedig als Professor für Wissenschaftsphilosophie lehrt, lässt bereits der Titel erahnen, dass wir es bei KI nicht mit einer »neuen Kollegin« zu tun haben, sondern mit den höheren Etagen. Das »Auge des Meisters«, das heute die KI ist, kommt nämlich von der Überwachung und Kontrolle der Arbeit.
Pasquinelli argumentiert, dass es bei KI nie darum ging, irgendwelche Wundermaschinen zu entwerfen, sondern die mentale Arbeit von Arbeitern und Angestellten zu automatisieren. Der erstaunliche Effekt solcher Bemühungen ist, dass nun selbst Tätigkeiten wie das Fahren von Lastkraftwagen ihren Anteil mentaler Arbeit offenbaren, von dem zuvor nie jemand gesprochen hat. Nach Pasquinelli haben wir es mit der kapitalistischen Kontrolle der Arbeit und ihrer Zerteilung in einzelne, immer weiter optimierbare Schritte schon mit dem ersten Algorithmus zu tun. Seit 200 Jahren gibt es letztlich den Traum der Eigentümer, »kollektive Geistesarbeit« vom restlichen Arbeitsprozess zu trennen, zu zentralisieren und zu automatisieren. Womit wir bei der KI wären.
Pasquinelli zeigt, worauf KI eigentlich eine Antwort ist (auf die Anforderung nämlich, die Produktion im kapitalistischen Sinne effizienter zu gestalten). Deswegen geht er vom Informationszeitalter einen Schritt zurück ins Industriezeitalter, bekanntlich ist die Anatomie des Menschen ja der Schlüssel zu der des Affen. Soll heißen: Von der KI aus betrachtet, lässt sich das Zeitalter der Maschinisierung verstehen. Pasquinelli schaut sich dabei vor allem Charles Babbage mit seiner »Difference Engine« an, einer dampfbetriebenen logarithmischen Tabelle, die 1823 als etwas wie Chat-GPT heute galt. Außerdem schaut er sich an, wie Marx seinen Begriff der Maschine am Beispiel von Babbage entwickelt: als Antwort auf die Probleme bei der Organisation der Arbeit.
So entwickelt er eine »Arbeitstheorie maschineller Intelligenz«, die grob die vergangenen 200 Jahre umfasst: »Das Industriezeitalter war auch der Moment der ursprünglichen Akkumulation der technischen Intelligenz, d. h. der Moment, in dem man das Wessen erstmals der Arbeit entzogen hat. Die heutige KI ist die Fortsetzung des gleichen Prozesses: Es ist eine systematische Mechanisierung und Kapitalisierung von kollektivem Wissen in neue Apparate, in die Datensätze, Algorithmen und statistischen Modelle des maschinellen Lernens, neben anderen Techniken. Letztendlich ist es nicht schwer, sich die KI als den neuesten Avatar des kollektiven Arbeiters, des Gesamtarbeiters, vorzustellen, der für Marx die Hauptfigur der industriellen Produktion war.«
Während Pasquinelli im ersten Teil seines Buches zeigt, dass Intelligenz (oder was wir so zu nennen gewohnt sind) aus der Arbeit selbst kommt und nun in der KI wie früher in der Maschine als enteignete den Arbeitern fremd wieder entgegentritt, geht es im zweiten Teil um die Gestalt, die das angenommen hat. Hier verfolgt der Autor akribisch, wie die KI tickt. Was sind die logischen Voraussetzungen dieser neuen Maschinen, wie sind sie gedacht und wie sind sie programmiert? Dabei stößt Pasquinelli überraschend auf einen alten Bekannten: Friedrich August Hayek, den Vordenker des Neoliberalismus. Mit »The Use of Knowledge in Society« (1945) und »The Sensory Order« (1952) hat Hayek die Automatisierung der Wahrnehmung, die Mustererkennung, konzipiert.
Hayek ist Pasquinelli ein schlagendes Beispiel. Für seine These nämlich, »dass der innere Code von KI nicht durch die Imitation biologischer Intelligenz erzeugt wird, sondern durch die Intelligenz der Arbeit und die sozialen Verhältnisse.« Auch wenn die kybernetische Idee selbstorganisierender Netzwerke immer wieder der Natur untergeschoben wurde, rührt sie doch aus dem Sozialen: »Das Design der Informationsmaschinen war – sogar auf der Ebene der logischen Formen ihrer Algorithmen – eine Antwort auf Formen der sozialen Interaktion in ihrer Gesamtheit«. Weil »KI der Höhepunkt einer langen Evolution der Arbeitsautomatisierung und Quantifizierung der Gesellschaft ist«, wie Pasquinelli schreibt, kann man ihre innere Funktionsweise nur darüber verstehen.
Weil KI aus der Überwachung und Steuerung der Arbeit kommt, ist es kein Wunder, dass sie nun bei der kybernetischen Kontrolle der gesamten Gesellschaft, der entgrenzten digitalen Fabrik, zum Einsatz kommt. Die Covid-Krise war da ein augenöffnender Testlauf für alles, was einen in Sachen sozialer Elendsverwaltung noch erwarten dürfte. Was tun? Die Antwort liegt, wie Pasquinelli zeigt, in den sozialen Verhältnissen selbst. Einen kleinen Rat hat er für seine interessierten Leser aber doch: »Bei der Konfrontation der Epistemologie der KI und ihrem Regime des Wissensextraktivismus müssen wir uns eine andere technische Mentalität, eine kollektive ›Gegen-Intelligenz‹ aneignen.« Gegen die Krawattenidioten.
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