Referenten aus sieben Ländern, Kunstausstellung und viel Musik: Afrika war der Schwerpunkt der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2018 im Mercure-Hotel MOA in Berlin.
Die »Gruppe Tendenzen Berlin« wurde 2013 von künstlerisch interessierten, engagierten Menschen sowie aktiven Künstlerinnen und Künstlern gegründet. Die Bezeichnung »Gruppe Tendenzen« knüpft an die gleichnamige Kunstbewegung progressiver Künstlerinnen und Künstler in der alten BRD der 1970er und 1980er Jahre an. Diese entstand aus der Kritik an Kunst, die gesellschaftliche Probleme ausblendete, und andererseits aus dem Bedürfnis, Kunst und Kultur für den Alltag zu entwickeln und den arbeitenden Menschen die Bildende Kunst näherzubringen. Die »Gruppe Tendenzen Berlin« setzt sich für ein solidarisches Miteinander unter den Künstlerinnen und Künstler ein, um die kreativen Möglichkeiten des Einzelnen zu fördern. Sie steht für humanistische Meinungsvielfalt, möchte mit künstlerischen Mitteln für Frieden und Völkerverständigung aktiv werden, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten thematisieren sowie gegen Rassismus und Kriegshetze ankämpfen. In regelmäßigen Treffen tauscht die Gruppe Informationen aus, erörtert Probleme, zeichnet und malt zusammen und plant gemeinsame Aktivitäten. An Stadtteilfesten beteiligt sie sich mit dem Kunststand »Einfallspinsel«. Hier können sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene künstlerisch ausprobieren. Neben der eigenen künstlerischen Arbeit engagieren sie sich auch kulturpolitisch vor Ort, leiten Kunstkurse, organisieren Ausstellungen, gestalten die Vernissagen und mehr.
Zum fünften Mal führt die »Gruppe Tendenzen Berlin« gemeinsam mit der Tageszeitung junge Welt im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Konferenz eine Kunstausstellung durch. In diesem Jahr lautet der Titel: »Afrika am Scheideweg – Aufbau oder Migration« www.gruppe-tendenzen-berlin.de
Dr. Seltsam ist Antifaschist, Kabarettist und Schriftsteller. Von 1984 bis 1989 schrieb er für das Feuilleton der Taz, insbesondere Theaterkritiken. In der »Wende«-Zeit arbeitete er ein Jahr als Schuldirektor in Cottbus.
Dr. Seltsam ist Mitgründer der legendären Berliner Lesebühne »Dr. Seltsams Frühschoppen«. Er trat als Organisator diverser politischer Lesungen, insbesondere zum Werk Erich Mühsams in Erscheinung. Bis vor kurzem bestritt er zusammen mit wechselnden Gästen »Dr. Seltsams Wochenschau« in Berlin, in der Kriege, Kommunismus, Mieten und Hartz IV thematisiert wurden.
Dr. Seltsam schreibt regelmäßig für die Tageszeitung junge Welt.
Faten El-Dabbas ist eine junge deutsch-palästinensische Spoken-Word-Künstlerin aus Berlin. Seit 2013 hat El-Dabbas bei zahlreichen Gastauftritten bundesweit ein großes Publikum erreicht, insbesondere bei kulturellen und bildungspolitischen Veranstaltungen und Konferenzen. Außerhalb Deutschlands ist sie aufgetreten beim Tilt-Literaturfestival in den Niederlanden sowie in Basel und Zürich in der Schweiz und vor kurzem beim internationalen Poetry-Slam-Festival Flup in Rio de Janeiro als Repräsentantin für Deutschland. 2016 erschien ihr erster deutsch-arabischer Textband »Keine Märchen aus 1001 Nacht« beim Cosmics-Verlag, inzwischen ist die zweite Auflage erschienen. Aktuell sind eine arabisch-italienische sowie eine arabisch-türkische Auflage in Arbeit.
Faten El-Dabbas absolvierte ein Bachelorstudium in Politik, Verwaltung und Öffentliches Recht und schloss 2016 an der Universität Potsdam ihr Masterstudium als Politologin ab. www.fatenel.de
Rolf Becker ist Theater- und Filmschauspieler. Man kann mit ihm rechnen, wenn es gilt, auf politische und soziale Missstände hinzuweisen und sich mit streikenden Kolleginnen und Kollegen zu solidarisieren. 1999 besuchte er während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien mit der gewerkschaftlichen Initiative »Dialog von unten statt Bomben von oben« das überfallene Land. Becker unterstützt die Freilassung des afroamerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal, den er 2010 im Todestrakt besuchte, erinnert jährlich zusammen mit anderen Antifaschisten und Hamburger Schülern an die Bücherverbrennung 1933 durch die Nazis, liest in zahlreichen Veranstaltungen das »Manifest der Kommunistischen Partei« und Textfolgen zur Wirtschaftskrise (»So wird Geld verdient«, »Du bist Griechenland«).
Im Februar 2017 hat er mit dem uruguayischen Liedermacher Daniel Viglietti zur Festveranstaltung »70 Jahre junge Welt« ein einmaliges Konzert gegeben. Nach dem Tod Daniel Vigliettis am 30. Oktober 2017 wird er im Rahmen eines Gedenkkonzert zur Erinnerung an die letzte große Stimme des Nueava Canción am 21. Februar 2018 in der Wabe, Berlin, mit anderen Künstlern auftreten. www.melodieundrhythmus.com/viglietti
Enrique Ubieta Gómez ist Essayist und Wissenschaftler. Er studierte von 1978 bis 1983 Philosophie an der Universität Kiew/Ukraine (UdSSR), anschließend bis 1987 Geschichte der kubanischen Literatur und Literaturkritik.
2002 wurde er zum Direktor des Kubanischen Filmarchivs ernannt, in dem er bis 2007 tätig war. 2008 gründete er die monatlich erscheinende Kulturzeitschrift La Calle del Medio. Enrique Ubieta Gómez ist außerdem mitwirkender Wissenschaftler des Ministeriums für Wissenschaft, Technologie und Umwelt (CITMA) sowie Mitglied zahlreicher Beratungsgruppen des Ministeriums für Kultur und der Kommunistischen Partei Kubas.
Sein 2009 gegründeter Blog la-isla-desconocida.blogspot.com ist einer der meistbesuchten in Kuba.
2011 wurde ihm in der Kategorie »Persönlichkeit« der Félix-Elmuza-Orden von der Union der Journalisten Kubas verliehen.
Selma Schacht, geboren in Linz, war nach der Matura (Abitur) als politische Sekretärin einer linken Schülerinnen-und-Schülerorganisation tätig und studierte Sozialarbeit (Diplom). Von 1995 bis 2005 war sie Mitglied und Funktionärin der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ).
Momentan ist sie freigestellte Betriebsratsvorsitzende der »Wiener Kinder- und Jugendbetreuung« und seit 2011 Arbeiterkammerrätin für die KOMintern – Kommunistische Gewerkschaftsinitiative in der Arbeiterkammer Wiens. Außerdem ist sie stellvertretende Vorsitzende der Partei der Arbeit (PdA), welche sie mitgegründet hat. Sie ist Referentin zu Themen wie kämpferische Betriebspolitik, Organizing, Arbeiterklasse, Ökonomisierung des Sozialbereichs und Frauen in der Arbeitswelt.
Günter Pohl ist Internationaler Sekretär der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Er kandidierte 2014 auf der Bundesliste seiner Partei zu den Europawahlen.
Der nigerianische Umweltaktivist Nnimmo Bassey arbeitete zehn Jahre als gelernter Architekt im öffentlichen Dienst. In den 1980er Jahren begann er, sich als Vorstandsmitglied in Nigerias Civil Liberties Organisation (CLO) für Menschenrechte zu engagieren. 1993 war er an der Gründung der unabhängigen Umweltschutzorganisation Environmental Rights Action (ERA) in seinem Heimatland beteiligt. Deren Vorsitzender war er zwei Jahrzehnte lang und gehört bis heute dem Vorstand an. Von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender der NGO »Friends of the Earth«. Hauptthema seiner Kampagnenarbeit sind die Ölproduktion und ihre katastrophalen Folgen für nigerianische Gemeinden und andere Länder der Region – Angola, Kamerun, Tschad, Gabun, Sudan, Republik Kongo (Brazzaville) u. a. –, in denen der Rohstoff gefördert wird. Das Time Magazine wählte ihn 2009 zu einem der »Heroes of the Environment« (Helden der Umwelt). Für sein gesellschaftliches Engagement erhielt er 2010 den Alternativen Nobelpreis.
Mumia Abu-Jamal wurde 1954 in Philadelphia/USA, geboren. Seine großen Leidenschaften waren von klein auf das Lesen und der Kampf um Gerechtigkeit. Mit knapp 15 wurde er kurz nach Gründung der Black Panther Party Pressesprecher der Ortsgruppe Philadelphia. Mit Anfang 20 begann seine vielversprechende Karriere als Radiojournalist. Daneben fuhr er Taxi, um seine Familie zu unterstützen, wurde Vorsitzender des Verbandes Schwarzer Journalisten in der Stadt und 1980 von den Daily News zu einem der »zehn Leute, von denen wir noch hören werden« gekürt. Es konnte niemand ahnen, dass das in ganz anderer Form als erwartet der Fall sein würde.
In der Nacht zum 9. Dezember 1981 kam es in der Stadtmitte von Philadelphia zu einer Schießerei. Der Polizeibeamte Daniel Faulkner starb dabei am Tatort, Mumia Abu-Jamal überlebte schwer verletzt. Der Täter floh. Abu-Jamal beteuerte seine Unschuld – dennoch wurde er zum Tode verurteilt und war 29 Jahre im Todestrakt. Im Dezember 2011 wurde das Urteil gegen ihn als verfassungswidrig aufgehoben und in »lebenslänglich« ohne Bewährung umgewandelt. Seither befindet sich Abu-Jamal im Regelvollzug im Gefängnis SCI Mahanoy in Pennsylvania. Anfang 2015 erkrankte der Gefangene schwer – erst ein heftiger Ausschlag am ganzen Körper, dann ein diabetischer Schock, schließlich die Diagnose Hepatitis C. Die Gefängnisbehörde verweigerte ihm zwei volle Jahre lang eine Behandlung mit den heute verfügbaren antiviralen Medikamenten – ebenso wie 8.000 weiteren infizierten Gefangenen in Pennsylvania. Begründung: zu teuer.
Dagegen klagte Abu-Jamal – mit Erfolg. Anfang Januar 2017 erließ Bundesbezirksrichter Robert Mariani eine einstweilige Verfügung. Darin wurde die Gefängnisbehörde angewiesen, dem Gefangenen »innerhalb von 21 Tagen die unmittelbar wirkenden antiviralen Medikamente« gegen seine Hepatitis-C-Infektion verabreichen zu lassen. Es dauerte weitere drei Monate, bis sich die Behörde endlich dem Recht beugte.
Derzeit prüft ein Revisionskontrollgericht auf Antrag von Abu-Jamals Verteidigung, ob er ein neues Revisionsverfahren erhält. Kern der juristischen Frage ist die Rolle von Ronald Castille, der in seiner Funktion als stellvertretender Bezirksstaatsanwalt 1982 an der Anklage gegen Abu-Jamal mitarbeitete und 1994 in seiner neuen Funktion als Richter dessen Revision ablehnte. Sollte Abu-Jamal in diesem Fall recht bekommen, wäre die Tür offen für ein neues Verfahren, in dem entlastende Beweise endlich eingebracht werden könnten. Mumia Abu-Jamals Freilassung stünde damit als realistisches Ziel am Horizont.
Am 17. Januar 2018 wird eine sehr wichtige gerichtliche Auseinandersetzung über die Herausgabe der staatsanwaltlichen Akten und die Rolle von Ronald Castille bei Mumias Verurteilung von 1982 stattfinden.
Abu-Jamal hat aus dem Gefängnis heraus mittlerweile acht Bücher und unzählige Kolumnen veröffentlicht, letztere werden seit 16 Jahren in deutscher Übersetzung in der Montagausgabe der jungen Weltabgedruckt.
Der Philosoph und Historiker Achille Mbembe ist am Sonnabend Gast der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Arnold Schölzel
Afrika, sagte der Philosoph und Historiker Achille Mbembe 2014 der Zeit, »ist der Name des Kontinents, von dem man immer meinte, nichts Universelles könne dort entstehen. Afrikaner waren törichte Kinder. Aber Afrika ist nicht die Vergangenheit der Welt, sondern es ist wie ein Fenster: Von dort sieht man die Zukunft.«
Die Thesen des 1957 in Kamerun Geborenen, heute in Johannesburg als Professor Lehrenden über die Geschichte des Kapitalismus sind scharf, aber nicht einseitig, weil seine Aufmerksamkeit der ganzen heutigen Welt gilt. Kolonialismus und »Krieg gegen den Terror«, Sklaverei und heutige »selbständig« bei sogenannten Dienstleistern beschäftigte »Arbeitsnomaden« sind sein Gegenstand. In der Bundesrepublik hat der Suhrkamp-Verlag drei seiner Bücher herausgebracht, »Kritik der schwarzen Vernunft« 2014, »Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonialisiertes Afrika« 2016 und im Oktober 2017 »Politik der Feindschaft«. 2015 erhielt Mbembe in München den Geschwister-Scholl-Preis, seit 2017 ist er Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Am Sonnabend ist er Gast der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin.
Die »Kritik der schwarzen Vernunft« heißt im französischen Original »Critique de la raison nègre«, was präziser ist als das harmlose »schwarz«. Denn »Neger«, zeigt Mbembe, ist nicht einfach ein rassistischer Begriff, er steht stellvertretend für alle, die im Kapitalismus lediglich als Instrumente betrachtet und behandelt werden. Der damit verbundene Herrschaftsmechanismus, die »Politik der Feindschaft«, wirkt auf der heutigen technischen Basis erstmals tatsächlich global. Rassismus und Gewalt sind in Mbembes Analyse Ausgangspunkt und Bestandteil des historischen wie des gegenwärtigen Kapitalismus. Auf dieser Grundlage leben Nationalismus, religiöser Fundamentalismus und Faschismus immer wieder auf und werden dominierend. Mbembe hat Vorläufer: Karl Marx und Friedrich Engels, die schilderten, wie irische Arbeiterinnen und Arbeiter in der britischen Industrie des 19. Jahrhunderts als »weiße Neger« behandelt wurden. Längst haben Historiker im Anschluss an den Theoretiker des antikolonialen Befreiungskampfes, Frantz Fanon, nachgewiesen, wie das Plantagenwesen moderne Lager- und Zwangssysteme vorbereitete. Rosa Luxemburg konstatierte: ohne Zerstörung und Enteignung der Gesellschaften in den kolonisierten Ländern, ohne Verelendung und Ausrottung kein Kapitalismus.
Mbembes Sicht auf dessen Geschichte besagt erstens in groben Zügen: Ohne den transatlantischen Sklavenhandel seit etwa 1500, ohne rechtlose Arbeitskräfte für die Plantagenwirtschaft Amerikas auch keine ursprüngliche Akkumulation.
Zweitens: Der Beginn der Sklavenrevolution in Haiti 1791 gegen das bürgerlich-revolutionäre Frankreich war der Anfang eines Kampfes um Anerkennung als Menschen, der mit dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika in den 1990er Jahren noch nicht abgeschlossen ist.
Drittens: Im Zeichen eines neuen Imperialismus, des sogenannten Neoliberalismus und der Kriege zur Rekolonisierung, werden Erdbewohner unabhängig von ihrer Hautfarbe in Arbeitsverhältnisse gezwungen, in denen sie faktisch rechtlos sind. Wer prekär beschäftigt ist, als moderner Tagelöhner vom Anruf auf seinem Handy abhängig ist, kennt kein Arbeitsrecht, wird zum »Neger«.
Mbembes Thema ist das globale soziale Verhängnis, das sich hinter seiner These, die Welt werde »schwarz«, verbirgt. Die Jury des Geschwister-Scholl-Preises schrieb zu Recht, er habe »nicht weniger vorgelegt als eine Neuvermessung der Geschichte der Globalisierung«.
Nnimmo Bassey setzt sich für die Rechte der Gemeinden im Nigerdelta ein
Christian Selz, Kapstadt
Zumindest international war das Ereignis noch eine Meldung wert. Am Abend des 2. Januar, so berichtete die Nachrichtenagentur Reuters tags darauf unter Berufung auf das dortige Energieministerium, brach in Nigeria das öffentliche Stromnetz zusammen, wieder einmal, landesweit. Ein Feuer an einer Gaspipeline habe den Stromausfall ausgelöst, hieß es. In weiten Teilen der auf dem Papier größten Volkswirtschaft Afrikas sei der Zusammenbruch des Netzes allerdings kaum bemerkt worden, schrieb die britische Agentur weiter, denn wegen der häufigen Unterbrechungen nutzten Geschäfte und Reiche eigene Generatoren, während »die weniger Wohlhabenden« schlicht »gar keine Elektrizität« hätten.
Die fast zum Normalzustand gewordene Stromkrise verdeutlicht zwei der Hauptprobleme Nigerias, gegen die Nnimmo Bassey seit nunmehr gut drei Jahrzehnten unermüdlich ankämpft: die Abhängigkeit des Landes von Öl und Gas und die extreme Ungleichverteilung von Reichtum. Bassey, ein studierter Architekt, ist heute Vorsitzender der Umweltschutzorganisation »Health of Mother Earth Foundation«. Der Schutz der Natur ging für ihn jedoch immer einher mit dem Kampf für Menschenrechte. Schon in den 80er Jahren setzte sich Bassey im Vorstand der »Civil Liberties Organization« für die Belange der von Ölkonzernen ihrer Lebensgrundlagen beraubten Gemeinden im Nigerdelta ein.
Der nigerianische Staat als Erfüllungsgehilfe der Ölkonzerne reagierte stets mit Repression auf seine Arbeit. In den 90er Jahren wurde er mehrmals ohne Prozess inhaftiert. 2010, und damit ein Jahr nachdem ihm trotz Akkreditierung der Zutritt zur UN-Weltklimakonferenz in Kopenhagen verwehrt worden war, wurde Bassey für sein Engagement mit dem als »Alternativer Nobelpreis« bekannten »Right Livelihood Award« ausgezeichnet.
Die Ehrung mag inzwischen bald acht Jahre zurückliegen, doch Basseys Arbeit bleibt, wie die Probleme im Nigerdelta, aktuell. Denn während sich internationale Konzerne und korrupte Eliten dort an der Ölförderung bereichern, lebt die Mehrheit der Nigerianer nicht nur »weniger wohlhabend«, wie Reuters es so nett umschrieb, sondern in bitterster Armut. Für die Menschen im Delta kommt hinzu, dass sie ihrer traditionellen Lebensgrundlagen infolge der mit der Ölförderung einhergehenden Umweltzerstörung beraubt wurden. Boden und Wasser sind verseucht, Fischerei und Landwirtschaft vermögen die Einwohner der einst an natürlichen Ressourcen reichen Region kaum noch zu ernähren. Statt dessen führt die Verschmutzung durch das Abfackeln des bei der Erdölförderung anfallenden Gases zu Atemwegserkrankungen, Krebs, Leukämie und anderen Leiden.
Als die Probleme nicht mehr zu leugnen waren, begannen die Ölkonzerne Gaspipelines zu bauen. Sie priesen dies als Maßnahme zum Schutz von Umwelt und Klima an, die Weltbank überwies Fördermittel. Doch Bassey wies schon 2006 in einem bei Pambazuka veröffentlichten Papier darauf hin, dass damit nur eine zusätzliche Gasförderung subventioniert wurde, während das weniger rentable, bei der Ölförderung als Nebenprodukt anfallende Gas größtenteils weiter abgefackelt wurde. Minutiös listete er zudem auf, wie der nigerianische Staat die friedlichen Proteste von lokalen Gemeinden, die unter der Ölförderung litten, immer wieder mit Massakern niederschlug.
Nutzlos waren die Kämpfe trotzdem nicht. Mächtige Giganten wie Shell und Chevron mussten Vergehen eingestehen und sich in Gerichtsprozessen verantworten. Doch an der generellen Lage der Menschen in Nigeria und insbesondere im Nigerdelta hat sich noch immer wenig geändert. Das, darauf hat Bassey immer wieder hingewiesen, kann erst passieren, wenn die Bodenschätze unter der Kontrolle der lokalen Bevölkerung sind.
Lesen Sie dazu auch Nnimmo Basseys Artikel »Die Kunst einer vergangenen Idylle. Wie Kulturschaffende den Ökozid im Nigerdelta verarbeiten« in vollständiger Länge in Melodie & Rhythmus
Die Rosa-Luxemburg-Konferenz steht ganz im Zeichen der internationalen Solidarität
Dietmar Koschmieder
Es ist unsere 23. Konferenz – und jede war eine besondere. Aber in diesem Jahr findet die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz unter veränderten politischen Vorzeichen statt: Noch nie waren linke Bewegungen, Parteien, Strukturen so in der Defensive, schon lange nicht mehr waren rechte bis offen faschistische Positionen in der Gesellschaft so akzeptiert wie in diesen Tagen. Die Konferenz wird zeigen, ob es eine Linke im Land überhaupt noch gibt. Und sie wird zeigen, ob sich diese nur noch mit sich selbst beschäftigt oder ob noch immer gilt, dass die internationale Solidarität ihr unverzichtbares Kennzeichen ist.
Regionaler Schwerpunkt 2018 ist Afrika, für dessen Klassenkämpfe sich leider viele europäische Linke kaum interessieren. Obwohl auch ihr relativer Wohlstand Ergebnis kolonialer Ausbeutungsverhältnisse ist. Menschen aus Afrika, die von imperialistischen Ländern in Armut gezwungen und mit Kriegen gequält werden und deshalb nur noch in der Flucht eine Überlebensperspektive sehen, werden in Europa oft als Gefahr für den eigenen, noch verbliebenen Wohlstand gesehen. Wir wollen mit der Konferenz ein Zeichen setzen: Namhafte Wissenschaftler, Kulturschaffende, Philosophen und Politiker des Kontinents werden nicht nur über ihre Arbeit und Kämpfe berichten – sondern den aufmerksamen Zuhörern auch viele wichtige Erkenntnisse für die eigene Arbeit mit auf den Weg geben. Weitere Gäste aus Afrika haben sich angekündigt und stehen den Konferenzbesuchern für Gespräche zur Verfügung, so der Generalsekretär der südafrikanischen Gewerkschaft NUMSA und Kollegen von der Zeitschrift Pan Africa Today.
Aber nicht nur aus Afrika kommen interessante Gäste zur Konferenz. Entsprechend dem Schwerpunkt »Internationale Solidarität« wird es eine spezielle Solidaritätskundgebung der Konferenzteilnehmer mit der Bolivarischen Republik Venezuela geben. In einer Gesprächsrunde stehen der Stellvertretende Außenminister Venezuelas, William Castillo, der Internationale Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas, Carolus Wimmer, sowie der Publizist Luis Britto García und der Historiker Vladimir Acosta dem jW-Auslandschef André Scheer Rede und Antwort – anschließend soll eine Berliner Erklärung zur Solidarität mit der Bolivarischen Revolution verabschiedet werden, mit der sich die Konferenzteilnehmer verpflichten, den venezolanischen Freunden und Genossen in ihrem Kampf für Unabhängigkeit, Fortschritt und gegen die in Europa übliche Desinformation auch in den kommenden Monaten aktiv beizustehen.
Solidarität mit den Genossinnen und Genossen in Palästina und Israel spielen in der europäischen Linken eine besondere Rolle – auf der Konferenz werden wir Adel Amer, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Israels, begrüßen können, und die palästinensische Spoken-Word-Künstlerin und Autorin Faten-El-Dabbas wird eine Kostprobe ihres künstlerischen Schaffens geben. Traditionell nehmen auch befreundete Zeitungen teil, etwa der Morning Star aus Großbritannien und Arbejderen aus Dänemark. Alle zusammen beenden wir die Konferenz am kommenden Samstag mit dem gemeinsamen Singen der Internationale um genau 20 Uhr.
Die Kunstausstellung auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Kennen Sie Queen Nanny? Sie wurde im 18. Jahrhundert als Kind aus Ghana, Westafrika nach Jamaika entführt, wo sie in die Sklaverei gezwungen wurde. Doch sie lief weg, versteckte sich in den Bergen und wurde zu einer Anführerin der Maroons, wie die von den jamaikanischen Plantagen geflohenen Sklaven genannt wurden. In über 30 Jahren befreite sie mehr als 800 Sklaven. Um an sie zu erinnern, hat Idona Asamoah eine Porträtserie produziert: »Die mächtigen historischen afrikanischen Frauen, gewidmet Queen Nanny von den Maroons« (Foto). Sie wird am nächsten Samstag auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz gezeigt – in der Kunstausstellung »Afrika am Scheideweg – Aufbau oder Migration«, die die Gruppe Tendenzen organisiert hat und bei der 19 Künstler und Künstlerinnen mitwirken.
Für den Hamburger Asamoah, der in Ghana geboren wurde, werden kämpfende oder anführende Frauen viel zu wenig thematisiert. Oft gibt es Bilder von Müttern mit ihren Kindern. Doch das Motto der Rosa-Luxemburg-Konferenz ist »Amandla! Awethu! Die Machtfrage stellen!«. Auch die Berliner Künstlergruppe Tendenzen hat das Ziel, realistisch-naturalistische Bilder zu verbreiten, damit man die Dinge klarer sieht: gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Militarismus.
Im Rahmen von »Afrika am Scheideweg«, präsentiert Marion Lange eine Serie im Wandzeitungsstil mit Bleistift-Kohle-Zeichnungen und erklärenden Texten wie nachrichtliche Bildmeldungen aus Zeitungen, in denen politische Proteste in Marokko, Polio-Schutzimpfungen der UNESCO und Knebelverträge der deutschen Entwicklungshilfe zusammengedacht werden – eben als Aufruf, »die Machtfrage zu stellen«. Cora Glees-Creutzfeldt zeigt ihr Ölbild »Menge – Warten und Hoffen« und Porträts der südafrikanischen Freiheitskämpfer Steve Biko und Winnie Mandela (letzteres von filmplakatartiger Schönheit).
Inga Okan hat »Das Mädchen im gelben Kleid« gezeichnet, es hockt in einem Zelt in einem Kriegsgebiet zwischen Ruinen und Panzern. Alles ist schwarzweiß gehalten, nur das Mädchen hat ein ganz matt schimmerndes gelbes Kleid an, ein V-Effekt, der das wohlfeile Brot-für-die-Welt-Klischee aufhebt und die Zeichnung intensiviert. Clementine Klein zeigt ältere Radierungen und Zeichnungen, die den Biafra-Krieg und den Bürgerkrieg in Sierra Leone thematisierten, digital bearbeitet. Passend dazu ihre Graphik »Brandblase«, auf der planetengleich eine Harzkugel mit Banknoten zu sehen ist, um die Münzen schwirren, als wären sie Weltraumschrott in der Erdumlaufbahn. Eindrücklich ist auch Marco Schaubs (Bleistift-)»Skizze vom Marxismus zur Kleptokratie«, die auf das Abwürgen der afrikanischen Befreiungsbewegungen (in erster Linie durch den Westen) anspielt. Diese Skizze enthält drei Rubriken: »Ausbeutung – Revolution – Ausbeutung«. 2017 hieß die Ausstellung der Gruppe Tendenzen auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz »No pasaran! – Die Reaktionäre werden nicht durchkommen!« (jW)
Die neue Melodie & Rhythmus hat das Schwerpunktthema »Afrika«
Christof Meueler
Ein Klassiker des Comic und des Rassismus: »Tim im Kongo«, aus der berühmten Reihe Tim und Struppi. Die Kongolesen erscheinen als faul und dumm, haben wulstige Lippen und radebrechen dummes Zeug: »Massa! (…) Dingsbums Gefangener futsch!« Der Reporter Tim geht auf Großwildjagd und muss aufpassen, dass er nicht selbst getötet wird – natürlich von einem weißen Bösewicht, weil die Schwarzen nicht ernst zu nehmen sind. Der Tim-Schöpfer, der belgische Zeichner Hervé, entschuldigte sich später dafür, dass er die Kongolesen als »große Kinder« präsentiert habe, doch gegen ein kritisches Vorwort, mit dem der Comic in den USA und in Großbritannien erschien, wehrte sich in Deutschland der Verlag, angeblich hätten die Hergé-Erben etwas dagegen. »Tim im Kongo« erschien erstmals 1930 als Fortsetzungsgeschichte, damals gab es noch die Kolonie Belgisch-Kongo. Es war die zweite Tim-Geschichte überhaupt, die erste stammt von 1929: »Tim im Lande der Sowjets«, die in ihrem plakativen, primitiven Antikommunismus fast schon surreal wirkt.
Gegen »Tim im Kongo« gab es in Belgien zwei Klagen wegen Rassismus, die Geschichte wurde dreimal nachbearbeitet, aber noch immer verbreitet sie »reaktionäre Projektionen«, schreibt Andreas Eikenroth in der neuen Ausgabe der Melodie & Rhythmus, die – wie die Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung am 13. Januar – den Schwerpunkt »Afrika« hat.
Darin gibt es einen bemerkenswerten Text von Arnold Schölzel über den senegalesischen Historiker und Chemiker Cheikh Anta Diob, dessen Buch »Nations nègres et culture« (Schwarze Nationen und Kultur) 1955 in Frankreich großes Aufsehen erregte, weil er darin die ägyptische Kultur als Vorläufer der Antike schilderte – als eine Kultur von schwarzen Menschen. Gegen diese These läuft hierzulande die Ägyptologie, für Schölzel »seit ihrem Entstehen mit der Entzifferung der Hieroglyphen 1822 bis heute ein Quell ›wissenschaftlich‹ begründeten Rassismus«, konstant Sturm, weil sie »die Ägypter zu Weißen« machen möchte. Für den Kameruner Philosophen Achille Mbembe, der auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz einen Vortrag halten wird, wollte Diop »die universalistischen Ansprüche des westlichen Humanismus entmystifizieren und die Grundlagen für ein Wissen legen, das seine Kategorien und Konzepte aus der Geschichte Afrikas schöpft«, schreibt Mbembe in seinem Buch »Politik der Feindschaft«.
Solche verleugneten Transferbeziehungen betreffen auch die geraubte afrikanische Kunst, die bekanntlich Max Ernst, Pablo Picasso oder Paul Klee stark beeinflusste und die noch immer in den zu Kolonialzeiten angelegten europäischen Museen ausgestellt wird. In seinen »Randbemerkungen« zum geplanten Umzug der »Ethnologischen Sammlung« von Dahlem nach Berlin-Mitte in das neugebaute Humboldt-Forum, schreibt Thomas Koppenhagen: »Die Kolonialmächte haben nicht nur die Kulturen Afrikas auf dem Gewissen. Wie die klassische Moderne zeigt, ging die Ausbeutung tiefer: Wir haben sie uns einverleibt. Das Fremde, das Andere, von dem wir uns distanzieren wollen, in dem wir es in Ethnologischen Museen abstellen, ist längst schon wir selbst. Wir sind es.«
Die ökonomischen Bedingungen hierfür bleiben terroristisch. Für den nigerianischen Dichter und Umweltaktivisten Nnimmo Bassey hat das Nigerdelta mit seinen Ölvorkommen »wie keine andere Region des Landes eine so lange und unmenschliche Aggression erleiden müssen«. Der südafrikanische Soziologe Faisal Garba bilanziert allgemein: »Überall auf dem Kontinent hält das imperialistische Kapital die Löhne niedrig (…). Es betrachtet Afrika vielmehr als ein Reservoir, aus dem man unbegrenzt Superprofite schlagen kann«. Gleichzeitig sieht Garba, aber den »antiimperialistischen Panafrikanismus (…) wieder auf dem Vormarsch.« Der senegalesische Germanist Maguèye Kassé erinnert an den linken Schriftsteller und Filmemacher Ousmane Sembène aus Dakar, weil dessen Werk – »universal im Goetheschen Sinne« – nicht »nationale Autarkie« propagiere, sondern einen »Brückenschlag« der Stile und Kulturen. In einem schönen Text erklärt Gerd Schumann, wie der Reggae von Jamaika nach Simbabwe gekommen ist: Die Guerilla hörte im Untergrund Bob Marley genauso wie den Befreiungsrock von Thomas Mapfumo. Beide sangen im April 1980 gemeinsam im Stadion von Harare, das damals noch Salisbury hieß. Draußen stand die Guerilla. Hinten im Heft von Melodie & Rhythmus schreibt der Musikwissenschaftler Hanns-Werner Heister zum Thema: »Revolution! Gern, aber welche und wie?«
Jahresrückblick 2017. Heute: Südliches Afrika. Personelle Erneuerung in Simbabwe und Südafrika
Christian Selz, Kapstadt
Am Tag, nachdem in Simbabwe das Militär ausgerückt war, um Staatschef Robert Mugabe zu stürzen, schrieb Derek Hanekom in Südafrika eine kurze Nachricht auf Twitter. »Vielleicht gibt es eine Botschaft aus Simbabwe – Präsidenten sollten ihr Glück nicht überstrapazieren«, textete der Veteran des Anti-Apartheid-Kampfes und derzeitige Vorsitzende des Disziplinarkomitees der südafrikanischen Regierungspartei African National Congress (ANC) am 15. November.
An wen sich Hanekoms Botschaft richtete, war offensichtlich: Südafrikas Staatschef und damals noch ANC-Präsident Jacob Zuma versuchte zu dieser Zeit mit aller Kraft, seine ehemalige Ehefrau Nkosazana Dlamini-Zuma an der Parteispitze zu installieren. Das Vorhaben misslang, auf dem ANC-Wahlparteitag übernahm Zumas Gegenspieler Cyril Ramaphosa die Führung der einstigen Befreiungsbewegung, er wird damit bei den Präsidentschaftswahlen 2019 auch Spitzenkandidat der Partei werden. Der Personalwechsel an der Staatsspitze, der in Simbabwe vollzogen wurde, ist also auch in Südafrika bereits programmiert. Politisch waren das die wichtigsten Ereignisse im südlichen Afrika 2017. Einen radikalen Wandel bedeuteten sie indes in keinem der beiden Länder.
Natürlich sind Simbabwe und Südafrika nicht wirklich vergleichbar. Der Binnenstaat nördlich des Limpopo-Flusses liegt gebeutelt von internationalen Sanktionen, hausgemachter Vetternwirtschaft und Korruption sowie einer daraus resultierenden Hyperinflation seit 2008 wirtschaftlich am Boden, der große Nachbar an der Südspitze des Kontinents ist noch immer ein regionales Zugpferd. Ebenso entscheidend sind die Unterschiede in der Staatsstruktur: Während in Südafrika starke demokratische Institutionen die Regierung kontrollieren und die Gerichte sich nicht scheuen, regelmäßig gegen den Präsidenten zu urteilen, steht in Simbabwe das Militär über allem. Besonders deutlich wurde das beim Putsch im November. In dem Moment, als Staatschef Mugabe auf Drängen seiner Ehefrau Grace den Vizepräsidenten Emmerson Mnangagwa entlassen hatte, griffen die Generäle durch.
Unter Kontrolle der Armee
Mnangagwa war der Mann des Militärs in der Regierung, ihn kaltzustellen hätte bedeutet, das System auszuschalten. Die Armee kontrolliert weite Teile der simbabwischen Wirtschaft, vor allem im Bergbau. Und in letzter Konsequenz lenkt sie auch die Regierungspartei Zimbabwe African National Union – Patriotic Front (ZANU-PF), was in deren Aktionen im November klar zu erkennen war. Nur wenige Wochen, nachdem die ZANU-PF den Rauswurf Mnangagwas eifrig beklatscht und diesem in einer öffentlichen Erklärung »Züge von Untreue, Missachtung, Hinterlist und Unzuverlässigkeit« attestiert hatte, hob sie den Mann mit dem Beinamen »Krokodil« auf die Posten des Partei- und Staatschefs. Grace Mugabe, die schon wie die Siegerin im Rennen um die Nachfolge ihres 41 Jahre älteren Gatten ausgesehen hatte, wurde auf Lebenszeit aus der Partei ausgeschlossen. Der Putsch war damit kein Umbruch, sondern lediglich die Entfernung der Führungsfigur Mugabe, der entscheidende Schlag gegen die nach der Macht greifende jüngere Fraktion um dessen Ehefrau und letztlich die Restauration des alten Regimes.
In Südafrika ist die Rolle des Militärs nicht annähernd so stark, in der Wirtschaft spielt es praktisch keine Rolle. Der Konflikt, der den ANC insbesondere in diesem Jahr so tief wie nie zuvor gespalten hat, beruht dagegen auf einem Kampf zweier Kapitalflügel. Hintergrund ist der Versuch geschäftlich mit dem Lager von Präsident Zuma verbundener Unternehmer, ihren politischen Einfluss in monetäre Gewinne umzuwandeln. Weil sie dazu vor allem bei der Vergabe staatlicher Aufträge zugreifen oder zumindest in eine Vermittlerrolle zwischen Regierung und internationalen Konzernen schlüpfen – die Grenze zwischen »Berater« und »Schmiergeldempfänger« ist hier fließend –, beschreibt nicht nur die South African Communist Party (SACP) dieses Vorgehen als »parasitäre Unterwanderung des Staates«.
Diese steht jedoch nicht nur der von den Kommunisten angestrebten demokratischen Kontrolle der Wirtschaft im Wege, sondern schmälert auch die Gewinnmargen des etablierten Kapitalflügels, also der internationalen Konzerne nebst lokaler Partner. Letztere Fraktion hatte nach dem Ende der Apartheid versucht, die neue politische Elite mit Unternehmensbeteiligungen einzubinden. Der Mitte Dezember zum neuen ANC-Präsidenten gewählte Exgewerkschafter und bisherige Parteivizepräsident Cyril Ramaphosa ist dafür ein ideales Beispiel: Mit zahlreichen Konzernengagements, darunter beim Platinriesen Lonmin, an dessen Marikana-Mine im Jahr 2012 während eines Streiks 44 Menschen getötet worden waren, wurde er zum Milliardär. Sein Aufstieg an die Parteispitze untermauert den Einfluss des prowestlichen Kapitals, da aber auch das Zuma-Lager mindestens die Hälfte des neugewählten Personals der Parteispitze stellt, ist der Ausgang des ANC-Wahlparteitags eher als Kompromiss zwischen den Fraktionen zu werten. Auch wenn die Vorzeichen und Verhältnisse andere sind, findet in Südafrika ähnlich wie in Simbabwe eher eine Festigung des alten Systems als ein Umbruch statt.
Kleines Übel
Sowohl Mnangagwa als auch Ramaphosa stehen dabei für eine unternehmensfreundliche, neoliberale Politik und werben offen um internationale Investoren. Der Einfluss linker Kräfte ist dabei in Simbabwe kaum noch wahrnehmbar und auch in Südafrika ist er stark geschwächt. Die SACP, bisher stets im Bündnis mit dem ANC, beschloss dort infolge einer nicht abgesprochenen Kabinettsumbildung durch Zuma in der ersten Jahreshälfte, künftig eigenständig zu Wahlen anzutreten, und hat diese Ankündigung bei ersten kommunalen Nachwahlen bereits umgesetzt. Sie bleibt jedoch wie auch der Gewerkschaftsbund COSATU Teil der Regierungsallianz. Deren Zerbrechen wurde nun auch mit der Wahl Ramaphosas verhindert, den sowohl SACP als auch COSATU gegen die Kandidatur von Zumas Exfrau unterstützt hatten – wenn auch eher als geringeres Übel denn aus programmatischen Gründen.
Ruhe dürfte damit dennoch nicht einkehren. Denn die Allianzpartner, die bisher offen und deutlich Zumas Rücktritt gefordert haben, werden dies auch künftig tun. Noch am 24. Dezember kritisierte die SACP, dass der Präsident Einspruch gegen eine Gerichtsentscheidung eingelegt hatte, mit der die Einberufung einer Untersuchungskommission zur Unterwanderung des Staates durch politisch vernetzte Unternehmer durchgesetzt worden war. Zuma, so argumentieren die Kommunisten, wolle den Prozess verschleppen, weil er selbst in den Skandal verwickelt sei. Der Druck der Justiz und der Allianzpartner allein hat bisher freilich nicht ausgereicht, um den Staatschef aus dem Amt zu drängen. Da der ANC mit seinem Skandalpräsidenten allerdings Gefahr läuft, bei den Wahlen 2019 seine absolute Mehrheit zu verlieren, könnten künftig auch bisherige Zuma-Loyalisten zur Wahrung ihrer eigenen Machtinteressen umschwenken. Wie schnell das gehen kann, hat sich in der ZANU-PF gezeigt. Nicht ausgeschlossen also, dass Derek Hanekom, der Anfang des Jahres übrigens als Tourismusminister entlassen worden war, nachdem er Zumas Rücktritt gefordert hatte, am Ende doch recht behält mit seiner »Botschaft aus Simbabwe«.
Tansania ist ein Land der Gegensätze, doch die Ideale der Gleichheit leben an der »Wiege der Menschheit« fort
Jenny Farrell
Die meisten Europäer reisen gewiss vor allem hierher, um auf einer Safari mit der Kamera Jagd auf Elefanten, Giraffen oder Löwen zu machen. Solche Exkursionen habe auch ich eingeplant, in erster Linie aber möchte ich in das ostafrikanische Land am Kilimandscharo, um seinen Menschen zu begegnen. Schon als die aus Los Angeles kommende Maschine vom irischen Dublin abhebt, sind die Weißen unter den Passagieren bereits klar in Unterzahl. Nach dem Umstieg in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba liegt ihr Anteil an Bord endgültig etwa auf dem an der Weltbevölkerung. Die Proportionen des Nordens, des reichen Europas, haben wir hinter uns gelassen.
Für mich ist es auch ein Wiedersehen nach Jahrzehnten mit Orten aus meiner Kindheit. Zwei Jahre lang, von 1969 bis 1971, habe ich in Tansanias größter Stadt, der am Indischen Ozean gelegenen Metropole Daressalam, gelebt. Seit 1974 ist das in der Landesmitte gelegene Dodoma die offizielle Hauptstadt, doch die Regierung hat bis heute hier ihren Sitz. Dass es mich nach Tansania verschlug, lag an meinem Vater Jack Mitchell, einem Schotten. Er war einem Ruf an die Universität von Daressalam gefolgt, um dort Literatur zu unterrichten. Mein Vater übernahm die Stelle von Professor Arnold Kettle (1916-1986), einem legendären marxistischen Literaturkritiker aus England. Dessen Arbeit setzte er unter anderem dadurch fort, dass er den Studenten Bertolt Brecht nahe und mit ihnen sogar dessen »Tage der Commune« an der Hochschule zur Aufführung brachte. Zu seinen Kollegen zählte auch der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach (geb. 1934) von der Humboldt-Universität in Berlin, der in Daressalam als Gastprofessor wirkte.
Meine Mutter Renate war DDR-Bürgerin und meine beiden jüngeren Brüder Robin und Colin und ich selbst konnten daher die Schule besuchen, die zur Botschaft des sozialistischen deutschen Staates gehörte. Im Schnitt nur etwa drei Dutzend Kinder lernten dort von der ersten bis zur sechsten Klasse nach DDR-Lehrplan und absolvierten das Pionierleben mit allem Drum und Dran. Sie gehörten zu Diplomatenfamilien oder denen von Lehrern und Ausbildern, vor allem in technischen Bereichen und aus dem Gesundheitswesen, die nach Tansania entsandt worden waren. Auch die Kinder des damaligen tansanischen Außenministers Stephen Mhando, der mit einer Leipzigerin verheiratet war, und ein Mädchen aus Mosambik waren unter meinen Mitschülern. Meine Mutter gab während unseres Afrikaaufenthaltes Englischkurse für die Angehörigen der DDR-Diplomaten.
Ganz reibungslos verlief meine schulische Reintegration nach unserer Rückkehr nach Berlin dennoch nicht. Ich, damals 14, hinterfragte im Biologieunterricht die Beschreibung der Ethnien. Warum hatten andere dicke Lippen statt wir Europäer dünne? Waren wir denn nicht alle im Grunde Afrikaner, und wären diese nicht eher berechtigt, als Prototyp zu gelten? Meine Lehrerin war davon nicht so angetan.
Neue Wege
Es war eine Zeit des Aufbruchs für die Völker Afrikas. Erst wenige Jahre zuvor, 1961 und 1962, hatte die britische Kolonie Tanganjika schrittweise ihre Unabhängigkeit erlangt. Drei Jahre später vereinigte sich das Land, das bis 1918 zum sogenannten Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika gehört hatte, mit der Insel Sansibar zur Vereinigten Republik Tansania. Bis zu seinem Rücktritt 1985 stand mit Julius Nyerere (1922-1999) ein sozialistisch orientierter Lehrer und Katholik an der Spitze des jungen Staates. Er war eine wichtige Symbolfigur für den antikolonialen Kampf in ganz Afrika. Die aus einer Vereinigung der von ihm 1954 gegründeten Tanganyika African National Union (TANU) und ihrer Schwesterpartei auf der autonomen Insel Sansibar ASP 1977 hervorgegangene CCM (»Revolutionäre Staatspartei«) ist bis heute, mittlerweile deutlich pragmatischer orientiert, die bestimmende politische Kraft im Land. Seit 1992 gibt es ein Mehrparteiensystem.
Dass Nyerere noch immer als »Lehrer (auf Suaheli: Mwalimu) der Nation« in Ehren gehalten wird, ist nicht zuletzt seinen Verdiensten um das Bildungswesen zuzuschreiben. Die Daressalamer Hochschule, 1961 als Ableger der Universität von London entstanden, ist dafür ein wichtiges Beispiel. Nach Aufspaltung der Ostafrikanischen Universität erfolgte 1970 die Gründung der University of Dar es Salaam. Die Bildungsstätte sollte die angestrebte auch akademische Unabhängigkeit des Landes voranbringen.
Gut an jene Zeit erinnern kann sich Dennis Shio. Vor dem Nationalmuseum nahe des Botanischen Gartens kommen wir zufällig ins Gespräch. Der etwa 70jährige frühere Ökonom erlebte die Universität noch als ein intellektuelles Zentrum der afrikanischen Revolution. Dozenten aus der Sowjetunion, der DDR und Westdeutschland, aus Großbritannien, Irland und Kanada sind ihm im Gedächtnis geblieben. Vor allem linke Wissenschaftler aus aller Welt hätten an der Hochschule gewirkt, berichtet er. Der Lehrkörper hätte damals noch fast ausschließlich aus Weißen bestanden.
Wie sehr sich das geändert hat, kann ich in diesen Sommertagen des Jahres 2017 bei einem Besuch der Universität beobachten. Der riesige Hauptcampus liegt etwas außerhalb der Stadt. Mittendrin auf einem Hügel liegen Wohnhäuser für die Angestellten. Hier haben auch wir gewohnt. Alles sieht noch so aus, wie ich es in Erinnerung behalten habe. Bei dem einzigen Weißen, der mir auf dem Gelände der Uni begegnet, scheint es sich um einen Studenten zu handeln. Vor der Unabhängigkeit gab es so gut wie keine im Land selbst ausgebildeten Hochschulabsolventen mit einheimischen Wurzeln. Ärzte waren so gut wie nicht vorhanden. Erst unter Nyerere wurde mit internationaler Beteiligung die erste tansanische Akademikergeneration herangebildet.
Das Fundament der neuen Bildungspolitik bildete die allgemeine Volksschulpflicht. Die Kinder sollten von Anfang an gemeinsam, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Glaubensgruppe oder Stammesverband, zu gleichberechtigten Bürgern erzogen werden. Das ist Realität geworden, Schulklassen, die uns begegnen, sind bunt gemischt. Einheitliche Schuluniformen machen die sozialen Unterschiede unsichtbar. Muslimische Mädchen tragen dazu ein standardisiertes Kopftuch und ihre Uniformröcke sind länger. Eine Unterweisung in Religion gibt es nicht im staatlichen Rahmen, sondern die vielen verschiedenen Gemeinschaften pflegen diese in eigenen Schulen an den Sonnabenden. Am weitesten verbreitet sind Islam, Hinduismus und das Christentum in vielen Spielarten, daneben existieren diverse Naturreligionen. In allen Volksschulen findet der Unterricht in der alle mehr als 120 Volksgruppen, mit noch mehr eigenen Sprachen, verbindenden Nationalsprache Suaheli statt.
In der Sekundarstufe, die nicht mehr unter die Schulpflicht fällt, wird ausschließlich auf Englisch unterrichtet. Englisch ist weiter wichtige Umgangssprache in den ehemaligen britischen Kolonien in Afrika und eine gute Voraussetzung, um sich im Rest der Welt zurecht zu finden. Viele hier sprechen neben ihrer Stammessprache und Suaheli auch etwas Englisch. Abgänger der höheren Schulen, die sich um einen Studienplatz bewerben oder in den Staatsdienst aufgenommen werden wollen, müssen zuvor Militärdienst leisten. Ihre Stammeszugehörigkeit soll hingegen keine Rolle spielen. Anders als in vielen afrikanischen Staaten stehen Unruhen und Konflikte zwischen den Ethnien in Tansania seit langem nicht mehr auf der Tagesordnung.
Historische Zeugnisse
Ich unternehme einen Abstecher nach Sansibar. Vor allem die Küsten der Insel mit ihren Traumstränden und Hotels sind ein touristischer Hotspot. Mit dem Flugzeug ist es von Daressalam aus nur ein kurzer Hüpfer, und der Anflug über den Indischen Ozean bietet eine traumhafte Aussicht auf das Eiland. In der Inselhauptstadt, die selbst auch Sansibar heißt und auch sonst wenige besondere Merkmale aufweist, stehen auch einige Plattenbauten. Vor fast einem halben Jahrhundert wurden diese mit Hilfe von Experten aus der DDR errichtet, die hier einheimische Bauleute ausbildeten. Der eine deutsche Staat, der solidarisch auf der Seite der afrikanischen Befreiungsbewegungen stand, hat auch in der Literatur, die den Aufbau des neuen Tansania thematisiert, Spuren hinterlassen. In dem Roman »By the Sea« des bekannten tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah (geb. 1948) aus dem Jahr 2001 bricht ein junger Sansibari nach Leipzig auf, um sich in der DDR beruflich fortzubilden.
Sansibar, vor allem als Gewürzinsel bekannt, war früher ein wichtiger Umschlagplatz des muslimischen Sklavenhandels – und der letzte des Kontinents. Wo einmal der größte Markt war, im Stone Town genannten, arabisch geprägten historischen Teil von Sansibar-Stadt, steht seit 1873 die Alte Anglikanische Kirche. Die Sklaven mussten in finsteren Kellern hausen, bis sich die portugiesischen Aufkäufer ihrer bemächtigten. Einige Verliese sind noch zu besichtigen. Auch ein in einer Versenkung installiertes Denkmal erinnert an die unmenschlichen Schicksale. Die Skulpturen von Sklaven darin sind mit originalen Eisenketten aneinander gefesselt. Inoffiziell lief das Geschäft mit der menschlichen Ware trotz Verbots durch die Briten 1873 bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts weiter. Die jahrhundertelange arabische Herrschaft über Sansibar beendete erst 1964 eine Revolution endgültig.
Die Leitideen für das unabhängige Tansania waren von Beginn an Freiheit (auf Suaheli: uhura) und Einheit (umoja). Beide Begriffe untertiteln auch das Staatswappen. Ein eigener Weg zu einem afrikanischen Sozialismus (ujamaa), wie ihn der damalige Staatspräsident Julius Nyerere 1967 in der Arusha-Deklaration umriss, sollte beschritten werden. Einen wichtigen Ausgangspunkt dafür bildete das gemeinsame Eigentum an den natürlichen Ressourcen und den Produktionsmitteln bei den Stammesverbänden, was auch auf nationaler Ebene verwirklicht werden sollte.
Tansania unterstützte aktiv andere afrikanische Befreiungsbewegungen und die sogenannten Frontstaaten, die in militärische Auseinandersetzungen mit dem Apartheidstaat Südafrika und dessen Vasallen verwickelt waren. Im Land befanden sich Sitze und Radiosender von Organisationen wie der mosambikanischen Frelimo, von ANC und PAC aus Südafrika oder der namibischen Swapo. 1979 marschierten tansanische Truppen in Kampala, der Hauptstadt des Nachbarstaates Uganda, ein und beendeten die blutrünstige Diktatur des »Schlächters von Afrika« Idi Amin (1928-2003), der sich ins Exil absetzen konnte. An diesen Krieg erinnern an vielen Orten Denkmäler. Tansania ist stolz auf seine fortschrittlichen Traditionen, was auch in vielen Gesprächen mit Einheimischen spürbar wird. Die heutige Politik hat viele Konzessionen an den Westen gemacht, der Privatisierungen als Vorbedingung sogenannter Entwicklungshilfe fordert. Ein neues Gesetz untersagt auch den Saatgutaustausch zwischen den Bauern, eine bewährte, jahrhundertealte Tradition. Nur noch patentierter Samen der Konzerne soll in den Boden gelangen dürfen.
Verwobene Zeitalter
Nach der Rückkehr aus Sansibar führt mein Weg von Daressalam landeinwärts. In den Siedlungen herrscht ein reger Handel und Wandel links und rechts der Straße. Verkäufer bieten an, was man so braucht: vor allem Trinkwasser in Flaschen. Fließendes oder wenigstens sauberes Wasser sind rar, vor allem auf dem Land fehlt es an Infrastruktur. Im Angebot sind auch Nüsse, Obst und alles mögliche, bis hin zu Autoreifen und Scheibenwischern. Frauen und Männer transportieren Waren, und das stets auf dem Kopf. Mehr als 200 Kilometer östlich der Metropole liegt die Region Morogoro mit dem Uluguru-Gebirge, an dessen Hängen der Stamm der Luguru siedelt. Hier liegt der Mikumi-Nationalpark, der viertgrößte des Landes. Die meisten weißen Touristen unternehmen ihre Safaris weiter nördlich, sie zieht es vor allem in den Serengeti. Zehntausenden Angehörigen der Masai droht dort die Vertreibung aus ihren angestammten Gebieten, weil diese an reiche Ausländer als Jagdreviere vermarktet werden sollen. Populär sind auch Trips zum höchsten Berg Afrikas, dem Kilimandscharo, oder an die Ausgrabungsstätten früher Menschheitszeugnisse am Ostafrikanischen Grabenbruch.
Die Luguru praktizieren noch heute eine matriarchale Lebensweise. Die Frauen sind die Oberhäupter ihrer Familien, Besitz wird über die mütterliche Linie vererbt. Großer Besitz ist hier, wie in ganz Tansania, allerdings selten. Ich besuche das Anwesen eines Familenclans am Rande des Mikumi-Parks. Die Frauen sind beim Kochen. Über Holzkohlefeuern hängen große Töpfe. Zubereitet werden meist Gerichte aus Kassava – Süßkartoffeln –, Kochbananen und Fleisch vom Huhn oder Rind. Schnell kommen wir ins Gespräch. In ihrer dominanten Rolle sehen sie keinen Widerspruch zu dem von ihnen praktizierten Islam. Sie seien eben diejenigen, die die Kinder gebären und aufziehen, alles zusammenhalten würden. Und nähme sich ein Ehemann eine zweite Frau, erfahre ich, habe seine erste das Recht, sich ein heimliches Double zu nehmen. Auch an mich haben sie Fragen. Ob es denn stimme, dass bei uns Männer ihre Schwestern heiraten dürften? Wer hält um die Hand des oder der Zukünftigen an? Wie steht es um eine Mitgift? Die auf dem Hof herumlaufenden Kinder haben immer wieder das Bedürfnis, die helle Haut der europäischen Besucher anzufassen und auf ihre Echtheit zu überprüfen. Einer der Väter erzählt lachend, dass er selbst als Kind Weiße in der Nacht für Gespenster hielt, weil deren Gesichter in der Dunkelheit zu sehen waren.
Meine letzte Station führt mich an den zerklüfteten Südhang des Kilimandscharo. Unterhalb der Baumgrenze gedeiht auf roter Erde inmitten üppiger Vegetation ein hervorragender Kaffee. Nahe der Stadt Moshi besuche ich eine Kooperative, die der Stamm der Chagga betreibt. Neben der Produktion der Bohnen ist man auch am Projekt Kiliman Cultural Tourism beteiligt. An Touristen werden Unterkünfte vermietet und Führungen angeboten. Das schafft für die lokale Bevölkerung mehrerer Gemeinden wichtige zusätzliche Einnahmen. Traditionen werden fortgeführt und kollektiv neue Wege zum Vorteil aller beschritten. Der »Lehrer der Nation« wäre mit seinen Schülern wohl zufrieden.
Frankreich und Deutschland eskalieren Krieg in der Sahelzone – nebenbei gewinnen salafistische Reaktionäre aus Saudi-Arabien an Einfluss
Jörg Kronauer
Natürlich sind sie verlängert worden, die Mandate für die Bundeswehr-Einsätze in Nordmali, Sudan und Südsudan, als der Bundestag vor den Weihnachtsfeiertagen über sie und vier andere abstimmte. Und natürlich hat es eine breite Mehrheit dafür gegeben, dass deutsche Soldaten in den drei Ländern stationiert bleiben. Über drei weitere Einsätze in Afrika wird im Frühjahr abgestimmt: Die Mandate für die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Mali und Somalia und für die Marineintervention am Horn von Afrika laufen zur Zeit noch. Auch sie werden aller Voraussicht nach verlängert. Die nördliche Hälfte des afrikanischen Kontinents ist zu einem Schwerpunktgebiet deutscher Militäroperationen geworden, und das wird sie wohl bleiben.
Zentral für die deutsche Afrika-Politik ist derzeit der Einsatz in Mali, der letztlich die gesamte Sahelzone im Visier hat. Begonnen hat er 2013, offiziell mit dem Ziel, die Unruhen im Norden des Landes, die zum Teil dschihadistisch geprägt sind, unter Kontrolle zu bekommen. Das ist – nach immerhin fast fünf Jahren – nicht gelungen. Nicht nur Nord-, auch Zentralmali sei »quasi außer Kontrolle«, hat kürzlich der frühere französische Diplomat Laurent Bigot konstatiert, der sich im Sahel bestens auskennt: »Noch nie gab es ein derartiges Niveau an Gewalt in Mali wie heute.« Der UN-Einsatz in Nordmali (Minusma), an dem die Bundeswehr aktuell mit fast tausend Soldaten beteiligt ist, gilt denn auch als gefährlichste »Blauhelm-Intervention« weltweit: Bis September 2017 waren 133 Todesopfer zu verzeichnen.
Das bisherige Scheitern des Einsatzes ist der Grund dafür, dass im Sahel größere militärische Umgruppierungen bevorstehen. Sie betreffen den Bestand der beiden Einsätze, in deren Rahmen deutsche Soldaten in Mali stationiert sind, zwar nicht unmittelbar; Minusma wird mit ihren gut 11.000 Soldaten und rund 1.600 Polizisten weitergeführt, und auch EUTM Mali wird mit etwa 600 Soldaten, darunter fast ein Drittel Deutsche, das malische Militär weiterhin trainieren. Frankreich will allerdings langfristig Ersatz für seine »Opération Barkhane« schaffen, die mit rund 3.000 Mann im Prinzip in fast der gesamten Sahelzone operiert – und auf Dauer viel Geld kostet. Paris und Berlin haben deshalb die Gründung einer Eingreiftruppe (Force conjointe) der sogenannten G5 Sahel vorangetrieben, auf die sich die Opération Barkhane erstreckt: Neben Mali sind dies Mauretanien, Burkina Faso, Niger und Tschad.
Offiziell ist die Aufstellung der »G5 Sahel«-Eingreiftruppe, die langfristig die Kriegführung in der Sahelzone von der Opération Barkhane übernehmen soll, Anfang Juli beschlossen worden. Sie soll letzten Endes 5.000 Soldaten umfassen – 1.000 aus jedem der beteiligten Länder. Aktuell wird die Truppe aufgebaut, und das mit deutscher Hilfe: Im Rahmen von EUTM Mali trainieren auch deutsche Militärs schon seit einiger Zeit immer wieder Soldaten aus den Staaten der »G5 Sahel«. Zuletzt fanden »Beratungsmaßnahmen« und ein zweiwöchiger Ausbildungskurs für »G5 Sahel«-Stabspersonal bei EUTM Mali statt. Berlin hat darüber hinaus versprochen, den Aufbau einer Verteidigungsakademie (»Collège de défense du G5 Sahel«) in Mauretanien zu fördern. Am 8. Dezember hat der UN-Sicherheitsrat beschlossen, dass in Zukunft Minusma-Einheiten die »G5 Sahel«-Eingreiftruppe punktuell unterstützen sollen, etwa bei der Versorgung mit Treibstoff und Wasser sowie bei der Evakuierung von Verletzten. Auf diese Weise geriete die Bundeswehr ein weiteres Stück in den sich ausweitenden Sahelkrieg hinein.
Dabei bekommt dieser nun eine neue Dimension. Mitte Dezember ist auf einem Gipfeltreffen in Paris, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel teilgenommen hat, die Finanzierung der Truppe festgeklopft worden. Der Bedarf wird offiziell auf 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, inoffiziell auf weniger als 300 Millionen US-Dollar geschätzt. Die »G5 Sahel«-Staaten haben jeweils zehn Millionen Euro zugesagt, die EU 50 Millionen, Frankreich acht, die USA jüngst 60 Millionen US-Dollar. In Paris haben die Vereinigten Arabischen Emirate 30 Millionen sowie Saudi-Arabien 100 Millionen US-Dollar in Aussicht gestellt. Die Emirate wollten sich am Aufbau der Verteidigungsakademie in Mauretanien beteiligen, hieß es. Insbesondere Riad, in gewissem Maß aber auch Abu Dhabi sind seit einiger Zeit dabei, außenpolitisch in die Offensive zu gehen und ihre Aktivitäten jenseits der Arabischen Halbinsel zu intensivieren, etwa in Ägypten und in Libyen. Sie nutzen dies auch, um ihre Stellung im regionalen Machtkampf gegen Iran zu stärken. Um Irans Einfluss zurückzudrängen, führen beide zudem einen blutigen Krieg im Jemen, in dem zahlreiche Zivilisten bei Luftschlägen der von Riad geführten Kriegskoalition zu Tode kommen. Zudem hat Saudi-Arabien eine mörderische Hungerblockade gegen den Jemen initiiert.
Auf dem Pariser Gipfeltreffen hat Saudi-Arabiens Außenminister Adel Al-Dschubeir mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Kanzlerin Merkel vereinbart, dass Riad sich auch militärisch an der Kriegführung im Sahel beteiligen wird. Als Instrument dazu soll ein von Saudi-Arabien im Dezember 2015 gegründetes Militärbündnis dienen, das unter dem Namen »Islamic Military Counter Terrorism Coalition« (IMCTC) firmiert und offiziell rund 40 Staaten Afrikas und Asiens umfasst, die sunnitisch geprägt sind oder zumindest einen großen sunnitischen Bevölkerungsanteil aufweisen. Die Gründung des Bündnisses gilt als Teil der saudischen Bestrebungen, die Dominanz über die islamische Welt zu erlangen und Irans Einfluss zu schwächen. Laut Al-Dschubeir wird die IMCTC die »G5 Sahel«-Eingreiftruppe mit Logistik, Aufklärung und Ausbildung unterstützen. Die dazu notwendigen Schritte sollen in Kürze auf einem IMCTC-Treffen in Saudi-Arabien eingeleitet werden. Kann Saudi-Arabien, die Speerspitze der salafistischen Reaktion, tatsächlich seinen Einfluss im Sahel ausweiten, dann wird man daran erinnern dürfen, dass es dies auf wohlwollende Einladung aus Berlin und Paris getan hat.
Sudan und Südsudan: Sezession mit Beifall des Westens. China präsentiert sich als Alternative
Jörg Kronauer
Die Einsätze im Sudan und im Südsudan gehören inzwischen zum Altbestand der Bundeswehr. Im April 2005 beschloss der Bundestag zum ersten Mal, deutsche Soldaten in einen UN-Einsatz im damals noch nicht geteilten Sudan zu entsenden: Die Blauhelmtruppe UNMIS sollte das am 9. Januar 2005 im kenianischen Naivasha geschlossene »Umfassende Friedensabkommen« zwischen der Regierung des Sudan und dem südsudanesischen Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) überwachen; die Bundeswehr nahm daran teil. Vor dem Abschluss des Friedensabkommens hatte die Bundesregierung jahrelang die südsudanesischen Separatisten unterstützt. Es ging damals im Westen allgemein gegen die arabische Welt, der sich die ohnehin nicht kooperationswillige Regierung des Sudan zuordnete. Zur Strafe förderte der Westen die Abspaltung des Südens. Kritische Beobachter warnten schon früh, im sudanesischen Bürgerkrieg seien mehr Menschen bei Kämpfen zwischen unterschiedlichen Fraktionen im Süden zu Tode gekommen als in Gefechten zwischen Süd- und Nordsudan, was befürchten lasse, dass es nach einer Abspaltung des Südens zu fürchterlichen Gemetzeln kommen könne. Argumente halfen jedoch nicht; Berlin bejubelte die Sezession im Juli 2011 als geostrategischen Erfolg – und entsandte deutsche Militärbeobachter in die umbenannte UNMISS (United Nations Mission in South Sudan).
Es kam, wie es kommen musste: Mitte Dezember 2013 begannen heftige Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen im Südsudan, die binnen weniger Monate zu einer fünfstelligen Anzahl an Todesopfern führten und mehr als eine Million Menschen in die Flucht trieben. Schätzungen über die Zahl der Menschen, die in dem Bürgerkrieg seit Ende 2013 ihr Leben verloren, belaufen sich inzwischen auf bis zu 300.000. Von den zwölf Millionen Südsudanesen sind weit mehr als drei Millionen auf der Flucht. Die deutschen Militärbeobachter beobachten weiter; weil’s aber keinen Staat mehr von einem arabischen Land abzuspalten gilt und die Weltlage sich ohnehin geändert hat, interessiert der Westen sich nicht für den Konflikt. Obwohl es nicht dabei bleiben muss. China, das bedeutende ökonomische Interessen im Südsudan hat, hat erstmals begonnen, in einem Krieg in Afrika zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln, Friedensgespräche zu führen, auch einmal Druck auszuüben, um ein Ende des Krieges herbeizuführen. Ob dies klappt, weiß niemand. Im Sommer beurteilte die International Crisis Group, ein prowestlicher Thinktank, die chinesischen Bemühungen durchaus positiv. Die Frage ist aber, ob das auch so bleibt, sollte Beijing in Juba erfolgreich als Ordnungsmacht auftreten und sich damit – gewollt oder ungewollt – als Alternative zum Westen präsentieren. Denn der duldet bekanntlich freiwillig keine Konkurrenz.
Samstag, 13. Januar 2018, Mercure-Hotel MOA, Stephanstr. 41, 10559 Berlin
Einlass: 9.30 Uhr 10:20 Uhr: Musikalische Eröffnung mit der Ingoma Trommelgruppe Berlin 10:30 Uhr: Eröffnung der Kunstausstellung der Gruppe »Tendenzen« Beginn: 11 Uhr
Vorträge
Achille Mbembe, Kamerun (Politikwissenschaftler und Philosoph) »Zur Lage in Afrika und weltweit: Sind Menschen tatsächlich alle gleich? Zur Afrikanisierung der Welt«
Clotilde Ohouochi, Côte d’Ivoire (ehemalige Sozialministerin) »Die imperialistischen Einmischungen in Afrika vor allem des französischen Imperialismus am Beispiel der Elfenbeinküste«
Ding Xiaoqin, Volksrepublik China (Professor an der Universität Shanghai für Finanzen und Wirtschaft) »Wie unterscheidet sich Chinas Rolle in Afrika von der der imperialistischen Hauptmächte?«
Enrique Ubieta, Kuba (Journalist und Philosoph) »Kubanische Einsätze in Afrika damals und heute und die veränderten Rahmenbedingungen für eine vom Imperialismus unabhängige Entwicklung«
Jörg Kronauer, Deutschland (Journalist und Sozialwissenschaftler) »Deutscher Imperialismus von 1871 bis 2017, alte und neue Widersprüche bei den imperialistischen Hauptkräften. Und warum Fluchtursachen bekämpfen heißt: den Imperialismus bekämpfen«
Nnimmo Bassey, Nigeria (Dichter, Umweltschützer und Träger des Alternativen Nobelpreises 2010) »Nahrungsmittel, Bodenschätze und billige Arbeitskräfte – wie sich Ausbeutung und Umweltverschmutzung für das internationale Kapital rentieren«
Mumia Abu-Jamal, USA (politischer Gefangener, Journalist und Bürgerrechtler) »Schwarzer Widerstand im neuen Jahrhundert«
Weitere Redebeiträge von
Adel Amer, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Israels
William Castillo, stellvertretender Außenminister der Bolivarischen Republik Venezuela
Carolus Wimmer, Internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas
Luis Britto García, Essayist und Publizist, Venezuela
Vladimir Acosta, Historiker, Venezuela
Parallelprogramm
Jugendforum: »Lernen, wie wir kämpfen müssen« Wahlen ändern nichts. Oder etwa doch? Knapp vier Monate nach der Bundestagswahl diskutieren wir darüber, wie uns die neue Bundesregierung das Leben schwer macht. Oder anders ausgedrückt: Wie geht das Dauerfeuer gegen demokratische Rechte, Lebens-, Lern- und Arbeitsbedingungen weiter? Wie steht es etwa um die Personalnot im Gesundheitswesen? Oder den Lehrermangel an unseren Schulen? Vor allem aber: Wie steht es um die politischen Kämpfe dagegen und gegen die Herrschenden – egal, welche Farben die aktuelle Bundesregierung gerade hat?
Diskussion mit Mitgliedern der DIDF-Jugend, jungen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ)
Podiumsdiskussion
Oben – unten Nord – Süd Wer wen? Soziale Frage und Flüchtlingselend: Abschied der Linken von der internationalen Solidarität?
Es diskutieren: Canan Bayram (MdB von Bündnis 90/Die Grünen aus Friedrichshain-Kreuzberg) Lorenz Gösta Beutin (Historiker und MdB der Partei Die Linke aus Schleswig-Holstein) Günter Pohl (Internationaler Sekretär der Deutschen Kommunistischen Partei, DKP) Selma Schacht (Betriebsrätin und Arbeiterkammerrätin in Wien)
Kulturprogramm
Konzert im Gedenken an den urugayischen Liedermacher Daniel Viglietti mit Rolf Becker, Tobias Thiele und Nicolás Miquea
Beitrag von der palästinensischen Spoken-Word-Künstlerin und Autorin Faten El-Dabass
Vorstellung der Neuauflage des Lenin-Bandes »Staat und Revolution« mit den Herausgebern Wladislaw Hedeler und Volker Külow
Auszug aus dem Theaterstück »Rosa – Trotz alledem« von Anja Panse und Barbara Kastner
der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama (Teilnehmer der documenta 14) über seine Arbeiten
Abschlussfete
Musikalischer Ausklang mit der kubanischen Band Proyecto Son Batey in der Lounge bei erfrischenden Mojitos, gemixt von den Compañeros von Cuba Sí
Moderation:Gina Pietsch und Dr. Seltsam
Konferenzsprachen: Deutsch, Englisch,Spanisch und Türkisch (Simultanübersetzung)
Es wird eine kostenlose Kinderbetreuung für den ganzen Tag angeboten durch die sozialistische Kinderorganisation Rote Peperoni.
Änderungen vorbehalten. Das Programm wird laufend ergänzt.
Gibt es linkes Weihnachten? Ein Gespräch mit Dr. Seltsam über Jesus, Che, Kartoffelsalat und Handauflegen
Christof Meueler
Dr. Seltsam ist ein Berliner Kabarettist, Historiker, Conferencier und Marxist. Am 13.1.2018 moderiert er zusammen mit Gina Pietsch in Berlin die XXIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung
Lieber Doktor, mit 66 Jahren sind Sie jetzt als Berliner Godfather of Lesebühne in Rente gegangen.
Was heißt schon Rente? Ich krieg jetzt 920 Euro vom Amt, Grundsicherung. So viel als Rente zu kriegen, ist für mich unmöglich. Ich war ja mal fünf Jahre lang Lehrer, dafür gibt es 350 Euro Rente. Hätte ich das gewusst, hätte den Job nicht so lange durchgehalten. Die Durchschnittsrente bei Männern in Westdeutschland beträgt übrigens 1.100 Euro. Ich guck’ mir das immer genau an.
Wenn wir schon beim Nachrechnen sind: Sie stehen auch schon ein halbes Jahrhundert auf der linksradikalen Seite, wie fühlen Sie sich?
Ich halte es weiterhin mit der Offenbarung aus der Bibel, Kapitel 11, Vers 18 in der Fassung von Martin Luther: »Und die Heiden sind zornig geworden; und es ist gekommen dein Zorn und die Zeit der Toten, zu richten und zu geben den Lohn deinen Knechten (...) und zu verderben, die die Erde verderbt haben«. Das ist mein Ziel, das will ich erleben, egal, von wem, von Jesus oder von der Revolution.
Von Jesus?
Ich war vorgestern in der Bolle-Moschee in Kreuzberg, die ihren Namen von dem Supermarkt hat, der da vorher stand. Da geh’ ich gerne zum Friseur, das ist ein syrischer Flüchtling. Da saßen ein paar Moslems, während ich den Bart gemacht bekam. Einer sagte, er verstehe nicht, dass man gläubig sein kann, ohne religiös zu sein. Ich: »Grummel, grummel, grummel«. Mehr ging nicht, weil ich gerade rasiert wurde. Danach sagte ich ihm: »Junger Mann, das geht durchaus, man kann zum Beispiel gläubiger Kommunist sein und überhaupt nicht religiös.« Und der fragte mich daraufhin, ob ich denn Jesus toll finde? Und ich sagte: »Ja, so toll wie Che Guevara«.
Und deshalb feiern Sie als Marxist auch Weihnachten?
Natürlich. Letztes Jahr musste ich abends um neun schon wieder alle nach Hause schicken. Die waren stinksauer. Meine Süße hatte angerufen: schlimme Migräne, ich musste unbedingt zu ihr, bin auf dem Weg an der katholischen Matthias-Kirche vorbei gekommen und dachte: Na, guckste mal rein. Die Kirche war knallvoll, alle sangen, ich hab’ mir noch den Segen angehört und bin dann zu meiner Freundin, hab’ ihr die Hand aufgelegt – und die Migräne war weg!
Wie bitte?
Ich dachte schon, ich kann jetzt eine Karriere als Wunderheiler beginnen, aber die nächsten Male funktionierte es nicht mehr.
Weil Sie nicht vorher im Gottesdienst waren.
Ist doch egal, die Gefühle sollen reichen.
Sie kommen doch auch aus einer sehr christlichen Familie?
Ja, aus einer Sekte: aus einer katholisch-apostolischen Gemeinde. Da war es besonders an Weihnachten ganz schlimm. Es ging vormittags zur Kirche, nachmittags zur Kirche und zwischendurch auch noch mal. Die haben das alles sehr ernst genommen. Und dann hat mich meine Mutter Weihnachten immer vermöbelt, das war so schlimm, dass ich Weihnachten immer zur evangelischen Bahnhofsmission in Lübeck gegangen bin, statt zu Hause zu bleiben. Da kamen dann die Ostrentner aus Rostock und Parchim, und wir haben denen Kaffee gemacht.
Allerdings habe ich später, als ich Materialist geworden bin, gemerkt, dass das, was Jesus und die Urchristen praktiziert haben, reiner Kommunismus war, es ging richtig zur Sache beim Abendmahl, das wurde täglich abgehalten. Dafür mussten die Reichen ihre Häuser verkaufen, davon wurde dann das Essen für die Armen gekauft. Doch das hat Paulus, dieser römische Spitzel, alles umgedreht und das Abendmahl auf das rein Geistliche reduziert – man bekommt eine olle Oblate, von der kein Mensch satt wird. Und nur einen Schluck Wein. Das ist doch lächerlich.
Gibt es ein linkes Weihnachten?
Ja. Das schönste Weihnachtsfest habe ich 1969 in der Hamburger Uni erlebt: Der AStA hatte ein revolutionäres Weihnachten organisiert. Vor vollem Haus sang Franz Josef Degenhardt seine Lieder und Peter Schütt trug Gedichte vor: »Kiek eens, wat is de Himmel so rot! Dat sünd Marx und Engels, de backt dat Brot! De backt all de lütten lekker Stuten, för all de lütten Meckersnuten«. Da hatte ich Träne in den Augen, das war so wahnsinnig schön, dass ich dachte: So ein Weihnachten will ich wieder haben. Das habe ich aber nie wieder hingekriegt. Als ich später dann selber Shows veranstaltet habe, habe ich regelmäßig versucht, die auch an Heiligabend stattfinden zu lassen. Aber da kommt keiner, denn die Leute sind so knallfest in ihren Familien festgezurrt. Ganz schlimm war es in der Westberliner Hausbesetzerzeit in den 80ern. Da sind wirklich alle Hausbesetzer zu Mami nach Hause gefahren, und ich war ganz allein zurückgeblieben. Ich dachte: Mann, sind die Bullen blöd, die müssen jetzt nur mit vier Leuten rumfahren und können alle 160 besetzten Häuser räumen. Aber wahrscheinlich waren die Polizisten auch unterm Weihnachtsbaum.
Und was taten Sie dann so einsam?
Ich hatte depressive Gedanken, aber Freunde luden mich in eine Kneipe in Kreuzberg, in den Bierhimmel ein, wo es eine Weihnachtsgans gab – und sie spielten den ganzen Abend ein Lied: »Hasta Siempre Che Guevara« von Jan Garbarek. Das war natürlich wieder sehr schön und seitdem meine Lebensrettungslieblingsmusik, die haben wir zu Beginn Dr. Seltsams Frühschoppen immer abgespielt.
Stimmt es, dass Sie in Berlin die erste Lesebühne gegründet haben?
Ja, das stimmt – zusammen mit anderen. Die wirklichen Gründer sind Wiglaf Droste und sein Freund Cluse Krings. Wiglaf war ja in den 80er Jahren Medienredakteur bei der Taz und hat da immer seine schützende Hand über mich gehalten, weil ich denen zu links schrieb. Schließlich durfte ich aber gar nicht mehr schreiben ...
Warum?
Da gab es einen linken Autor, von dem es hieß, er habe eine Frau vergewaltigt. Da haben die Frauen in der Taz Alarm geschlagen, und die männlichen Autoren sollten eine Stellungnahme abgeben. Ich sagte: »Einer Frau, die Karate kann, wird man ihr deutliches Nein niemals missverstehen.« Zwei Wochen später formulierte das Alice Schwarzer ganz ähnlich. Aber mir wurde vorgeworfen, ich würde mit meinen Texten zur Militarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. Und ich sagte: »Danke für das Lob, genau das will ich ja«.
Obwohl ich zwei linke Hände habe und nicht bei der Bundeswehr war. Da bin ich drum rum gekommen, weil ich bei der Musterung gesagt habe: »Ich will bitte zu den Panzern. – »Wieso das denn?« – »Ja, wenn wir einen erobern, muss den ja auch jemand fahren können.« Das war’s. Danach habe ich von denen nie wieder was gehört. Auch die Taz musste ich deshalb letztlich verlassen. Aber da war ich nicht der einzige, und verschiedene Autoren haben dann im Frühjahr 1989 gesagt: Eine Zeitung zu machen ist uns einfach zu doof, statt dessen lesen wir unsere Texte einfach vor. So entstand die »Höhnende Wochenschau« mit Droste, Krings, Michael Stein und anderen. Sie fand einmal die Woche im Kino Eiszeit statt und war von Anfang an ein unglaublicher Erfolg. Ich habe mir dann gesagt: Das ist ja toll, das mache ich jetzt immer. Michael Stein hatte gefordert: Jeder Text muss einen Angriff enthalten, das halte ich immer noch für eine großartige Maxime eines linken Autors.
Sie waren von Anfang an Conferencier?
Nein, zu Beginn war jeder Conferencier und hat den folgenden Autor angesagt. Es gab wunderbare Texte. Cluse Krings ist nach Barcelona gefahren und hat live von den Olympischen Spielen berichtet, nämlich, dass die Stadt im Dreck erstickt, damals war das noch nicht so touristisch. Frank Fabel hat darüber geschrieben, wie er sich bei einem Mercedes Thinktank beworben hat und was die ihm für blöde Fragen gestellt haben. Ich ließ mir live auf der Bühne die Haare schneiden und erzählte dabei, was mir gerade so durch den Kopf gegangen ist – wie beim echten Friseur eben. Ohne Rücksicht auf mein Unbewusstes. Alles musste ganz mutig raus: Dass mich keine Frau mehr angucken wird, wenn ich meine langen Haare abgeschnitten bekomme.
Sie hatten Ende der 80er Jahre noch lange Haare?!
Ja, ich fand das schöner. Aber meine heutige Freundin sagt: »Damit sahst du total scheiße aus.«
Kurzhaarig haben Sie dann »Dr. Seltsams Frühschoppen« begonnen?
Ja, 1990 lag ich im Krankenhaus und machte eine sechswöchige Abmagerungskur, das bekam ich damals noch von der gesetzlichen Versicherung bezahlt. Und weil ich auch eine Krankenhaustagegeldversicherung hatte, war das meine Spardose. Also ich lag da rum, und dann besuchten mich Hans Duschke und Horst Evers und fragten mich, ob ich nicht mit ihnen so eine Lesebühne machen wollte? Ich hätte doch damit Erfahrung, und sie hätten jetzt auch damit angefangen, an der FU während des Studentenstreiks. Ich sagte: Okay, ich mache mit – unter einer einzigen Bedingung: Wenn die Veranstaltung so heißt wie ich. So kam es zu dem Namen »Dr. Seltsams Frühschoppen«. Damit haben wir viel Geld verdient. 14 Jahre lang, erst im besetzten Haus und dann in der Kalkscheune. Die Leute standen Schlange bis auf die Straße. Die Veranstaltung stand sogar im Baedeker-Reiseführer. Viele, die später was geworden sind, waren bei uns zu Gast, zum Beispiel Eckart von Hirschhausen.
Nur Weihnachten funktionierte das nicht.
Nein, nie. Ich habe statt dessen am 24. alle einsamen Herzen zu mir nach Hause eingeladen. Das war oft auch ganz lustig. Einmal hatte ich einen italienischen Verleger zu Gast, der wollte gerne Deutschland kennenlernen, besonders seine Feste. Für Heiligabend hatten sich mehrere Gäste angekündigt. Die einen wollten den Braten mitbringen, die anderen den Wein. Leider sagten alle ab, außer dem Verleger. Und ich saß da mit meiner Notration: Würstchen für 1,90 und Kartoffelsalat für 1,50 und drei Flaschen Bier. Wir teilten alles brüderlich. Als er ging, sagte der Verleger, es sei sehr nett gewesen, und vor allem stimme das ja wirklich, dass die Deutschen zu Weihnachten Wurst, Kartoffelsalat und Bier zu sich nehmen. Das war wirklich ein interkultureller Austausch: alle Vorurteile bestätigt.
Fast schon ein Brechtsches Lehrstück. Aber »Dr. Seltsams Frühschoppen« scheiterte doch nicht an Weihnachten?
Nein, an persönlichen Fragen. Und an politischen: Ich war der einzige, der die Politik reingebracht hat. Als 1999 der NATO-Krieg gegen Jugoslawien begann, wurde ich Sonntag morgen von den anderen empfangen: »Du Doktor, wir haben einstimmig beschlossen, dass die Wörter ›Uran‹, ›Joschka Fischer‹ und ›Kriesgsverbrechen‹ auf der Bühne nichts mehr verloren haben.« Die habe ich dann natürlich extra gesagt, und der Eklat war da.
Es kam letztlich zur Spaltung.
Irgendwann haben wir schließlich getrennte Veranstaltungen gemacht und dafür den Namen geteilt: Die Spaßmacherfraktion hieß »Frühschoppen« und die politische Fraktion, also ich, hat wieder den Begriff »Wochenschau« benutzt: »Dr. Seltsams Wochenschau« – auch das 13 Jahre lang. Da hab’ ich mir immer Leute eingeladen und mit denen geredet, was ich auch viel besser fand: Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Hans-Christian Ströbele zum Beispiel. Ich habe all die Leute, die keiner richtig persönlich kennt, nach den persönlichen Dingen gefragt, die sie sonst nicht sagen sollten.
Und die ihnen dann auch geglaubt, obwohl sie von Medienprofis erzählt wurden?
Lafontaine hatte mir gegenüber behauptet, dass er nach einem halben Jahr aus der Schröder-Regierung ausgetreten sei, weil er gewusst habe, die wollten Krieg führen, und da wollte er nicht mitmachen. Nun weiß man nie, was davon stimmt, aber ich hab’s ihm geglaubt. Auf mich hat er einen offenen Eindruck gemacht. Ich hab’ ihn nämlich gefragt, wie er es als moralisch gefestigter Mensch überhaupt bei diesen Pappnasen im Parlament aushalten könnte? Er hat geantwortet: »Da haben Sie recht, ich würde auch lieber mit meinem Sohn Maurice im Garten Korbball spielen, da hab’ ich immer was zu tun.«
Übrigens hatte Hans Duschke beim »Frühschoppen« mal eine Nummer gemacht, die fand ich sehr gut. Er stand auf der Bühne und sagte, er könne Gedanken lesen. Dann bat er jemand aus dem Publikum auf die Bühne und sagte ihm: »Ich weiß, was sie jetzt denken: Was ist das für ein Idiot, der da sagt, er könnte Gedanken lesen!«
Waren Sie eigentlich mal Schauspieler?
Nur als Schüler, einmal in einem Stück von Pirandello. Da war ich in einen Krug eingemauert und musste auf Kommando lachen. Das habe ich knapp hingekriegt. Und dann im »Autobus S« von Raymond Queneau gespielt, das war wunderschön, aber ich hab’ den Text nicht verstanden. Muss man ja auch nicht als Schauspieler, das ist ja das Irre. Als Moderator muss man auch schauspielern, den Beifall herauslocken, das ist die Hauptaufgabe. Obwohl ich anfangs sehr schüchtern war, habe ich das gelernt über die Jahre.
Und das Singen haben Sie sich auch noch draufgeschafft.
Nur ein bisschen, ich dachte immer: Ich kann es nicht, aber jeder kann es, wirklich wahr. In Neukölln hatte ich in den Neunzigern mal den »Amüsiersalon«, wo ich auch singen und tanzen musste, zusammen mit einer alten Tänzerin: »Neukölln, Neukölln, du Blume der Stadt, wo jeder Mensch zwei Arme und vier Räder hat!« In erster Linie aber habe ich die Künstler eingeladen, die das auch perfekt beherrschen und zwar in meinen »Club Existentialiste« in den Nuller Jahren im Keller der Wabe. Da gab es tolle Jazzsessions. Nach meinen Erfahrungen mit den Frühschoppen-Leuten habe ich mir von den Künstlern immer gewünscht, dass die auch was Politisches singen. Und die sagten dann: »Nein, das können wir nicht, wir singen nur schöne Lieder!« Aber die Franzosen konnten zumindest »Le Déserteur« von Boris Vian. Das hatten die alle im Kindergarten gelernt. Aber die kannten nicht die Originalstrophe, die dann verboten war: »Monsieur le Président, Sie können die Gendarmen schicken, doch ich kann gut schießen!« Statt dessen hieß es: »Monsieur Le Président, Sie können Ihre Gendarmen schicken, aber ich werde mich nicht wehren.« Das wusste ich dann wiederum.
Singen könnten Sie ruhig öfter. Eine wohltönende Stimme haben Sie doch. Und laut ist die außerdem.
In den 70ern stand ich in dem kleinen Lübeck auf der Durchgangsstraße und rief den Arbeiterkampf aus, die Zeitung des Kommunistischen Bundes, mit einer so kräftigen Stimme, dass es von einem Stadttor zum anderen geschallt ist, wie mir berichtet wurde. Vom Burgtor bis zum Holstentor. Wenn bei der RLK, der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die ich regelmäßig moderiere, das Mikrofon ausfällt, könnte ich die 1.500 Leute im Saal auch so unterhalten. Überhaupt kein Problem. Das habe ich gelernt.
Was ist Ihr Trick bei der RLK? Wie bleiben Sie den ganzen Tag als Moderator fit?
Kaffee, Unmengen von Kaffee. Hinter der Bühne ist es überhaupt nicht langweilig, weil du nie weißt, was einer auf der Bühne tun wird. Und wenn er fertig ist, musst du sofort da sein und etwas sagen oder jemand interviewen.
Aus der Lamäng?
Ich bin da unheimlich wach.
Wann war Ihre erste RLK?
2005, da habe ich Alfred Hrdlicka interviewen müssen ...
… weil ich im Stau steckte. Ich sollte das ja ursprünglich machen, aber schaffte es nicht mehr rechtzeitig.
Tja, Planung ist alles. Als 2005 einer vom ZK der KP Kubas sprach, sagte Mag Wompel von Labournet zu mir: »Komm, wir gehen raus, eine Zigarette rauchen.« Ich meinte: »Das geht leider nicht, ich muss hier als Moderator auf dem Sprung sein.« Doch sie beruhigte mich: »Keine Sorge, der Mann kommt aus Kuba, der fängt bestimmt bei Adam und Eva an.« Wir gingen raus, rauchten zwei Zigaretten, und als wir wiederkamen, war der tatsächlich erst bei Batista! Und ich machte auf der Bühne dann den Witz: »Das ist die alte Fidel-Schule, keine Rede unter sechs Stunden.«
Die Kubaner sprechen regelmäßig auf der RLK, und immer ließ ich Grüße an Fidel ausrichten. Da war ich sehr stolz, das tun zu können. Das Schöne an der Konferenz ist ja: Das sind Linke, die verstehen das, was ich sagen will. Das war sonst oft ein Problem: für meine Schüler, als ich noch Lehrer war, für die Taz-Redakteure, als ich Fernsehkritiken schrieb, und für meine Frühschoppen-Kollegen, die nur Spaß machen wollten.
Und Sie sind sogar so politisch, dass Sie auch aus politischen Gruppen rausgeflogen sind, oder?
Ich bin aus der IG Druck rausgeflogen, weil ich in Lübeck am 1. Mai eine Rede für den KB gegen den DGB gehalten habe. Wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der Gewerkschaft mit den Maoisten. Später bin ich in Westberlin aus der GEW rausgeflogen, mit dem ganzen Landesverband, weil man sich genau gegen diese Unvereinbarkeitsbeschlüsse wandte. Aus dem KB bin ich dann aber auch zweimal rausgeflogen: einmal, weil ich es mehrmals versäumte bei einem Werftarbeiterstreik ganz früh morgens Flugblätter zu verteilen – da kam ich einfach nicht aus dem Bett raus. Und später noch einmal, weil ich gegen eine andere maoistische Gruppe, die KPD/AO kämpfen wollte, als die die Sowjetunion zum Hauptfeind erklärt hatten, also auf CDU-Linie eingeschwenkt waren. Dagegen wollte ich eine Aktionseinheit gründen, was mir vom KB als »Provokation« ausgelegt wurde. Es wurden Stellungnahmen eingeholt, alle durften was sagen, und als ich dran war, hieß es: »So, danke, wir haben alles vernommen«. Es gab dann ein Umgangsverbot – meine damalige Freundin musste sich von mir trennen. Wir haben uns natürlich heimlich weiter getroffen. Aus dem KB ist nichts geworden, kein Wunder, wenn man so miteinander umgeht. Das war noch nicht mal richtig stalinistisch, nur blöd.
Oft waren die K-Gruppen, die kommunistischen Kleinparteien der 70er, so streng wie kurios.
Ich kann da nur mit Mao sagen: Ohne die Massen sind wir bis zur Schonungslosigkeit lächerlich. Na gut, die Massen feiern eben Weihnachten.